Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung

17.08.2018 opener

Mit dem vorgelegten Referentenentwurf sollen im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbarte gesetzliche Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) umgesetzt werden. Er enthält im Wesentlichen folgende Punkte:

„Doppelte Haltelinien“ in der GRV

Das Sicherungsniveau wird bis zum Jahr 2025 bei 48 Prozent gehalten. Hierfür wird die Rentenanpassungsformel so ergänzt (sog Niveausicherungsklausel), dass bis zum Jahr 2025 mindestens ein Niveau von 48 Prozent erreicht wird (Haltelinie l). Der Beitragssatz zur GRV wird die Marke von 20 Prozent bis zum Jahr 2025 nicht überschreiten (Haltelinie II), wobei bei Bedarf Bundesmittel einzusetzen sind.

Verbesserung bei Erwerbsminderungs(EM)renten

Die Zurechnungszeit wird für Rentenzugänge im Jahr 2019 in einem Schritt auf 65 Jahre und 8 Monate angehoben. Anschließend wird sie in Anlehnung an die Anhebung der Regelaltersgrenze weiter auf 67 Jahre verlängert.

Erweiterung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder

Für Mütter bzw. Väter wird die Kindererziehungszeit für vor 1992 geborene Kinder um ein weiteres Jahr verlängert, wenn sie mindestens drei Kinder erzogen haben. Damit werden diesen Personen für die Erziehung ihrer Kinder künftig insgesamt drei Jahre pro Kind angerechnet („Mütterrente II“)

Entlastung von Geringverdienern

Die Gleitzone (neu: Einstiegsbereich) wird auf Arbeitsentgelte von 450,01 Euro bis 1.300 Euro (bisher: 850 Euro) ausgeweitet. Beschäftigte werden im Einstiegsbereich stärker bzw. erstmalig bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet. Zudem führen hier die verringerten Rentenbeiträge nicht mehr zu geringeren Rentenansprüchen.

Finanzierung der Maßnahmen

Die Beitragssatzobergrenze wird durch eine Beitragssatzgarantie abgesichert, nach der bei Bedarf weitere Bundesmittel für die Rentenversicherung bereitzustellen sind. Hierfür wird im Bundeshaushalt Vorsorge getroffen. Zusätzlich wird der Bundeszuschuss an die allgemeine Rentenversicherung in den Jahren 2022 bis 2025 um 500 Mio. € jährlich angehoben. Die Beitragssatzgarantie gilt uneingeschränkt, so dass auch bei unvorhersehbaren Entwicklungen die Beitragssatzobergrenze eingehalten wird.

Stellungnahme des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT):

„Haltelinien“ als Reaktion der Regierung

Mit den „Haltelinien“ reagiert die Koalition, allerdings beschränkt auf einen Zeithorizont bis 2025, auf die prognostisch alarmierenden Aussagen des jüngsten Rentenversicherungsberichts 2017 zur Entwicklung des Eckrentenniveaus.

Das Sicherungsniveau vor Steuern, das die Relation von Renten zu Löhnen zum Ausdruck bringt, beträgt derzeit 48,2 % und würde bei unveränderter Rechtslage nach dem Jahr 2024 unter 48 % bis auf rund 45 % im Jahr 2030 und 44,6 % im Jahr 2031 sinken. Die Beitragssatzentwicklung wurde im Bericht bis 2022 als stabil beschrieben; anschließend steigt der Beitragssatz wieder schrittweise an bis auf 21,9 % im Jahr 2031 (vgl. auch die Zahlen unter Abschnitt D des Entwurfs).

Nach den aktuellen Vorausberechnungen der Deutschen Rentenversicherung Bund wären bei unveränderter Rechtslage für das Jahr 2045 ein gesetzliches Rentenniveau von 42,2 % und ein Beitragssatz von 23,2 % zu erwarten. Der Rentenversicherungsbericht 2017 gab im Hinblick auf die langfristige Entwicklung des Rentenniveaus, die letztlich Ausfluss in der Vergangenheit realisierter Reformbestrebungen zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen und der Funktionsfähigkeit der GRV ist, Anlass zu berechtigter Sorge, zumal mit dem in naher Zukunft zu erwartenden Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge die demografische Herausforderung erstmals voll zum Tragen kommen wird.

