Kurzbericht der Kommissionen SGB II und SGB III – »Neufokussierung der Arbeitsförderung und Transformation in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Bürgergeld«

09.11.2022 opener

Die Kommissionen SGB II und SGB III des diesjährigen 8. Sozialgerichtstags haben sich mit dem übergreifenden Thema „Neufokussierung der Arbeitsförderung und Transformation in der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Bürgergeld“ beschäftigt und sich damit am Generalthema des diesjährigen Sozialgerichtstags "Sozialstaat in der Schieflage - bleibt die Solidarität auf der Strecke?“ ausgerichtet. Aktueller Anlass war der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes (BT-Drucks 20/3873), der den Schwerpunkt auf die Abkehr vom Vorrang der Arbeitsvermittlung und vom Prinzip des Förderns und Forderns legt.

Drei Referenten und die Obleute der CDU/CSU-Fraktion sowie der SPD-Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags haben über das Thema jeweils aus ihrer Perspektive berichtet bzw diskutiert:

Als Erster referierte Stefan Sondermann, Geschäftsführer des Bundesverbands der Träger beruflicher Bildung. Der Bundesverband der Träger beruflicher Bildung (BBB), kurz Bildungsverband, ist ein Zusammenschluss maßgeblicher Anbieter von Bildungsprogrammen in Deutschland. Sondermann befasste sich in seinem Impulsreferat mit den Instrumenten der Arbeitsförderung und Eingliederung, die der Gesetzentwurf vorsieht und hob insbesondere die geplanten Änderungen beim Weiterbildungsgeld und der Weiterbildungsprämie, die geplanten Boni und die ganzheitliche Betreuung (§ 16k SGB II) positiv hervor.

Prof. Dr. Steffen Luik, seit 2018 Richter am Bundessozialgericht und dort dem 8. Senat zugeteilt, der für Angelegenheiten aus dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Sozialhilfe zuständig ist, gab sodann stellvertretend für den verhinderten Richter am Bundessozialgericht Dr. Harich einen Überblick über die Neuausrichtung im Eingliederungsprozess, über den neuen Kooperationsplan, der die Eingliederungsvereinbarung ersetzen soll, die anschließende Vertrauens- und Kooperationszeit, die Karenzzeiten für Wohnen und Vermögen, Vermögensfreistellungen, die Änderungen bei der Einkommensberücksichtigung und den Sanktionen (Leistungsminderungen), bei der Bagatellgrenze und den Regelbedarfen.

Als dritter Referent befasste sich Prof. Dr. Walwei, Volkswirt und seit 2002 Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit empirischen Untersuchungen zum SGB II. Als Ergebnis der Untersuchungen hob er ua hervor, dass ein signifikantes Risiko von Armut durch Hartz IV so nicht erkennbar sei. Stärkere Eingliederungseffekte seien bei betriebsnahen Maßnahmen beobachtet worden. Im Zuge von Sanktionen seien vermehrt Arbeitsaufnahmen, aber auch Abmeldungen aus dem Leistungsbezug beobachtet worden.

In der anschließenden Diskussion vertraten die anwesenden Obmänner der CDU/CSU-Fraktion, Marc Biadacz, und der SPD-Fraktion, Dr. Martin Rosemann, aber auch die rund 40 Teilnehmer aus Verwaltung, Verbänden und Richterschaft höchst kontroverse Positionen, die Dr. Sellnick zusammengefasst und abschließend wie folgt bewertet hat:

Den bekannten „Frontlinien“ der gerade stattfindenden politischen Diskussion entsprachen die unterschiedlichen Auffassungen der Abgeordneten hinsichtlich der Frage, ob das Bürgergeldgesetz in der vorliegenden Form verabschiedet oder verschoben werden sollte, um Nachbesserungen vornehmen zu können und den Jobcentern mehr zeitlichen Spielraum bei der Umsetzung einzuräumen. Dr. Rosemann hielt an dem Ziel fest, das Gesetz zum 1.1.2023 in Kraft treten zu lassen, wobei für einzelne Bestimmungen unter Umständen auch ein späteres Inkrafttreten zur Vermeidung administrativer Umsetzungsschwierigkeiten in Frage kommen könnte, während Herr Bidacz sich für eine Verschiebung und dafür aussprach, die anstehende Regelsatzerhöhung unabhängig von dem Gesetz zu verabschieden und umzusetzen. Von den Teilnehmern an der Diskussion aus dem Publikum, darunter viele Mitarbeiter aus den Jobcentern, wurde auf die Schwierigkeiten bei einer schnellen Umsetzung, zB im Hinblick auf die Umstellung der Software und der Bescheide aber auch auf die Notwendigkeit der umgehenden Regelsatzanpassungen und das Auslaufen der befristeten Corona-Sonderregelungen, hingewiesen. Von Dr. Rosemann wurde ferner mitgeteilt, dass ein weiteres Gesetzespaket angedacht ist, um weitere Anpassungen im Hinblick auf die Anrechnung des Hinzuverdienstes, die Weiterentwicklung des sozialen Arbeitsmarktes und die Förderinstrumente vorzunehmen.

