6. DSGT: Schwerpunkte der SGB II Kommissionsarbeit

29.12.2016 opener

Die SGB II Kommission war wie immer sehr gut besucht mit rund 70 Teilnehmer/innen und sehr lebhaften Diskussionen. Die Teilnehmer/innen aus den verschiedenen Bereichen und Institutionen waren äußerst interessiert und ausdauernd. Folgende Themen waren Gegenstand: 9. SGB II-Änderungsgesetz, Aufgaben und Wirkungen des SGB II, Ansprüche ausländischer Personen im SGB II und SGB XII.  

 9. SGB II Änderungsgesetz - Rechtsvereinfachung

Vorträge aus der Praxis des Verwaltungsvollzuges (Herr André Oberdieck, Landkreis Göttingen) und aus der Sicht des BMAS (Herr Martin Vogt) hoben die Interessen- und Problemschwerpunkte nach ca. 3 Monaten Anwendung hervor:

Die Beratung der leistungsberechtigten Personen § 1 Abs. 3 Nr. 1 und § 14 SGB II ist kontrovers in den Anforderungen, subjektiv (was er wissen will) oder objektiv (was er wissen sollte) und im Umfang. Andererseits könnte man das auch als Chance begreifen. Als problematisch wurde die Verlagerung der Eingliederungsleistungen für sogenannte Aufstocker angesehen. Insbesondere verhindere dies eine gemeinsame Eingliederungsstrategie für Familien.

Im Wesentlichen positiv wurde die Änderung über die Verfolgung von Ansprüchen auf vorrangige Sozialleistungen (§ 5 Abs. 3 S. 3) bewertet. Herr Vogt wies für das BMAS auf die parallele Änderung der Unbilligkeitsverordnung hin. Als eher problematisch wurden die Regelungen des § 7 Abs. 5, 6 über die Leistungsansprüche bzw. den Leistungsausschluss von Auszubildenden sowie des § 22 Abs. 10 (Gesamtangemessenheit der Unterkunfts- und Heizkosten) eingestuft. Dies gelte insbesondere für die Anwendung bei Kostensenkungsverfahren. Ebenfalls als problembehaftet angesehen wurden § 34 Abs. 1 Satz 2 (Kostenersatz bei Erhöhung, Aufrechterhalten oder nicht Verminderung der Hilfebedürftigkeit) sowie § 41 Abs. 3 (Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses bzgl. der Leistungszeiträume – grundsätzlich 1 Jahr, Verkürzung auf 6 Monate nur in besonderen Fällen).

Schnittstellenprobleme nicht behoben

Insgesamt kritisierte das Plenum sehr deutlich, dass eine Reihe gravierender (Schnittstellen-)Probleme nicht behoben worden sei und eine ganze Reihe neuer Probleme auftauche. Es zeigte sich Ernüchterung darüber, was aus vielen Workshops des BMAS übriggeblieben sei. Es wurde kritisch hinterfragt, an welcher Praxis sich das BMAS im Einzelnen orientiert habe und welche sozialpolitische Prägung im Einzelnen maßgeblich gewesen sei.

 

Von der Integration zur Inklusion – Aufgaben und Wirkungen des SGB II

Die Diskussionsgrundlage bildeten Beiträge von Prof. Dr. Sell (Hochschule Koblenz) und Frau Dr. Rose Langer (Unterabteilungsleiterin BMAS).

Prof. Dr. Sell setzte thesenhaft folgende Schwerpunkte:

Das SGB II führe zu einer Unwucht zwischen System und Hilfeempfänger und verschärfe die Lage zu Lasten der Gemeinschaft der Hilfeempfänger. Das Vorhaben, alle Arbeitsuchenden zu betreuen sei gescheitert. Es liege ein grandioses Sozialstaatsversagen vor. Die Fortentwicklung des SGB II sei in der Häufigkeit/Frequenz und Qualität schlecht. Das wirke sich auch auf die Rechtsprechung aus (monatlich 10.000 Klagen bei gesunkenen Empfängerzahlen). Achillesferse 1: Trennung SGB II und SGB III und Achillesferse 2: doppelte Institutionalisierung durch Arbeitsagenturen im SGB III und Jobcenter im SGB II sowie innerhalb des SGB II, durch Jobcenter in gemeinsamer Einrichtung und Jobcenter zugelassener kommunaler Träger.

Sanktionen seien nicht legitimierbar, wenn das BVerfG ein dem Grunde nach unverfügbares Grundrecht der Existenzsicherung festgelegt habe. Der Teilhabebegriff des SGB II „ein Mindestmaß“ sei im Vergleich zum SGB IX und BTHG mit „voller Teilhabe“ unzureichend. Das SGB II erzeuge ein völlig falsches Bild, wenn Hartz 4 = Arbeitslose gesetzt würde. Tatsächlich stellten die Arbeitslosen aber nur einen geringen Teil der Betroffenen, während der Anteil der nichterwerbsfähigen Leistungsberechtigten viel größer sei. Der aber stehe nicht im Fokus. Arbeitsmarktintegration betreffe nur noch einen Teil der Menschen, im Übrigen sei ein Großteil nicht mehr oder vorläufig nicht zu integrieren.

