Kurzbericht der Kommission SGB IX/SER »Gewaltschutz in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung – Theorie und Praxis im interdisziplinären Diskurs« beim 8. DSGT am 3.11.2022

10.11.2022 opener

Die Verpflichtung zur Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung zugeschnittenen Gewaltschutzkonzeptes in § 37a SGB IX ist die erste Regelung im Sozialgesetzbuch zu dieser Problematik und wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz in das SGB IX aufgenommen. Die Vorschrift trat zum 1.1.2022 in Kraft. Die Kommission nahm dies zum Anlass, beim 8. Deutschen Sozialgerichtstag am 3. November 2022 über Gewaltschutzkonzepte einen interdisziplinären Diskurs zu führen. Das Programm war sehr ehrgeizig und füllte die vorgesehenen vier Stunden sehr gut aus.

Frau Prof. Zinsmeister, Technische Hochschule Köln, war nicht nur an der Erstellung des Forschungsberichts Nr. 584 des BMAS zu dem Thema beteiligt, sondern sie führte die Zuhörenden fulminant in die theoretischen Grundlagen ein. Die Geschichte der Problematik Gewaltschutzkonzepte ist schon länger und bereits im Jahre 2001 wurde auf einem Symposium des BMFJS ausführlich hierüber diskutiert. Trotzdem dauerte es noch 20 Jahre bis zur Einführung der Regelung. Zu betonen ist, dass nach § 37a Abs. 1 SGB IX der Adressat des Schutzauftrages die Leistungserbringer (Einrichtungen und ambulante Dienste) sind. Hingegen haben die Rehabilitationsträger und Integrationsämter nach § 37a Abs. 2 SGB IX lediglich eine Pflicht, darauf hinzuwirken, dass die Leistungserbringer den Schutzauftrag erfüllen. Weitere Konkretisierungen enthält das Gesetz leider nicht und die konkrete Umsetzung dieser Pflicht verbleibt im Unklaren.

Detailliert wies Frau Prof. Zinsmeister auf die Formen der Gewalt – strukturelle, sexualisierte, physische und psychische – hin. Aus den Studien ergibt sich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in einem deutlich erhöhten Maß betroffen sind, wobei das Risiko des sexuellen Missbrauchs um das 2-3-fache erhöht ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die besonderen Wohnformen keine geschützten Bereiche darstellen. Die Ursachen von Gewalt sind nach den Ergebnissen in der Forschung vielfältig – strukturell, situativ und individuell. Wenn Gewalt, zum Beispiel in der Pflege, auftritt, kommt es häufig zur Verschränkung der Ebenen.

Die Analyse von Gerichtsbeschlüssen hat gezeigt, dass ableistische (Diskriminierung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung) Erklärungsmuster noch weit verbreitet sind. Es kann zum Beispiel gelesen werden, dass „geistig behinderte Menschen zum sexuell distanzlosen Verhalten neigen“. Solche Erklärungsmuster müssen reflektiert werden und die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung auch durch die Gerichte wahrgenommen werden.

Die in § 37a SGB IX vorgesehenen Gewaltschutzkonzepte können auf diese ganzen Herausforderungen nur reagieren, wenn sie als Organisationsentwicklungskonzept aufgefasst werden und auch die Haltung zur Problematik sich ändert. Hierbei ist besonders wichtig, alle Beteiligten, insbesondere auch die Bewohnerinnen und Bewohner, mit einzubinden. Das Konzept selbst besteht aus einer Vielzahl von Bausteinen, zum Beispiel Analysen des Ist-Zustandes oder Angebote für die Adressatinnen und Adressaten.

Probleme sieht Frau Zinsmeister bei den Folgen unterlassender oder ungeeigneter Maßnahmen. Zwar sieht § 129 SGB IX die Möglichkeit die Vergütung eines Leistungserbringers zu kürzen, wenn er seine gesetzlichen Verpflichtungen nicht einhält. Die Praxis dürfte aber vor großen Problemen stehen, da hierfür konkrete Maßnahmen erforderlich sein dürften, die in § 37a SGB IX gerade nicht vorgesehen sind.

Frau Prof. Brzank, Hochschule Nordhausen, gab im Anschluss einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Forschung zur häuslichen Gewalt gegen Frauen. Sie wies im Allgemeinen darauf hin, dass Gewalt nach Kultur, Gesellschaften und Normen variiert, so dass kein absoluter Gewaltbegriff vorhanden ist. Dabei ist Gewalt zugleich immer ein Machtinstrument. Sehr häufig sind Frauen von ihr betroffen mit zum Teil sehr gravierenden Eingriffen. Besondere Risikofaktoren für Frauen sind: Migration, Gewalterfahrungen in der Kindheit, besondere Lebensphasen (Trennung oder Schwangerschaft). Die Folgen der Gewalt seien gravierend für die betroffenen Frauen, denn Gewalt macht einsam und führt zu einem hohen Armutsrisiko und zum Verlust der familiären bzw. sozialen Beziehungen.

Sehr plastisch schilderte sie die Beziehungsdynamik bei häuslicher Gewalt gegen Frauen. Es kommt zum Spannungsaufbau, welcher einen Gewaltausbruch bedingt. Im Anschluss steht häufig eine sogenannte Honey-Moon-Phase, in welcher die Täter viel Mühe und Aufmerksamkeit in die Beziehung stecken. Den betroffenen Frauen wird dabei eine Mitschuld am Gewaltausbruch zugesprochen und die Schuld umgekehrt. Diese Dynamik wird im Bereich des Opferentschädigungsrechts noch nicht richtig berücksichtigt.