Die gesetzliche Rente wird, was auch im Rentenversicherungsbericht 2017 zutreffend – und wiederholt - festgestellt wurde, unter Zugrundelegung der derzeitigen Rechtslage in absehbarer Zeit alleine nicht ausreichen, um den Lebensstandard des Erwerbslebens im Versorgungsfall auch nur annähernd zu erhalten.

„Doppelte Haltelinie“ greift zu kurz

Der DSGT begrüßt zunächst, dass der Gesetzgeber mit dem geplanten Entwurf eine der zentralen sozialpolitischen Herausforderungen nunmehr aktiv aufnimmt: Die Sicherung eines auch gesamtgesellschaftlich noch als „auskömmlich“ angesehenen Rentenniveaus verbunden mit Maßnahmen zur Sicherung der hierfür erforderlichen Liquiditätsgrundlagen der GRV. 

Allerdings greift der Gesetzentwurf zu kurz, weil er die „doppelte Haltelinie“ nur für die Zeit bis 2025 garantiert und nachhaltige Lösungen für die sich erst danach in voller Schärfe stellenden demografischen Herausforderungen, insbesondere durch den Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge, nicht aufzeigt, sondern hierzu auf die Arbeit der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ verweist. Eine langfristige Liquiditätsplanung für die GRV darf nicht erst nach Ablauf einer weiteren Legislaturperiode in Angriff genommen werden!

Finanzierung beitragsunabhängiger Rentenleistungen

Dass die Haltelinie ggf. durch weitere Haushaltsmittel bis 2025 garantiert wird, ist zwingende Folge der Beitragssatzgarantie. Jedoch verwirklicht der Entwurf – wie dies auch schon beim RV-Leistungsverbesserungsgesetz 2014 der Fall war – bei den geplanten weiteren Leistungsausweitungen wiederum nicht die auch vom DSGT wiederholt vorgebrachte Forderung, dass Leistungen der GRV, und zwar neue wie auch laufende, für die keine Beiträge gezahlt wurden und die Ausfluss gesamtgesellschaftlicher Aufgaben sind, in vollem Umfang aus Steuermitteln aufzubringen sind.

Dies wäre ein ganz wesentliches Element einer nachhaltig und langfristig wirkenden Liquiditätssicherung der GRV und würde durch die Stärkung des Versicherungsprinzips auch zur Akzeptanz der GRV beitragen.

Anhebung der Zurechnungszeit bei EM-Renten

Die geplante beschleunigte Anhebung der Zurechnungszeit bei EM-Renten, die sich nur für Rentenzugänge ab 2019 auswirkt, führt zu einer spürbaren Anhebung des Rentenniveaus für Neurentner. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, zumal aus dem Rentenversicherungsbericht 2017 erhellt, dass das Niveau der EM-Renten zwar stabil geblieben ist, gerade aber Frauen, und ganz besonders die in den alten Bundesländern, erheblich niedrigere Zahlbeträge erhalten. Die Gründe hierfür sind bekannt.

Rentenpolitische Forderung des DSGT e.V.

Armut im Alter, aber auch „Erwerbsminderungsarmut“ sind zentrale Themen des DSGT. Er stellt daher fest, dass im Referentenentwurf einer seiner zentralen rentenpolitischen Forderungen weiterhin unberücksichtigt bleibt: Der Wegfall der sachlich nicht zu rechtfertigenden Abschläge bei EM-Renten. Der Entwurf verweist (Abschnitt C.) lediglich lapidar darauf, dass die Abschläge wie bei vorzeitigen Altersrenten die längere Rentenlaufzeit ausgleichen; ein Argument, das gerade bei EM-Renten, die keine Berechtigte bzw. kein Berechtigter „freiwillig“ in Anspruch nimmt, von vornherein nicht greift.

Eine Abschaffung der Abschläge wäre neben der angestrebten beschleunigten Anhebung der Zurechnungszeit ein Schritt zu einer besseren Absicherung von EM-Rentnerinnen und -Rentnern. Gleichzeitig sind bzw. wären damit nicht unerhebliche Kosten verbunden, die hier allerdings Ausfluss einer gesamtgesellschaftlich breit akzeptierten Verbesserung des Sicherungsniveaus gerade bei diesem Personenkreis sind bzw. wären.

