6. DSGT: Schwerpunkte der SGB IX/SER/SB Kommissionsarbeit

20.01.2017 opener

Was bedeutet "Teilhabe"?

Das einleitende Referat von Frau Dr. Helga Seel, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, setzte sich mit dem Begriff der Teilhabe auseinander. Durch das SGB IX sei der Schritt von der Fürsorge zur gleichberechtigten Teilhabe eingeleitet worden, der durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und den nationalen Aktionsplan 2.0 von 2016 gestärkt worden sei. Inklusion bedeute, dass in der Gesellschaft alle ihren Platz hätten und ein gegenseitiges Verständnis gelebt werde. Teilhabe und Fürsorge seien jedoch keine Gegensätze. Die Akteure müssten zur Verwirklichung der Teilhabe gestalten anstatt verwalten. Hierzu brauchten sie allerdings das notwendige Rüstzeug und die Rückendeckung ihrer Vorgesetzten. Abschließend betonte Dr. Seel, der Teilhabeanspruch sei ein ganzheitlicher.

Historsicher Überblick zum Umgang mit Menschen mit Behinderung

Einen historischen Überblick zum Umgang mit Menschen mit Behinderung gab Frau Dr. Reinelt, Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, in ihrem Referat. Zwar könne man bereits Jesus als Begründer des inklusiven Gedankens sehen, doch habe der Prozess der Teilhabe erst 1993 auf der Generalversammlung der UNO begonnen. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe es eine staatliche Fürsorge nur für Kriegsinvaliden gegeben. In diesem Zusammenhang seien 1916 die ersten Anhaltspunkte für die militärdienstliche Beurteilung der häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen ergangen. 1920 folgten Anhaltspunkte mit einem Umfang von 33 Seiten, die weitere Bevölkerungsgruppen mit einbezogen.

Im Laufe der Zeit seien die Anhaltspunkte immer umfassender geworden, bis sie 1996 einen Umfang von 353 Seiten hatten. Zum 1.1.2009 seien dann die Anhaltspunkte durch die VersMedVO abgelöst worden. In Bezug auf die erfassten Erkrankungen sei insbesondere die Anerkennung von psychischen Störungen in der Versorgungsmedizin nur ganz langsam vorangekommen. Trotz der Wurzeln der Anhaltspunkte in der Beurteilung psychischer Erkrankungen im Militärdienst sei die posttraumatische Belastungsstörung erst 1997 vom Sachverständigenrat in der Versorgungsmedizin anerkannt worden.

Der Teilhabebegriff der UN-BRK

Im Anschluss hieran stellte Claudia Tietz, stellvertr. Abteilungsleiterin beim Sozialverband Deutschland, den umfassenden Teilhabebegriff der UN-BRK dar. Das deutsche Schwerbehindertenrecht sei zwar aus einer entschädigungsorientierten Rechtstradition entstanden, gleichwohl sei es modern. Es enthalte heute schon viele Instrumente, die dem dreistufigen Ansatz der UN-BRK zugeordnet werden könnten. Die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) bedinge eine Vielzahl von Nachteilsausgleichen und sei damit vorrangig dem UN-BRK-Handlungsansatz „Positive Maßnahme“ zuzuordnen. Auch wenn im SGB IX-neu ein moderner Behinderungsbegriff gemäß der UN-BRK normiert werde, könnten die Dimensionen der Teilhabe bzw. der Teilhabeeinschränkung in verschiedenen rechtlichen Kontexten gleichwohl unterschiedlich ausgestaltet bzw. bemessen werden.

Deshalb plädiere der SoVD im Bereich des statusrechtlichen Feststellungsverfahrens nach § 69 SGB IX i.V.m. der VersMedVO für eine differenzierende Position hinsichtlich einer verstärkten Implementierung des biopsychosozialen Modells von Behinderung nach der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).

Die VersMedVO

Diesbezüglich wies der Abteilungsleiter im Zentrum Bayern Familie und Soziales Walter Oertl darauf hin, dass die VersMedVO bereits teilhabeorientiert sei und auch die ICF Berücksichtigung finde. Seit 2010 seien fünf Änderungsanordnungen ergangen. Einzelne Funktionsbereiche seien verändert worden, wodurch eine schrittweise Hinwendung zur Teilhabebeeinträchtigung erfolgt sei. Die VersMedVO verändere sich im Übrigen auch durch verbesserte Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten und eine bessere prothetische Versorgung. Gleichzeitig unterlägen die standardisierten Umweltbedingungen rasanten Veränderungen. Durch die Digitalisierung der Arbeitswelt und weiterer Lebensbereiche werde die Teilhabe positiv beeinflusst. Andererseits verstärkten sich die psychischen Erkrankungen. Es sei damit zu rechnen, dass die GdB-Bewertungen in der VersMedVO nur für begrenzte Zeiten Geltung hätten.

Dies bedeutet, dass der Informations- und Beratungsbedarf der Bürger steigen werde. Die Nachprüfungen durch die Verwaltung würden zunehmen, und es sei an eine Befristung der Feststellungsbescheide zu denken. All dies werde zu einem Mehraufwand bei der Verwaltung führen.

