Bericht zum Fachtag „Der Mensch im Mittelpunkt von Rehabilitation und Teilhabe“ (November 2017)

05.01.2018 opener

Unter dem Motto „Der Mensch im Mittelpunkt von Rehabilitation und Teilhabe“, fand in den Räumlichkeiten der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR), am 07.11.2017 der Fachtag des Deutschen Sozialgerichtstag e. V. (DSGT) statt. Erstmalig wurde diese Veranstaltung gemeinsam vom DSGT und der BAR ausgerichtet und sprach hauptsächlich die Vorsitzenden und Mitglieder der Kommissionen des DSGT sowie Mitglieder des DSGT an. Unter den ca. 30 Teilnehmenden waren vor allem Praktiker/-innen des Sozialrechts vertreten, darunter u.a. Richter, Rechtsanwälte und Renten-Berater, aber auch Expert/-innen aus dem Bereich der (Sozial)Medizin.

Anlass und Ziel

Die neuen, ab 01.01.2018 geltenden verbindlichen Regelungen für die trägerübergreifende Zusammenarbeit und ihre Grundlagen im SGB IX, Teil 1, sind neben der Reform der Eingliederungshilfe ein weiteres wesentliches Kernelement des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Das BTHG hält am gegliederten Sozialleistungssystem mit seinen unterschiedlichen Zuständigkeiten fest. Menschen mit (drohender) Behinderung denken weniger in der gesetzlich vorgesehenen Gliederung des Sozialleistungssystems – im Zentrum ihres Interesse steht der Unterstützungsbedarf für ihre Teilhabe. Deshalb muss in der politischen und fachlichen Diskussion der trägerübergreifenden Zusammenarbeit eine entscheidende Bedeutung eingeräumt werden.

Konkret werden im neuen SGB IX insbesondere trägerübergreifende Vorgaben für die Ermittlung und Feststellung von Rehabilitationsbedarf verankert, das Verfahren für die Zuständigkeitserklärung ausdifferenziert und Einzelheiten der Teilhabe- bzw. Gesamtplanung für komplexere Fälle geregelt.

Ziel dieses Fachtags war es daher, ein Bewusstsein für die neue Rechtslage zu schaffen, ihre Bedeutung für die Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihre Relevanz für den konkreten Arbeitskontext der Rechtsanwender/innen vor und hinter dem Richtertisch aufzuzeigen. Für die Einordnung dieser Neuerungen wurden am Veranstaltungstag Grundlagen, Ziele, Möglichkeiten, Hürden und Grenzen der trägerübergreifenden Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden diskutiert und durch fachliche Inputs begleitet.

Themen und Verlauf

Zu Beginn begrüßten Frau Dr. Helga Seel, Geschäftsführerin der BAR sowie Frau Monika Paulat, Präsidentin des DSGT, die Teilnehmenden und gaben einen kurzen Programmüberblick. Frau Dr. Seel stellte anschließend die Ziele und Aufgaben der BAR als Plattform der Spitzenorganisationen aller Reha-Träger vor. Dabei gab sie auch einen Einblick in die Mitgliederstruktur und Gremienarbeiten der BAR auch im Hinblick auf das BTHG.

Grundlagen und Zielen trägerübergreifender Zusammenarbeit

Als inhaltliche Grundlage für den weiteren Gedankenaustausch stellte Herr Ass. Jur. Marcus Schian, Projektleiter bei der BAR, die durch das Bundesteilhabegesetz ab 1.1.2018 geänderten Inhalte des SGB IX vor, die für alle Rehabilitationsträgerbereiche besonders relevant sind. Der Fokus lag dabei auf den neu gefassten Grundlagen und Zielen trägerübergreifender Zusammenarbeit. Basis der Darstellung war das trägerübergreifende Prozessverständnis von Rehabilitation mit folgenden Phasen bzw. Elementen: Bedarfserkennung – Antrag und Zuständigkeitsklärung – Bedarfsermittlung und -feststellung – Teilhabeplanung – Entscheidung, Fristen – Leistungsdurchführung – Aktivitäten zum/nach Leistungsende. Der Vortrag verdeutlichte u.a., dass das Rehabilitationsverfahren einerseits zukünftig deutlich komplexer sein wird, andererseits aber auch gerade deswegen deutlich mehr Chancen bietet für sachnahe und zügige Entscheidungen sowie für stärkere Einbindung des Leistungsberechtigten. Insbesondere die Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX sowie die umfassende trägerübergreifende Bedarfsermittlung und -feststellung (§§ 14-23 SGB IX-neu) einschließlich der Teilhabeplanung (§§ 19-23 SGB IX-neu ) sind durch das BTHG komplett neu justiert worden.

Grenzen trägerübergreifender Zusammenarbeit?

