Die praktische Geltung der Menschenrechte

11.01.2017 opener

Dies ist ein Aufsatz des "Leiters der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte" (erschienen in: DRiZ, 10/16, Seite 342 ff., in Sozialrecht-heute veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Einführung

Der politische Handlungsbedarf zur Umsetzung der UN-BRK ist groß. Die Bundesregierung hat dies erkannt und mit einem weiterentwickelten Aktionsprogramm (NAP 2.0) reagiert. Doch jenseits von Politik durch Regierung und Gesetzgebung kommt auch den Gerichten beim Prozess der Umsetzung der UN-BRK eine hohe Verant­wortung zu. Praktisch werden die Gerichte mit dem Thema Behinderung auf unterschiedlichste Weise konfrontiert.

Wenn Menschen mit körperlichen, sensorischen-intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen klagen, geht es insbesondere um den gleichberechtigten Zugang zu Einrichtungen und Diensten des Justizwesens, auch um barrierefreien Zugang zu Information und bedarfsgerechte Kommunikation und im verfahrensrechtlichen Sinne damit um Fairness und effektiven Rechtsschutz. Diese allgemeinen Fragen im Globalbereich des „Zugangs zur Justiz" sollen hier aber nicht vertieft werden. Gegenstand dieser Darstellung ist vielmehr der Umgang der Gerichte mit der UN-BRK als Rechtsquelle.

Die UN-Behindertenrechtskonvention im Überblick

Die UN-BRK ist ein völkerrechtliches Übereinkommen, das in Deutschland uneingeschränkte Geltung genießt. Ihren Vertragstext kennzeichnet eine überaus komplexe Normstruktur. Vergleichbar einer Verfassung enthält sie ganz unterschiedliche Normkategorien. Die UN-BRK beinhaltet verbindliche Prinzipien, diverse allgemeine und spezifische staatliche Verpflichtungen oder auch „nur" Programmsätze. Die echten Staatenpflichten teilen sich auf in jene, die lediglich objektiv-rechtlichen Charakter haben und solche Verpflichtungen, die mit individuellen Rechten der UN-BRK korrespondieren; im letzteren Fall unterscheiden sie dogmatisch nach ihrer Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungsfunktion.

Dazu kommt die ganze inhaltliche Seite der Konvention - ihre materiell-rechtliche Dimension. So ist etwa noch lange nicht durchdekliniert, welche rechtlichen und praktischen Konsequenzen sich aus dem Verständnis von „Behinderung" ergeben. Danach entstehen „Behinderungen" aus der Wechselwirkung zwischen einer längerfristigen Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Faktoren („Ich bin nicht behindert, sondern ich werde behindert“). Diese „Behinderungen" sind, wenn sie vergleichsweise stärker als bei Menschen ohne Beeinträchtigungen auftreten, nach der UN-BRK zu überwinden. Zwar bietet die UN-BRK auch Anlass für sozialpolitische Projektionen. Rechtlich jedoch verpflichtet sie die Vertragsstaaten gleichzeitig zu zahlreichen justiziablen Inhalten. Da die UN-BRK ein sogenanntes lebendiges Instrument ist, wird es immerzu weitere Konkretisierungen geben, die in Zukunft neue Akzente für die deutsche Rechtsordnung zu setzen vermögen.

Diskussion über Bedeutung und Tragweite im Einzelfall

Dem “Gesetz und Recht“ verpflichtet, sind Gerichte verfassungsrechtlich auch an die UN-BRK gebunden. So verlangt das Bundesverfassungsgericht bereits in ständiger Rechtsprechung, dass Behörden und Gerichte das für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich gewordene Vertragsvölkerrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zur Anwendung bringen. Diesen „Rechtsanwendungsbefehl“, der zunächst in Bezug auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) herausgestellt wurde, hat das Gericht nunmehr auch auf UN-Übereinkommen wie die UN-BRK erstreckt.

Abstrakt klingt dieses Gebot ebenso banal wie simpel. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Deshalb diskutieren aktuell Wissenschaft und Richterschaft über das Potenzial der UN-BRK für die gerichtliche Praxis. Wie lassen sich deren Bedeutung und Tragweite am Einzelfall präzise und sachgerecht ermitteln und in den Gründen darstellen? Wo liegen die rechtlichen und praktischen Grenzen ihrer Wirksamkeit?