Lebhafte Disskussion

Die Diskussion befasste sich zunächst mit den Unterschieden in der Bewertung von Gesundheitsbeeinträchtigungen im Sozialen Entschädigungsrecht und im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Diese würden besonders bei der Endo-Prothesenversorgung deutlich, und es stehe zu befürchten, dass es durch das BTHG zu einem weiteren Auseinanderdriften komme. Auch die Versorgungsärzte beobachteten diese Entwicklung kritisch. Sowohl für die Betroffenen als auch für die Gutachter sei die unterschiedliche Bewertung häufig nicht nachvollziehbar. Die Unterschiede beider Systeme reichten zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Bewertungspraxis nicht aus, wenn sie auch durch die Rechtsprechung weiter bestätigt werde. Zur Vertiefung des Themas werde eine gemeinsame Sitzung mit der Kommission Unfallversicherung angestrebt.

Sodann wurde erörtert, ob angesichts der durch das BTHG zu erwartenden Änderungen bei der GdB-Bewertung ein Feststellungsverfahren noch erforderlich sei. Für eine Beibehaltung spreche, dass es für Menschen mit Behinderung kein Nachteil sei. Vielmehr verschaffe es Zugang zu weiteren Leistungen. Die Alternative sei, dass in den Bereichen, an denen an die Feststellung Nachteilsausgleiche gebunden seien, jeweils der individuelle Bedarf festgestellt werden müsse. Die zu gewährenden Leistungen könnten dann an die monetären Interessen der einzelnen Bereiche angepasst werden. Der SoVD, aber auch alle Teilnehmer sprachen sich für eine Beibehaltung des Feststellungsverfahrens aus.

Allerdings wurden auch Befürchtungen geäußert, dass sich das Verfahren durch die anstehenden Änderungen verschlechtern werde. Es werde sehr viel mehr Aufwand erforderlich sein, ohne dass sich dies für die Betroffenen positiv auswirke. Die Entscheidung nach Aktenlage werde für den Bürger noch komplizierter. Es sei zu befürchten, dass bei der Ärzteschaft die ICF nicht ausreichend bekannt sei, den Aussagen des behandelnden Arztes aber vermehrte Bedeutung zukomme. Die Bayerische Praxis, dass die medizinischen Unterlagen dem Amt vom Antragsteller vorgelegt werden, traf auch auf Kritik. In diesem Zusammenhang wurden auch die praktischen Probleme bei der Beiziehung von Befundberichten erörtert. Zugleich wurden Befürchtungen laut, dass die Behörden durch die Neugestaltung des Verfahrens überfordert werden könnten, da in manchen Ländern bereits jetzt personelle Engpässe bestünden.

Anstehende 6. ÄndAO zur VersMedVO

Seitens des BMAS wurde angekündigt, dass voraussichtlich Ende diesen Jahres die 6. ÄndAO zur VersMedVO erlassen werde. Schon jetzt würden Gesundheitsbeeinträchtigungen „teilhaberechtlich“ bewertet. Eine Gesamtüberarbeitung der versorgungsmedizinischen Grundsätze werde die ICF und die Teilhabe einbeziehen. Standardisierte Umweltfaktoren würden berücksichtigt werden, personenbezogene Kontextfaktoren seien bei den Auswirkungen der Gesundheitsstörungen schon immer berücksichtigt worden.

Seitens der anwesenden Versorgungsmediziner wurden Befürchtungen geäußert, dass die Befundberichte nicht die zur Beurteilung nach diesen Vorgaben erforderlichen Angaben enthalten könnten. Die Ungleichheit bei den Feststellungsverfahren nach ärztlicher Untersuchung und nach Aktenlage könnten hierdurch verstärkt werden. Von einem Teil der Teilnehmer wurde angeregt, das dreistufige Feststellungsverfahren, wie es in der DDR praktiziert wurde, zu übernehmen. Dies könnte zu einer Abnahme der Verfahren führen. Aus Sicht der Verwaltung wurde dies als nicht umsetzbar abgelehnt. Das Zehnersystem sei zwar ein Hilfskonstrukt, jedoch wurde dessen Beibehaltung im Ergebnis mehrheitlich befürwortet.

Autor: Bericht der Kommissionsvorsitzenden DiSG a.D. Renate Holst

Anlass: 6. Bundestagung des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.

Die Referate setzten sich zunächst eingehend mit dem Begriff der Teilhabe auseinander, gefolgt von einem historischen Überblick zum Umgang mit Menschen mit Behinderung. Der umfassende Teilhabebegriff der UN-BRK wurde dargestellt. Lebhaft diskutiert wurden die Unterschiede in der Bewertung von Gesundheitsbeeinträchtigungen im Sozialen Entschädigungsrecht und im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Trotz der durch das BTHG zu erwartenden Änderungen bei der GdB-Bewertung soll ein Feststellungsverfahren beibehalten werden.

Rubrik:

Schlagwörter: VersorgungsmedizinVO (Vers.MedVO), Teilhabegriff der UN-BRK, GdB-Feststellungsverfahren, 6. ÄndAO zur Vers.MedVO