Der Nachmittag begann mit der Kommentierung der neuen Regelungen unter der konkreten Fragestellung „Grenzen trägerübergreifender Zusammenarbeit?“. Zunächst brachte Herr VorsRBiSG a.D. Wolfgang Eicher die Perspektive der Rechts- und Lebenspraxis ein. Dabei ist der Blick von Eicher auf die neuen Herausforderungen insbesondere dadurch geschärft, dass er an Entscheidungen des Bundessozialgerichts zum 2001 neu geschaffenen § 14 SGB IX (Zuständigkeitsklärung) und hier insbesondere zur Kostenerstattung mitgewirkt hat. Er wies unter anderem auf die gestiegenen Anforderungen an die Reha-Träger und die Leistungsberechtigten hin, die innerhalb der neuen engeren Fristen besonderes Gewicht erhielten. Anschließend stellte Frau Prof. Dr. Katja Nebe, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die Sicht der Lehre dar. Hier lag ein Fokus u.a. auf der Bedeutung der neuen Regelungen für Menschen mit (drohender) Behinderung und die sie beratenden Personen.

Offene Diskussionsrunde

Nach diesen Kommentaren moderierte Frau Renate Holst, DnSG a.D. sowie Vorsitzende der DSGT-Kommission SER und SGB IX, eine offene Diskussionsrunde aller Teilnehmenden. Es wurde deutlich, dass die Komplexität und zahlreiche auslegungsfähige und -bedürftige Formulierungen und Zusammenhänge der neuen Regelungen auch erfahrene Rechtsanwender/-innen vor besondere Herausforderungen stellten. So wurde u.a. der Bedarf an praktikabler Konkretisierung der neuen Vorschriften und an intensiver Information für alle an der Umsetzung beteiligten Kreise deutlich, z.B. Richter, Berater, aber auch und vor allem Menschen mit Behinderung. Zu manchen der aufgeworfenen Fragen, z.B. zur neu gestalteten Kostenerstattung, waren einige Teilnehmende der Auffassung, dass sie vermutlich erst nach geraumer Zeit und intensiver Befassung in der Rechtspraxis geklärt werden können. Dies lässt sich an einer beispielhaften Auswahl der rechtlichen und verwaltungspraktischen Herausforderungen bei der Umsetzung des BTHG und seiner Ziele veranschaulichen:

Auslegung der §§ 15 und 19-23 SGB IX-neu

Die Beteiligung über § 15 Abs. 1 („Antragssplitting“) und 15 Abs. 2 SGB IX-neu erhöht die Anzahl notwendiger Abstimmungen und dies im Lichte kompakterer und für viele Rehabilitationsträger durch die Genehmigungsfiktion auch schärfer gestellter Fristen (§ 15 Abs. 4 SGB IX-neu, § 18 SGB IX-neu, s.u.). Sie bildet allerdings ab, was bereits bisher in der Rechtsprechung als Erwartung an die konkrete Umsetzung der Verantwortung des nach § 14 SGB IX-a.F. zuständigen Trägers formuliert worden war. Der konkrete Wortlaut der Vorschriften bietet Anlass zu Missverständnissen (Begriff „leistender Träger“ des § 14 SGB IX-neu vor dem Hintergrund der Möglichkeit, dass auch die nach § 15 SGB IX-neu beteiligten Rehabilitationsträger leisten können (§ 15 Abs. 3 SGB IX-neu) bzw. bei Beteiligung nach § 15 Abs. 1 SGB IX-neu „in eigener Zuständigkeit“ entscheiden). Die Anwendung des § 15 SGB IX-neu in den Fällen, in denen es nur um eine Leistung(sgruppe) geht, ist nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht unbedingt eindeutig geregelt. Auch bei der gesetzlich komplett neu geregelten Teilhabeplanung (§§ 19-23 SGB IX-neu) stellen sich neben konkreten Auslegungsherausforderungen auch Fragen der konkreten Umsetzbarkeit innerhalb der o.g. Fristen. § 23 SGB IX-neu löst sozialdatenschutzbedingte Herausforderungen in der trägerübergreifenden Zusammenarbeit nur teilweise (Was genau sind „Aufgaben“, was genau ist für deren Erfüllung „erforderlich“ bzw. wer bestimmt dies unter welchen Voraussetzungen?).

Mehr Beteiligung und Stärkung des Antragstellers im Verfahren

Diese Änderungen sind mit Blick auf die UN-BRK dem Grunde nach zu begrüßen und bieten jedenfalls echte Chancen für eine verbesserte Stellung des Antragstellers/Leistungsberechtigten im Verfahren. Offen bleibt allerdings zunächst, ob sie angesichts der Komplexität des Gesamtverfahrens auch in der konkreten Praxis zu spürbar verbesserter Selbstbestimmung führen können. Denn ohne ausreichende Beratung und Begleitung ist nicht auszuschließen, dass es im Einzelfall zu Überforderungen kommen kann.

