Wie geht es weiter mit den Wirbelsäulen-Berufskrankheiten? Workshop des DSGT e.V. zum Stand in Wissenschaft und Rechtsprechung

01.07.2017 opener

Änderung der Berufskrankheitenverordnung vom 18. Dezember 1992

Durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung vom 18.12.1992 wurden die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten (BK 2108 – 2110) in die Berufskrankheitenverordnung eingeführt, nachdem sie zuvor bereits auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Geltung hatten. Von der Anzahl der geltend gemachten Erkrankungsfälle her hat die BK 2108 „bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“ die größte Bedeutung. Bandscheibenbedingte Erkrankungen in diesem Teil der Wirbelsäule sind weit verbreitet und kommen in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vor; sie haben eine multifaktorielle Ätiologie (Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2108, Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, BArbBl. 10/2006, S. 30). Die meisten chronischen Rückenschmerzen sind multifaktoriell im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells zu erklären. Bandscheibenbedingte Erkrankungen sind nur ein Teilaspekt dieses Geschehens.

Statistische Werte seit der Änderung

Seit Einführung der Berufskrankheit wurden weit über 100.000 Verdachtsfälle gemeldet (Stand 2014); pro Jahr kommen knapp 5000 bis 6000 Verdachtsfälle hinzu. Die Anzahl der Anerkennungen ist jedoch relativ gering. Bis zum Jahr 2014 wurden insgesamt 388 Fälle anerkannt, davon führten 254 Fälle zur Gewährung einer Rente (Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit “Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule“  - BK 2108 - , Seite 7). Sowohl in Bezug auf die Art und den Umfang lendenwirbelsäulenbelastender beruflicher Einwirkungen als auch zur Differenzierung beruflich bedingter und anlagebedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule hat inzwischen eine umfangreiche Forschung stattgefunden.

Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)

Das im Jahre 1999 veröffentlichte Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) hat Dosiswerte für die Tagesbelastungsdosis und die Gesamtbelastungsdosis im Berufsleben bei Frauen und Männern entwickelt. Der Orientierungswert für die Lebensdosis liegt bei 25 Mega-Newtonstunden für Männer und 17 Mega-Newtonstunden für Frauen. In der Folge sind umfangreiche Modelle für die Berechnung der Dosiswerte entstanden. Falls diese Werte erreicht werden, wird eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos als gegeben erachtet. Seit der Veröffentlichung der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) wird unter Arbeitsmedizinern diskutiert, inwieweit auch Belastungen der Lendenwirbelsäule, die unterhalb des Orientierungswertes liegen, Risiken für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule beinhalten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat es in einem Urteil vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R, BSGE 99, 162 = SGb 2009, 246) für geboten erachtet, bereits dann in arbeitsmedizinische Ermittlungen zum Vorliegen der Berufskrankheit einzutreten, wenn die Hälfte der Lebensdosis erreicht wird.

Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005

Bereits im Jahre 2005 hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, deren personelle Zusammensetzung im Vorfeld mit den maßgebenden wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften abgestimmt wurde, medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule entwickelt (Trauma und Berufskrankheit 2005, 211 ff und 320 ff). Daraus sind Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung hervorgegangen. Neben zahlreichen Begriffsklärungen hat die Arbeitsgruppe typische Befundkonstellationen herausgearbeitet, die sich typischerweise bei der Begutachtung ergeben, diese definiert und die Einschätzung der Experten zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs wiedergegeben. Insgesamt wurden 21 Konstellationen definiert. Bei 15 Konstellationen bestand Einigkeit unter den Experten hinsichtlich des mit Wahrscheinlichkeit bestehenden oder nicht bestehenden Zusammenhangs zwischen den beruflichen Belastungen und der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule. Bei sechs Konstellationen konnte kein einstimmiger Konsens erzielt werden.

BSG greift Konsensempfehlungen auf

Das BSG hat in einem Urteil vom 23.04.2015 (B 2 U 20/14 R, BSGE 118, 267 = UV-Recht Aktuell 2015, 761) klargestellt, dass die Konsensempfehlungen aus dem Jahr 2005 nach wie vor eine geeignete Grundlage sind, um den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand bezüglich bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS zu bestimmen. Sie können auch dann angewandt werden, wenn der MDD-Orientierungswert für die Gesamtbelastungsdosis nicht erreicht wurde. Bei fehlendem Konsens in der Konsensarbeitsgruppe ist im Rahmen der Amtsermittlung festzustellen, ob im konkreten Einzelfall individuelle Umstände vorliegen, die nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand den Ursachenzusammenhang als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen (Urteil vom 23.04.2017, B 2 U 6/13 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr 2108 Nr 7).