Anerkennung eines dritten Kindererziehungsjahres

Die Begrenzung der Leistungsverbesserungen durch Anerkennung des dritten Kindererziehungsjahres in der GRV auf erziehende Elternteile mit mehr als zwei vor 1992 geborenen Kindern (Mütterrente II) ist im Grundsatz als politische Entscheidung für die völlige Angleichung der Kindererziehungszeiten für Geburten vor 1992 zu begrüßen. Die Begrenzung auf erziehende Elternteile mit mehr als zwei Kindern, die letztlich finanziellen Erwägungen geschuldet sein dürfte – die Kosten für eine vollständige „Mütterrente II“ werden auf 3,5 Milliarden € jährlich geschätzt – ist nicht nur nicht vermittelbar, sondern dürfte indes erhebliche verfassungsrechtliche Probleme im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz aufwerfen, zumal die gesetzgeberische Begründung für die Ungleichbehandlung (erziehende Elternteile, die aufgrund der Erziehung von mehr als zwei Kindern bei typisierender und generalisierender Betrachtung im besonderen Maße rentenrechtliche Nachteile aufgrund eingeschränkter Erwerbsarbeit hinnehmen mussten) im Hinblick auf die uneingeschränkte Berücksichtigung von drei Kindererziehungsjahren für erziehende Elternteile bei nach 1991 geborenen Kinder kaum nachvollziehbar sein dürfte (die bei bis zu zwei Kindern anders als Eltern mit bis dahin geborenen Kindern bei typisierender Betrachtung dann wohl solche besonderen rentenrechtlichen Nachteile hatten?).

Gerade Frauen als der überwiegende Teil der „erziehenden Elternteile“, die vor 1992 geborene Kinder erzogen haben und wegen der Kindererziehung keine ausreichende Alterssicherung aufbauen konnten, sind auf die rentenrechtliche Berücksichtigung der vollen drei Jahre für jedes Kind angewiesen - unabhängig von der Anzahl der Kinder.

Die finanziellen Kosten der Mütterrente II sind ganz erheblich. Gerade deshalb darf eine gesetzliche Neuregelung, die hier letztlich Ausdruck des politischen Willens der Regierungskoalition ist, nicht unter dem Deckmantel nicht plausibler Sacherwägungen eine im Ergebnis rein fiskalisch begründete Ungleichbehandlung schaffen, zumal Alternativen denkbar sind, z.B. Staffelung nach Geburtsjahrgängen. Die beitrags- und leistungsrechtlichen Verbesserungen bei Geringverdienern sind zu begrüßen.

Fazit des DSGT e.V.

Der Gesetzentwurf enthält Leistungsverbesserungen, die im Grundsatz zielführend sind, in den Details aber – letztlich aus fiskalischen Gründen – z.T. nicht konsistent sind. Das Rentenniveau wird zur Vermeidung künftiger Altersarmut nach langen Jahren politischer Diskussion erstmals mit konkreten Schritten gesichert, allerdings – auch das aus fiskalischen Gründen – eine Festlegung für die Zeit ab 2025, in der sich die Herausforderungen für die GRV erst in voller Tragweite stellen werden, vermieden.

Die grundsätzliche Diskussion über eine Reform und tragfähige Finanzierung der GRV, gerade auch im Hinblick auf die Einbeziehung der besonders von Altersarmut betroffenen Selbständigen, wird damit abermals vertagt.

Autor: Jürgen Mälicke, VRiLSG Berlin-Brandenburg; Vorsitzender der SGB VI-Kommission des DSGT e.V.

Anlass: Referentenentwurf des BMAS

Der Referentenentwurf enthält u.a. Folgendes: "Doppelte Haltelinien“ in der GKV, Verbesserung bei Erwerbsminderungs(EM)renten, Erweiterung der Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder. Aus Sicht des DSGT e.V. enthält der Gesetzentwurf Leistungsverbesserungen, die grundsätzlich zielführend sind; in den Details aber z.T. nicht konsistent. Zwar soll das Rentenniveau mit konkreten Schritten gesichert werden, allerdings wird eine Festlegung für die Zeit ab 2025, in der sich die Herausforderungen für die GRV erst in voller Tragweite stellen werden, vermieden. Ferner wird die Einbeziehung der besonders von Altersarmut betroffenen Selbständigen abermals vertagt.

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Schlagwörter: gesetzliche Rentenversicherung, Leistungsverbesserungen in der GRV, Rentenfinanzierung, Altersarmut