Herr Schian, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, führte über in die praktischen Probleme. Aus den Nationalen Aktionsplänen 1.0 und 2.0 zur UN-Behindertenrechtskonvention ergab sich die die Notwendigkeit zur systematischen und trägerübergreifenden Befassung. Ein Ansatzpunkt hierfür sind die Gemeinsamen Empfehlungen (GE) nach §§ 25, 26 SGB IX. Gewaltschutzkonzepte haben bereits Eingang gefunden in die GE „Einrichtungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“. Es findet sich unter § 2a GE eine eigene Regelung hierzu, welche einzelne zu berücksichtigende Punkte, zum Beispiel zu treffenden Maßnahmen der Gewaltprävention oder die einzuleitenden Maßnahmen bei Verdachtsfällen und bei akuten Gewaltfällen, aufführt. Herr Schian stellt das anspruchsvolle Verfahren nach § 26 Abs. 4 bis 6 SGB IX für eine solche GE dar, wobei die Beteiligten sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. In der Zukunft kämen als weitere Anknüpfungspunkte in Betracht: GE Reha-Prozess und GE Qualitätssicherung. Das Thema ist weiterhin auf der Agenda und bei der Überarbeitung muss geprüft werden, ob die Partizipation funktioniert sowie die Konzepte wirken.

Rechtsanwält*in Ronska Grimm zeigte aus den Erfahrungen mit der Justiz in Berlin bei der Vertretung von Menschen mit Behinderungen, welche Auswirkungen fehlende Schutzkonzepte auf die Strafverfahren haben. Allgemein ist voranzustellen, dass die Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaften sehr hoch ist und somit viele Strafverfahren, in denen Aussage gegen Aussage – wie bei sehr vielen Sexualdelikten – steht, eingestellt werden. Für die Betroffenen ist das Verfahren eine enorme Belastung und so kommt es nur zu sehr wenigen Verfahren überhaupt. Ronska Grimm kritisiert, dass kein standardisierter Zugang zum Recht, für die Betroffenen von sexueller Gewalt geschaffen wurde, so gibt es keine Hinweise in leichter Sprache und bestehende gesetzliche Erleichterungen für die Betroffenen werden nicht genutzt. Die Anklage zum Landgericht nach § 24 Abs. 1 GVG wird nicht in Betracht gezogen, obwohl damit eine mehrfache Vernehmung der Betroffenen vermieden werden könnte. Auch die richterliche Videovernehmung nach § 58a StPO kommt in der Praxis nicht vor und auch so wird den Betroffenen eine mehrfache Vernehmung zugemutet. Häufig fehlen Konzepte in den Einrichtungen, so sind die Meldewege zu lang und die Zeit wird nicht zur Beweissicherung genutzt. Die Gespräche nach der Tat werden nicht dokumentiert, so dass später die Tatsachen für eine Glaubwürdigkeitsuntersuchung fehlen. Teilweise werden auch die Vergewaltigungsmythen noch weiter transportiert. Ein sehr großes Problem in der Praxis ist, dass nach einer Tat weder für den Täter noch für den Betroffenen eine zeitnahe Ersatzbetreuung sichergestellt werden kann. Wenn die Betroffenen nicht im familiären Umfeld aufgefangen werden können, bleibt häufig nur die Möglichkeit in der Einrichtung zusammen mit dem Täter weiter betreut zu werden.

Im Abschluss stellte Herr Knappe, EFJ gemeinnützige AG, ein konkretes Gewaltschutzkonzept vor. Nach seinen Ausführungen handelt es sich hierbei um eine Systematisierung und Strukturierung bereits vorhandener Prozesse bzw. Konzepte. Die Anforderungen an ein solches Konzept hängen sehr stark von der Zielgruppe ab – weitgehend autonome Wohngemeinschaften bis hin zu Einrichtungen mit ständiger Betreuung. Für die Umsetzung ist Personal notwendig, welches sich kontinuierlich dieser Aufgabe annimmt. Ein solches Konzept ist wiederum aus sehr vielen Bausteinen zusammengesetzt, zum Beispiel die Meldewege bei einem Vorfall usw.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer formulierten die folgenden Wünsche an die Politik:

  • Aufnahme von Mindestanforderungen in § 37a SGB IX und die Regelung von Überprüfungskonzepten
  • Verfahrensvorgaben im Sinne von § 8a SGB VIII
  • Einrichtung einer Erwachsenenschutzbehörde
  • Sicherstellung der getrennten Versorgung für Opfer bzw. Täter durch zusätzliche Kapazitäten
  • größere Berücksichtigung in der Gesellschaft des Themas Gewalt gegen Menschen mit Behinderung
  • verbindliche best practice in allen Bereichen der Justiz
  • Gewaltschutz und die besonderen Herausforderungen müssen bei der Ausbildung berücksichtigt werden

Die Kommission plant in der zukünftigen Arbeit die Erstellung eines Positionspapiers zu diesem Problemkreis.

Autor: RiLSG Jörn Hökendorf, Pressesprecher DSGT e.V.

Die Verpflichtung zur Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung zugeschnittenen Gewaltschutzkonzeptes in § 37a SGB IX ist die erste Regelung im Sozialgesetzbuch zu dieser Problematik. Die Kommission nahm dies zum Anlass, über Gewaltschutzkonzepte einen interdisziplinären Diskurs zu führen. Das Programm war sehr ehrgeizig und füllte die vorgesehenen vier Stunden sehr gut aus.

Rubrik:

Schlagwörter: Gewaltschutzkonzept, Gewalt in Einrichtungen, Opferschutz, Strafverfolgung, Gewalt, Opfer, Täter