Der scheidende Präsident des Bundessozialgerichts Peter Masuch hat sich früh nach dem Inkrafttreten der UN-BRK 2009 für ihre praktische Anwendung ausgesprochen. Im Laufe der letzten Jahre haben sich weitere Expertinnen und Experten zu Wort gemeldet. Zu dieser laufenden Diskussion haben im letzten Jahr diverse Fachveranstaltungen beigetragen. Auch einige Fachbeiträge in Zeitschriften haben untersucht, wann und wie die UN-BRK herangezogen wird beziehungsweise wie sie hätte geprüft werden müssen. Befördert wird diese Auseinandersetzung nicht zuletzt durch die Rückmeldung vonseiten der Vereinten Nationen. Diese hatten im Rahmen der Staatenprüfung Deutschlands im März 2015 zahlreiche kritische Punkte zum Umsetzungsstand genannt. Sie haben ihre Sorge hinsichtlich der gerichtlichen Durchsetzbarkeit im weiteren Sinne zum Ausdruck gebracht.

Varianten des gerichtlichen Umgangs: Versuch einer Fallgruppen-Systematik

Theoretisch wie praktisch finden Gerichte, soweit sie die Anwendung der UN-BRK prüfen (im Sinne eines Rechtsbeachtungsbefehls) zu folgenden Praktiken:

(1) Die UN-BRK wird nach einer hinreichenden Prüfung richtigerweise als irrelevant eingeschätzt und nicht weiter vertieft - das wird bei den allermeisten deutschen gerichtlichen Verfahren der Fall sein.

(2) Zwar weist der Sachverhalt einen inhaltlichen Bezug zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf, die Entscheidung jedoch kann angemessenerweise ganz ohne weitere inhaltliche Befassung mit der UN-BRK getroffen und hinreichend begründet werden - das wird bei den allermeisten Entscheidungen mit inhaltlichem Bezug zum Thema Behinderung zutreffen - diese sind hier auch nicht weiter interessant.

(3) Der Sachverhalt weist zwar einen inhaltlichen Bezug zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf; das Gericht bezieht zwar auch die UN-BRK in die Rechts- und Entscheidungsfindung ein, jedoch zitiert das Gericht das Übereinkommen überhaupt nicht in seinen schriftlichen Ausführungen - wie häufig diese Fallgruppe gegeben ist, ist schwerlich einzuschätzen; man darf aber davon ausgehen, dass sie vorkommt; ob diese Entscheidungen in diesem Zusammenhang interessieren, entscheidet sich nach der Qualität der Prüfung.

(4) Die letzte Fallgruppe, bei der das Gericht die UN-BRK in die Rechts- und Entscheidungsfindung einbezieht und diese außerdem in seinen Ausführungen ausdrücklich aufgreift, zergliedert sich wiederum in vier Untergruppen:

(a) Die UN-BRK wird inhaltlich falsch interpretiert;

(b) die UN-BRK wird richtig interpretiert, macht im Ergebnis aber keinen Unterschied im Vergleich zu einer Entscheidung nach Gesetzeslage; gegebenenfalls kann die UN-BRK allerdings die Begründung zusätzlich stützen und damit die Legitimation der ablehnenden oder stattgeben­ den Entscheidung erhöhen;

(c) die UN-BRK wird richtig interpretiert und macht auch im Ergebnis einen Unterschied; sie gibt sozusagen „den Ausschlag“, etwa weil die Auslegungsspielräume der gesetzlichen Vorschriften im Lichte der Verpflichtungen aus der UN-BRK beurteilt, nunmehr enger oder nur auf eine bestimmte Weise verstanden werden und so die Entscheidung nur in eine Richtung ausfallen darf (der spezifische Fall der menschenrechtskonformen Auslegung); oder

(d) das Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit der gesetzlichen Entscheidungsgrundlage mit der im Lichte der UN-BRK gesehenen Verfassung und legt diese Regelung zur Prüfung dem Bundesverfassungsgericht vor (Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG).