Selbstbeschaffte Leistungen/Genehmigungsfiktion und Kostenerstattung (§ 18 bzw. § 16 SGB IX-neu)

Die aus dem SGB V (dort § 13 Abs. 3a) entlehnte Figur der Genehmigungsfiktion durch Fristablauf (§ 18 Abs. 3 SGB IX, gilt wegen § 18 Abs. 7 SGB IX-neu nicht für Träger der Eingliederungshilfe, Jugendhilfe und der Kriegsopferversorgung/-fürsorge) bietet Chancen, zu zeitgerechter Leistungserbringung beizutragen. Wie eine Reihe von gerichtlichen Verfahren zu § 13 Abs. 3a SGB V zeigen, sind allerdings auch dazu nicht wenige rechtspraktische Fragen derzeit noch offen (vgl. z.B. BSG, Urteile v. 11.05.2017, Az.: B 3 KR 30/15 R und B 3 KR 17/16 R; Urteil v. 11.07.2017, Az.: B 1 KR 26/16 R und Urteil v. 8.6.2016, B 1 KR 25/15 R).

Mit Blick auf die im Bereich trägerübergreifender Rehabilitation oft besonders komplexen Sachlagen und Abstimmungsprozesse (s.o.) ist zudem u.a. fraglich, ob die hierfür in § 18 Abs. 1 und 2 SGB IX-neu verankerte Frist von 2 Monaten in der Praxis ausreicht. Dies insbesondere auch, weil die in § 18 Abs. 2 SGB IX-neu enumerativ aufgeführten Gründe, aus denen die Frist verlängert werden kann, einige der in der Praxis wahrscheinlichen Herausforderungen nicht umfasst, die z.B. im Zusammenhang mit den konkreten Abläufen bei Teilhabekonferenzen auftauchen können.

Die umfassende Neuordnung des Regimes der Kostenerstattung in § 16 SGB IX-neu war insbesondere vor dem Hintergrund des § 15 SGB IX-neu notwendig. Auch hier bestehen allerdings Fragen. Exemplarisch kann dies am Kostenerstattungsanspruch des erstangegangenen Rehabilitationsträgers festgemacht werden. Für diesen hat die bisherige BSG-Rechtsprechung ein differenziertes Regime entwickelt (vgl. z.B. BSG, Urteil v. 25.09.2014, Az.: B 8 SO 7/13 R). Nun ist der Kostenerstattungsanspruch des erstangegangenen Trägers allerdings gesetzlich ausgeschlossen, § 16 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX-neu. Hier sind allerdings abweichende trägerübergreifende Vereinbarungen ausdrücklich möglich, § 16 Abs. 4 S. 1 a.E. SGB IX-neu.

Schlusswort und Fazit

In einem Schlusswort und Fazit konnten am Ende der Veranstaltung Frau Dr. Seel sowie Frau Paulat festhalten, dass die Neuerungen durch das BTHG komplex sind und noch nicht alle Fragen eindeutig beantwortet werden können. Unter anderem wird eine trägerübergreifende Konkretisierung und Abstimmung benötigt und aktuell über die „Gemeinsamen Empfehlungen“ auf BAR-Basis umgesetzt.

Auch wurde klar, dass der Transparenzgedanke im Reha-Verfahren für Menschen mit Beeinträchtigungen ein zusätzlicher Schritt in Richtung Teilhabe ist, allerdings auch eine Gefahr der Überforderung birgt. Nicht jede Information innerhalb eines Verwaltungsverfahrens ist für den Antragsteller von Bedeutung und nützlich im Sinne der Nachvollziehbarkeit. Notwendige Unterstützungsangebote in der Beratung und Betreuung von Menschen mit Behinderung sind elementar. Ebenso wie Informationen für alle an der Rechtsumsetzung beteiligten Akteure. Für die Reha-Träger besteht nun vordringlich die Anforderung, normative Vorgaben praktikabel umzusetzen. Wenn dabei gelten soll: „Der Mensch steht im Mittelpunkt“ – dann muss die Auslegung und Handhabung von Verfahrensvorschriften im Sinne der Menschen mit (drohender) Behinderung eine wichtige Rolle spielen.

Autor: Marcus Schian, Ass. jur., Projektleiter BAR e.V.

Anlass: Fachtag

Die neuen, ab 01.01.2018 geltenden verbindlichen Regelungen für die trägerübergreifende Zusammenarbeit und ihre Grundlagen im SGB IX, Teil 1, sind neben der Reform der Eingliederungshilfe ein wesentliches Kernelement des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Der Fachtag schaffte Bewusstsein für die neue Rechtslage, ihre Bedeutung für die Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihre Relevanz für den konkreten Arbeitskontext der Rechtsanwender/innen vor und hinter dem Richtertisch.

Rubrik:

Schlagwörter: Bundesteilhabegesetz (BTHG), trägerübergreifende Zusammenarbeit, Bedarfsermittlung und -feststellung, Teilhabeplanung