Nachauswertung im Jahre 2012

In der Folgezeit wurde im Jahre 2012 eine Nachauswertung der Daten der Deutschen Wirbelsäulenstudie veröffentlicht (Bolm-Audorff / Seidler, Richtwertestudie DWS II: Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zwischen physischen Belastungen und Bandscheibenerkrankungen und Ableitung von Richtwerten im Sinne der BK 2108, http://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/veranstaltung/bktage/2014/documents/16_seidler.pdf). Diese führte zu einer kontroversen Diskussion unter Arbeits-und Sozialmedizinern zu den Konsequenzen der DWS und ihrer nach Auswertung. Umstritten ist vor allem, ob bzw. inwieweit mit der DWS eine berufsbedingte Häufung von strukturellen Bandscheibenschäden gemessen wurde oder nur eine häufigere Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung aufgrund einer berufsbedingten Beschwerdeauslösung oder Beschwerdeverstärkung bei berufsunabhängig entstandenen Bandscheibenschäden. Es wird kritisiert, dass das Studiendesign der DWS als Fall-Kontroll-Studie keine verlässliche Abgrenzung erlaube. Hinzu komme, dass das Studiendesign für psychosoziale Confounder (Störfaktoren) anfällig sei (Grosser/Schiltenwolf/Thomann, Berufskrankheit “Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule“  - BK 2108 - , Seite 7). Weitere Forschungsergebnisse sind bisher nicht veröffentlicht.

Auslegung der Konsensempfehlungen durch LSGe

Infolge des kontroversen Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkreten Anwendungsfällen der BK 2108 sind verschiedene Landessozialgerichte zu unterschiedlichen Auslegungen einzelner Regelungen der Konsensempfehlungen gelangt. Das BSG (Urteil vom 23.04.2015, B 2 U 10/14 R, BSGE 118, 255 = SGb 2016, 537) hat dazu klargestellt, dass das Revisionsgericht an die einen medizinischen Erfahrungssatz betreffende Feststellung des Berufungsgerichts gebunden ist, wenn es nach eigener Überprüfung nicht feststellen kann, dass dieser offensichtlich falsch ist bzw. offenkundig nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. Dass Tatsachengerichte zur Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen können, die dann jeweils revisionsrechtlich - in den aufgezeigten Grenzen - akzeptiert werden müssten, sei jedoch zum einen die logische Folge der den Gerichten nur eingeschränkt eröffneten Möglichkeiten, sich den tatsächlichen aktuellen medizinischen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu verschaffen. Die damit verbundene Rechtsunsicherheit sei aber zum anderen zumindest partiell auch Folge des Normtatbestands der BK 2108, dessen Reform das BSG bereits mehrfach angemahnt habe.

Siehe auch:
Einladung zum Workshop der Kommission SGB VII am 21. September 2017 in Kassel

Autor: VRiSG Hans-Peter Jung (Vorsitzender der SGB VII-Kommission des DSGT e.V.)

Anlass: Workshop des DSGT e.V.

Mit Änderung der Berufskrankheitenverordnung vom 18.Dezember 1992 wurden die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten (BK 2108 – 2110) in die Berufskrankheitenverordnung eingeführt. Seither sind weit über 100.000 Verdachtsfälle gemeldet (Stand 2014) worden, wobei jedoch die Anzahl der Anerkennungen relativ gering ist. Im Jahre 2005 wurden Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung erarbeitet, die der 2. Senat des BSG aufgegriffen hat. Infolge des kontroversen Stands der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Anwendungsbereich der BK 2108 sind verschiedene LSGe zu unterschiedlichen Auslegungen einzelner Regelungen der Konsensempfehlungen gelangt, was zu einer gewissen Rechtsunsicherheit geführt hat. Der 2. Senat des BSG ist jedoch als Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen der LSGe grundsätzlich gebunden und mahnt deshalb eine Reform des Normtatbestandes der BK 2108 an.

Rubrik:

Schlagwörter: Wirbelsäulen-Berufskrankheiten, Rechtsprechung, Konsensempfehlungen, Berufskrankheitenverordnung