Die Fallgruppe (3) ist für die Umsetzung der UN-BRK unter Umständen interessant, die Fall­ gruppen (4a) bis (4d) sind die hochinteressanten Konstellationen. Auf sie sollten sich Analyse, Fachdiskussion und gerichtliche Praxis konzentrieren.

Stand der Rezeption der UN-BRK durch die deutsche Gerichtsbarkeit (2014)

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit Stichtag Dezember 2014 eine Untersuchung vornehmen lassen. Seinerzeit wurden 227 Entscheidungen ermittelt und einer eher formal gehaltenen Auswertung unterzogen. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wurde veröffentlicht. Danach waren alle Gerichtsbarkeiten auf allen Ebenen mit der UN-BRK in Berührung gekommen. Die Sachverhalte betrafen ein denkbar weites Spektrum von Rechtsgebieten.

Fast die Hälfte der Entscheidungen entstammte der Sozialgerichtsbarkeit. In Fallzahlen folgt die Verwaltungsgerichtsbarkeit, doch auch Arbeitsgerichte, ordentliche Gerichte und Finanzgerichte haben die Befassung mit der UN-BRK dokumentiert. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, hatte mehrfach Gelegenheit, sich mit der UN-BRK auseinanderzusetzen. Laut DIMR-Untersuchung haben 20 Prozent der Gerichte die UN-BRK ausschließlich im Tatbestand aufgeführt, ohne dass sich ein weiterer Hinweis in den Entscheidungsgründen findet.

Die Hälfte aller Entscheidungen weist einen pauschalen Bezug in den Entscheidungsgründen auf. Lediglich knapp 20 Prozent der Gerichte haben verschiedene Anwendungsvarianten geprüft, wobei sie in den weit überwiegenden Fällen ausschließlich die besondere Kategorie einer unmittelbaren Anwendbarkeit" im Blick hatten. Und in lediglich neun Prozent der Entscheidungen haben Gerichte zwischen verschiedenen Anwendungsvarianten differenziert.

Mit diesen Zahlen ist über die Qualität der Rezeption der UN-BRK durch die Gerichte allerdings noch wenig gesagt. Auffällig aber war 2014 die hohe Zahl derer, die die UN-BRK betreffenden Abhandlungen sehr formal gehalten haben. Dabei wurden oft auch unnötig hohe formale Hürden für deren Anwendbarkeit gesteckt. Eine inhaltliche Befassung - geschlossen aus der Darstellung in der Entscheidung - kam (oft viel) zu kurz. Abschließend sei vermerkt, dass nach dem aktuellen Stand durchschnittlich über die bekannte online-Datenbank „Juris“ jährlich rund 50 Entscheidungen, die sich alle auf die eine oder andere Weise ausdrücklich auf die UN-BRK beziehen, veröffentlicht werden. Es kann also von ca. 300 dokumentierten Entscheidungen insgesamt mit BRK-Bezug ausgegangen werden. Neben der nicht mehr ganz aktuellen, aber alle Gerichtsbarkeiten einbeziehenden Bestandsaufnahme des Deutschen Instituts für Menschen­ rechte liegen von anderen Autoren spartenbezogene Analysen vor.

Konkreter Nutzen kaum erkennbar?

Für die Sozialgerichtsbarkeit etwa wurde eher ernüchternd aufgezeigt, dass kaum ein konkreter Nutzen der UN-BRK erkennbar sei: Soweit sich die Gerichte positiv auf die UN­ BRK bezögen, so folgert die Darstellung, hätten alle Entscheidungen auch ohne Bezug auf die UN-BRK grundsätzlich zum selben Ergebnis führen können. Mit anderen Worten: Die Gerichte brauchten die UN-BRK gar nicht. Sie verwendeten sie bestenfalls als „Einfärbung". Andere dagegen, die ebenfalls die sozialgerichtlichen Entscheidungen in den Blick genommen haben, kommen zu einem Ergebnis, das differenzierter ausfällt: Sie sehen in einzelnen Fällen bereits durchaus einen Gewinn nachgewiesen und unterstreichen auch ein Potenzial für die zukünftige Praxis.

Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die sich im Wesentlichen mit Rechtsfragen aus dem Bereich Bildung befasste, liegen ebenfalls Untersuchungen vor. In Bezug auf die inklusive Bildung stellt sich die Jurisprudenz aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen wenig aussichtsreich dar. Dies hängt auch mit der landesrechtlich extrem defizitären Rechtslage im Bereich Schule und der dysfunktionalen gesetzlichen Schnittstelle zum Sozialrecht zusammen. Außerdem hält sich die nicht unproblematische Vorstellung gerade bei dieser Sparte der Gerichtsbarkeit besonders hartnäckig, die Anwendung der UN-BRK setze ihre unmittelbare Anwendbarkeit oder in den Bereichen der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder eine gesetzliche Transformation in Landesrecht voraus. Diese streitbehafteten Prämissen wirken sich negativ auf das Ergebnis aus.

Zugkraft und zwingende Impulse: Drei interessante Entscheidungen

Beispiele aus der höchstgerichtlichen Praxis dagegen belegen die praktische Bedeutung der UN-BRK. Die folgenden drei Entscheidungen demonstrieren die Zugkraft und welche zwingenden Impulse sie für die Rechts- und Entscheidungsfindung mitunter erzeugen kann.

2013 hatte das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 19.12.2013 – 6 AZRV190/12) über die Zulässigkeit der Kündigung einer symptomlos an HIV erkrankten Person zu entscheiden. Das Bundesarbeitsgericht stellte anders als die Vorinstanzen auf das Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-BRK (vgl. Art. 1 UN-BRK) ab (siehe oben). Damit entwickelte es ein konventionskonformes Verständnis von Behinderung für den Diskriminierungsschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Seitdem müssen nunmehr auch Menschen mit chronischen Erkrankungen unter das Verbotsmerkmal „Behinderung" gefasst werden und sind damit in den Schutzbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes einbezogen.

Eine Entscheidung von rechtlicher wie finanzieller Tragweite traf das Bundessozialgericht (Urteil vom 23.07.2014 – B 8 SO 14/13 R). Das Gericht urteilte im Jahre 2014 zur Regelbedarfseinstufung von erwachsenen behinderten Menschen, wenn sie in einer Haushaltsgemeinschaft mit anderen leben, ohne Partner zu sein. Bei der Entscheidung spielte die menschenrechtskonforme Auslegung des Begriffs der eigenen Haushaltsführung eine bedeutsame Rolle. So entschied das Bundessozialgericht, um eine Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu vermeiden, dass der höherfinanzierten Stufe 1 gegenüber der Stufe 3 in der praktischen Anwendung der Vorzug eingeräumt werden müsse. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat es das geltende Sozialrecht konventionskonform ausgelegt und die Anforderungen an eine erforderliche Eigenständigkeit der Haushaltsführung niedriger angesetzt.

Grundsätzliche Tragweite kam einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 zu (Beschluss vom 23.03.2011 – 2 BvR 882/09, Randnr. 52). Mit ihr hob das Gericht eine rheinland-pfälzische Bestimmung im Bereich des Maßregelvollzugrechts auf. In der Begründung spielte die UN-BRK eine wichtige Rolle. Das Gericht befasste sich mit Art. 12 UN-BRK über die rechtliche Handlungsfähigkeit. Überdies führte das Gericht den bis heute viel zitierten allgemeinen Passus aus, dass die UN-BRK als „Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte" herangezogen werden kann.

Diese Bedeutung der UN-BRK für die Auslegung der Verfassung gilt unter Umständen auch für die derzeit am Bundesverfassungsgericht anhängige Wahlprüfbeschwerde von acht deutschen Erwachsenen. Diese fechten an, dass sie gesetzlich wegen ihrer Behinderung von der Bundestagswahl 2013 ausgeschlossen waren. Aus der Sicht der UN-BRK ist spannend, inwieweit das Gericht die verfassungsrechtliche Einschränkbarkeit des Rechts auf aktives Wahlrecht (Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 GG) im Lichte der UN-BRK neu bewertet.

Was heißt hier „Anwendung von Völkerrecht"?