Bei den Flüchtlingen zeige sich im September 2016, dass bereits rund 500.000 dieser Menschen im SGB II angekommen seien, aber Integration kaum oder nur schwer möglich sei. Die institutionelle Grenze zwischen SGB III und SGB II für diese Personen sei überflüssig. Die Jobcenter sollten durchgängig zuständig sein. Insgesamt herrsche Modellprojektionitis und Sonderprogrammitis im SGB II. Vision: Es sei eine massive Deregulierung des Förderrechts erforderlich, die nur politisch angestoßen werden könne. Es gehe um deutlich mehr Flexibilität im Sinne der früheren §§ 18 – 20 BSHG (Hilfe zur Arbeit 2.0).

Dr. Langer hielt dem entgegen:

Es bestehe eine unterschiedliche Wahrnehmung der Reformen innerhalb Deutschlands einerseits und durch das europäische Ausland andererseits. Die interne Sichtweise sei zu kritiklastig. Die Systeme müssten zukunftssicher gestaltet werden im Hinblick auf die demographische Entwicklung. Kritik, Streit und Ungeduld habe die Entwicklung von Beginn an behindert. Verfassungsbeschwerden hätten zu unnötigen Verzögerungen geführt.

Sie wies darauf hin, dass man bei der fundamentalen Kritik das Gesetz neu entwickeln müsste - und erhielt dafür Szenenapplaus. Man habe mehr Transparenz geschaffen über die Arbeitslosigkeit in Deutschland und den Trend der steigenden Arbeitslosigkeit gebrochen. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit gehe zurück. Derzeit würden sich Möglichkeiten bieten, dass auch Langzeitarbeitslose und schwierige Jugendliche Zugang in den ersten Arbeitsmarkt fänden.

Zum Bereich der Sanktionen habe es erheblichen Streit der Koalitionspartner gegeben. Die Vorschläge für ein einfacheres System seien politisch nicht umsetzbar gewesen. Bei den Eingliederungsinstrumenten sei die Frage zu stellen, ob es neue Instrumente brauche oder ob die vorhandenen nur geschliffen werden müssten. Bei öffentlich geförderter Beschäftigung komme es drauf an, die richtigen Personen und die richtigen Zeitpunkte zu finden. Soziale Teilhabe werde im SGB II bereits ausdrücklich verwirklicht, denn Qualifizierung, Ausbildung und Fortbildung seien Teilhabe.

Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und SGB XII

Den Problemaufriss hierzu lieferte Dr. Hans-Joachim Sellnick (SG Nordhausen): Zunächst stellte er die Entwicklung des Anspruchsausschlusses dar. Hierzu ging er insbesondere auf die EuGH-Verfahren 138/02 Collins und C 67/14 Alimanovic und die abweichende Stellungnahme des Generalanwalts hierzu ein, ferner auf die Rechtsprechung des BSG und die Haltung des BMAS (keine Leistungen aber Ausreiseunterstützung). Sodann relativierte er den tatsächlichen Umfang des Problems unter Bezug auf den IAB Zuwanderungsmonitor sowie die Beschäftigungs-, Arbeitslosen-, und SGB II-Hilfequote.

Hierzu vertrat er folgende Thesen: Die empirischen Daten belegten nicht, dass in nennenswertem Umfang eine Zuwanderung in das Sozialsystem als solches stattgefunden habe. Der Zugang zum Sozialsystem sei im wesentlichen Ausfluss einer EU-rechtlich gewollten oder zumindest tolerierten Arbeitsmigration. Das Gesetz regele daher ein Scheinproblem, um politisch der Ablehnung weiterer Migration in der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Angesichts offenkundiger Umgehungsmöglichkeiten durch geringfügige selbständige oder unselbständige (Schein-)Beschäftigungen, stelle es auch nur eine Scheinlösung dar.

Dem hielten Vertreter des BMAS entgegen, dass die Menschen sich gerade nicht in den Leistungssystemen abbildeten, weil das BMAS bisher einen Leistungsbezug verhindert habe und das mit diesem Gesetz auch weiterhin wolle. Es sei nach Auffassung des BMAS auch richtig, sich kleinerer Problemlagen anzunehmen.

Fazit

Die Kommissionsarbeit zeigte erneut drei Dinge: Der Vorrat an schwerwiegenden Problemstellungen mit großer Tragweite scheint im SGB II noch für eine lange Zeit auszureichen. Der Wunsch der Beteiligten aus Behörden, Gerichten, Kanzleien, Verbänden und Vereinen an einer Verbesserung und Vereinfachung mitzuwirken scheint stärker zu werden, statt sich abzuschwächen. Die Kommunikation zwischen denen, die Gesetze machen und/oder vorbereiten und denen die sie ausführen oder über ihre Anwendung Recht sprechen ist noch sehr entwicklungsfähig.                      

Autor: Bericht des Kommissionsvorsitzenden Gerd Goldmann

Anlass: Bundestagung des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.

Der Vorrat an schwerwiegenden Problemstellungen mit großer Tragweite scheint im SGB II noch für eine lange Zeit auszureichen. Der Wunsch aller Beteiligten, an einer Verbesserung und Vereinfachung mitzuwirken, scheint stärker zu werden, statt sich abzuschwächen. Die Kommunikation zwischen denen, die Gesetze machen und/oder vorbereiten und denen, die sie ausführen oder über ihre Anwendung Recht sprechen, ist noch sehr entwicklungsfähig.

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Schlagwörter: 9. SGB II-Änderungsgesetz, Rechtsvereinfachung, Inklusion, Arbeitsmarktintegration, Ansprüche ausländischer Personen