Sowohl von den Abgeordneten als auch den Teilnehmern übereinstimmend befürwortet wurden die Aufgabe des unbedingten Vermittlungsvorrangs und die Ausweitung der Fördermöglichkeiten im Bereich Aus- und Weiterbildung, Erleichterungen bei der Anrechnung von Einkommen, Stichwort Ferienjobs, und die Bagatellgrenze. Grundsätzlich positiv wurden auch Instrumente wie Potentialanalyse und Coaching betrachtet. Konstatiert wurde in diesem Zusammenhang, dass es sich bei den Leistungsempfängern um einen sehr heterogenen Personenkreis handelt, bei dem sehr unterschiedliche persönliche Umstände und Problemlagen vorliegen können, die einer individuellen Würdigung und individuell angepasster Anwendung der vorhandenen Instrumente bedürfen. Als Hindernisse wurden dabei von den Teilnehmern aus dem Publikum zu detaillierte und starre zentrale administrative Vorgaben und unzureichende personelle Ressourcen - Stichwort Betreuungsschlüssel - benannt. Thematisiert wurden in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten bei der Haushalts- bzw Budgetplanung. Von Prof. Dr. Walwei wurde ua thematisiert, dass bei Langzeitarbeitslosen ein hoher Anteil von Personen mit multiplen Vermittlungshindernissen vorliegt, der auch geringer am Rückgang der allgemeinen Arbeitslosenzahlen partizipiert hat. In die gleiche Richtung ging der Hinweis von Prof. Dr. Luik, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw Behinderungen hierbei eine besondere Rolle spielen und Prävention, Zugang zu beruflicher und medizinischer Rehabilitation besondere Herausforderungen für die Arbeit der Jobcenter darstellen und verstärkter Beachtung bedürfen. Er regte an, dem ua durch Beauftragte für behinderte Menschen in den Jobcentern Rechnung zu tragen.

Kontrovers diskutiert wurden (wie nicht anders zu erwarten) die Regelungen bzw die Ausgestaltung der Vertrauenszeit, des Kooperationsplans (Stichwort: neuer Ansatz oder alter Wein in neuen Schläuchen?), des Schlichtungsverfahrens, der Karenzzeit bei den Kosten der Unterkunft sowie der Vermögensanrechnung. Als positiv habe ich empfunden, dass diese Diskussion nicht in ideologisch grundsätzlicher Form geführt wurde, sondern alle Beteiligten sich um eine sachliche inhaltliche Auseinandersetzung bemühten.

Meine persönliche Bewertung ist, dass offensichtlich mit dem Bürgergeldgesetzentwurf nicht alle Probleme endgültig und zufriedenstellend gelöst sind, jedoch ein Prozess in Gang gesetzt worden ist, der verspricht, dass die bestehenden Probleme angegangen werden. Ich verbinde das mit der Hoffnung, dass dieser Prozess schneller und zielführender als in der Vergangenheit und nicht auf einer voruteilsbasiert-ideologischen, sondern einer evidenzbasiert-sachlichen Grundlage erfolgt. Unsere Diskussion in der Kommission belegt meines Erachtens, dass ein evidenzbasierter rationaler Diskurs zumindest im Rahmen des DSGT möglich ist.

 

Autor: Dr. Elke Roos, Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht, Kassel

Anlass: Gemeinsame Sitzung der Kommissionen SGB II und SGB III auf dem 8. Deutschen Sozialgerichtstag am 3. November 2022

Das Thema der Kommissionssitzung war aus aktuellen Anlass der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze <ua des Dritten Buches Sozialgesetzbuch>- Einführung eines Bürgergeldes (BT-Drucks 20/3873), der den Schwerpunkt auf die Abkehr vom Vorrang der Arbeitsvermittlung und vom Prinzip des Förderns und Forderns legt.

Rubrik:

Schlagwörter: Bürgergeld, Eingliederung, Armutsrisiko, Grundsicherung, SGB II, SGB III, Arbeitsförderung