Zu unterscheiden ist die Anwendung von Völkerrecht durch staatliche Stellen im weiteren Sinne und die „unmittelbare Anwendung“; letztere ist ein rechtlicher Sonderfall. Rechtlich und praktisch näherliegend ist die Anwendung im erstgenannten Sinne, bei der die UN-BRK als Rechts- und Erkenntnisquelle herangezogen wird (sie wird missverständlicherweise auch als „mittelbare Anwendung“ bezeichnet). Die streitentscheidende Norm ist in diesem Fall das geltende Bundes- oder Landesrecht beziehungsweise Verordnungsrecht. Die UN-BRK als Völkerrecht dient „nur" als Auslegungsmaßstab.

Um ihre Bedeutung und Tragweite dann ermessen zu können, muss die UN-BRK ihrerseits ausgelegt werden. Das erfolgt nach völkerrechtlichen Methoden. Wenn es darauf ankommt, gelten die amtlichen Sprachfassungen (Englisch, Französisch ...) - also nicht die deutsche. Diese Anwendungsform ist in der Praxis insbesondere relevant, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe aus­ gelegt oder Ermessensentscheidungen getroffen oder überprüft werden. Wenn nur durch eine menschenrechtskonforme Anwendung" ein konventionskonformes Ergebnis erreicht werden kann, dann ist dies rechtsstaatlich geboten.

Bei der zweiten Form der Anwendung ist die völkerrechtliche Norm selbst Grundlage der Entscheidung. Die unmittelbare Anwendung setzt voraus, dass die Norm geeignet und hinreichend bestimmt ist (“self-executing norm“) Die Norm taugt, mit anderen Worten, für die Verteilung von Rechten und Pflichten im konkreten Einzelfall. Dieser besondere Grad der Rechtsqualität darf der UN-BRK, deren Wortlaut in manchen Punkten offener und in anderen weniger offen formuliert ist und durch die systematische Auslegung einen justiziablen Konkretisierungsgrad erreichen kann, weder pauschal abgesprochen noch kann pauschal von ihr ausgegangen wer­ den. Ob diese besondere Rechtsqualität vorliegt, kann vielmehr nur im Wege der Auslegung vor einem konkreten Lebenssachverhalt ermittelt werden. Grundsätzlich allerdings ist anerkannt, dass das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) unmittelbar anwendbar ist.

Aufgrund der hohen Regelungsdichte des deutschen Gesetzesrechts beschränkt sich die praktische Relevanz der unmittelbaren Anwendung von Völkerrecht eher auf revisionsrechtliche Überprüfung. Berühmt geworden ist die Cialis­Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 2012 insoweit auch deshalb, weil das Gericht das Diskriminierungsverbot der UN­-BRK als unmittelbar anwendbar herausgestellt hat. Zwar blieb es ohne positives Ergebnis für den Revisionsführer, die Entscheidung wird jedoch von den Gerichten viel zitiert.

Die Relevanz der unmittelbar anwendbaren Normen kommt überdies dann zum Tragen, wenn echte unauflösbare Normkonflikte zwischen dem Gesetzesrecht und der UN-BRK identifiziert werden. Dieser Konfliktlage geht denknotwendig der praktische Schritt voraus, dass zunächst die menschenrechtskonforme Auslegung - die oben zunächst dargestellte Anwendungsvariante - geprüft und verworfen werden müsste.

Fazit: Die Rechtsqualität der Konvention wird unterschätzt

Zwischen 2009 und 2016 sind ca. 300 gerichtliche Entscheidungen dokumentiert, welche die UN-BRK ausdrücklich aufgreifen. Im Vergleich zu anderen menschenrechtlichen Übereinkommen ist das eine hohe Fallzahl. Aus der Perspektive der prozessführenden Menschen konnte die gerichtliche Praxis bislang bei Weitem nicht alle in die UN-BRK gelegten Hoffnungen und auf sie gerichteten Erwartungen erfüllen. Ihr die Funktion einer Wundertüte zuzusprechen oder sie mit einem Leistungsgesetz zu verwechseln, führt in die Irre.

Nichtsdestotrotz wird die Diskussion über ihre Wirkung sowie über Bedeutung und Tragweite der UN-BRK in Wissenschaft und Richterschaft zu Recht geführt - und muss noch viel intensiver ausfallen. Es gibt gute Beispiele gerichtlicher Praxis, die aufzeigen, welche wichtige Orientierung die UN-BRK für die Rechts- und Entscheidungsfindung hat. Gleichzeitig wertet die Auseinandersetzung mit ihr in den Gründen die Entscheidung auf.

Die gesichteten Entscheidungen nähren die Vermutung, dass das Potenzial für die gerichtliche Praxis, die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch durch Gerichte besser zu gewähr­ leisten, bei Weitem nicht ausgeschöpft ist. Bisweilen wird die inhaltliche Dimension und damit verbunden die Rechtsqualität der UN-BRK stark unterschätzt. Das Potenzial sollte deshalb vor allem in der Vertiefung dieser inhaltlichen Komponente der UN-BRK gesucht werden. Das zeigt den Weg auf, die Konvention in ihrer komplexen Struktur besser zu verstehen und tiefer zu durchdringen.

Ausblick: Neugier und Problembewusstsein sind geweckt

Die Masse an Rechtsschutzgesuchen von betroffenen Menschen und das beinahe jeden Lebensbereich aktuell durchschneidende Thema Behinderung bieten dem richterlichen Alltag fast unerschöpflich viel Stoff. Außerdem ist es gleichzeitig erforderlich, mit der fortlaufenden völkerrechtlichen Dynamik zu gehen, die der UN-BRK als lebendes völkerrechtliches Instrument zukommt.

Die Reichweite der staatlichen Verpflichtungen kann teilweise im Zuge der Auslegung, gerade unter Einbeziehung der bislang wenig beachteten völkerrechtlichen Quellen (wie General Comments), inhaltlich weitaus präziser und sachgerechter erschlossen werden. Diese Übung ist Teil der Rechtsfindung und damit eine bleibende Aufgabe. Zu deren Erfüllung bedarf es immer wieder, etwaige Hemmungen gegenüber dem Völkerrecht zu überwinden. Hier hilft bereits die Bereitschaft, aus Routinen der Spruchpraxis herauszutreten.

Gerade auch eine Haltung scheint weiterführend zu sein, die nicht davon absieht, die Schnittstelle zur legislativen Gewalt aktiv durch Richtervorlagen zu gestalten. Denn nicht wenige Probleme der Enttäuschungen der Klägerschaft gehen auf eine defizitäre Gesetzeslage zurück, die im Rahmen einer methodisch vertretbaren Auslegung und Anwendung des Rechts in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis mit der UN-BRK steht.

Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass eine zunehmende Bereitschaft in der Richterschaft erkennbar wird, sich intensiver mit der UN-BRK zu befassen. Die Neugier ist mehr als geweckt und das Problembewusstsein für die sachlichen Notwendigkeiten treibt an. Das ist gut so. Denn nichtsdestotrotz gibt es viel Anlass, sich in Zukunft der Materie UN-BRK inhaltlich vertiefter und rechtstechnisch versierter zu widmen.

Zu begrüßen ist deshalb, dass die Bundesregierung in Gestalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, teilweise im Zusammenwirken und mit Unterstützung durch die Länder, Fortbildungsangebote für die Richterschaft fördern möchte und deshalb in den eingangs zu diesem knappen Beitrag erwähnten NAP 2.0 auch zwei Maßnahmen, die der Richterfortbildung dienen sollen, aufgenommen hat.

Autor: Dr. Valentin Aichele, LL.M. (Universität Adelaide)

Anlass: BTHG, UN-BRK

Die Probleme gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Alltag sind bisweilen gravierend. Einige von ihnen versuchen, sich zu wehren und ihre Anliegen gerichtlich durchzusetzen. Seit ihrem Inkrafttreten 2009 beziehen sie sich dabei auch verstärkt auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Dieser Beitrag verschafft einen Überblick über den Stand der gerichtlichen Praxis.

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Schlagwörter: UN-Behindertenrechtskonvention , UN-Völkervertragsrecht und die deutsche Gerichtspraxis, Aktionsprogramm der Bundesregierung NAP 2.0, Auslegungshilfe, Auslegungsmaßstab