Grundsatzpapier – Verwirklichung der Kinder- und Jugendhilfe: Eine staatliche und gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe! Forderungen und Empfehlungen des DSGT

10.05.2021 opener

Vorwort

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) legt ein Grundsatzpapier zur Verwirklichung der Kinder- und Jugendhilfe als staatliche und gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe vor. Es schließt an das Positionspapier von Januar 2018 an, in dem seinerzeit neun Thesen und Forderungen formuliert worden waren. Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe war Gegenstand eines langen Reformprozesses, den der DSGT und die federführende Kommission SGB VIII sehr intensiv begleitet hat. An verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeitpunkten meldete sich der DSGT im öffentlichen Diskurs zu Wort. Dieses hat insbesondere deshalb Gewicht, weil in der Kommission SGB VIII fachliche Expertise aus den unterschiedlichsten Professionen der Kinder- und Jugendhilfe zusammenkommt, wie auch sonst in allen anderen Kommissionen des DSGT. Diese Meinungsvielfalt erlaubt eine breit angelegte und vertiefte Auseinandersetzung mit der zu erörternden Thematik. Den Mitgliedern der von Martin Isermeyer (Berlin) geleiteten Kommission SGB VIII ist es gelungen, den umfassenden, mitunter durchaus auch anstrengenden Meinungsbildungsprozess in einen Konsens münden zu lassen, der nunmehr in Form des Grundsatzpapieres veröffentlicht wird. An dieser Stelle danke ich dem Kommissionsvorsitzenden und allen aktiven Kommissionsmitgliedern sehr herzlich für ihr unermüdliches, auch zeitaufwändiges Engagement, das sie ehrenamtlich in dieses Projekt investiert haben.

 

Das Grundsatzpapier geht weit über das erste Positionspapier hinaus. Es bezieht – wie sein Name zum Ausdruck bringt – jenseits aktueller Themen der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts grundsätzlich und zukunftsweisend Stellung zu den Anforderungen an eine gute Kinder- und Jugendhilfe. In sieben Kapiteln stellt das Papier diese Anforderungen im Einzelnen dar, nachdem in einer Präambel essentielle Gedanken über die gesellschaftliche Relevanz der Kinder- und Jugendhilfe niedergelegt sind und bevor im Schlusskapitel zentrale Forderungen des DSGT zu der von ihm für notwendig erachteten Weiterentwicklung des SGB VIII vorgetragen werden. Ganz im Sinne von „Nach der Reform ist vor der Reform!“

 

Monika Paulat                                                                                     Potsdam, Mai 2021

 

 

 

 

 

G r u n d s a t z p a p i e r

Verwirklichung der Kinder- und Jugendhilfe: Eine staatliche und gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe!

Forderungen und Empfehlungen des DSGT

 

 

 

Gliederung

 

Präambel

 

I. Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe

 

II. Kinderrechte und die besondere Bedeutung des Rechts auf Beteiligung

 

III. fachlich-strukturelle Grundlagen

1. Inklusive und bedarfsgerechte Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe

2. Sozialraum und Sozialraumorientierung

 

IV. Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen nach dem SGB VIII

1. Eltern und ihre Einbindung in die stationären Hilfen zur Erziehung

2. Ambulante Hilfen

 

V. Voraussetzungen für die Erlaubnis zum Betrieb einer Einrichtung

 

VI. Gefährdungseinschätzung und Kooperation von Fachkräften und Berufsgeheimnisträgern im Kinderschutz

 

VII. Gerichtsverfahren und Schiedsstellenverfahren

  1. Vertragsrecht/Schiedsstellenverfahren
  2. Rechtswegdiversität
  3. Wechselmodell

 

VIII. Fazit und zentrale Forderungen

 

 

 

 

 

 

Präambel

 

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (im Folgenden DSGT) verfolgt neben dem Erfahrungsaustausch seiner Mitglieder die sozialpolitische Begleitung aktueller Gesetzgebungsvorhaben. Seit 2015 befasst sich die zu diesem Zeitpunkt neu gegründete Kommission zum SGB VIII innerhalb des DSGT mit der Rechts- und Fachentwicklung im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. In diesem Kontext haben die aktuellen Reformprozesse zum SGB VIII die fachpolitischen Reflektionen in den letzten Jahren besonders geprägt. So hat der DSGT als Ergebnis der fachpolitischen Arbeit seiner Kommission SGB VIII Anfang 2018 bereits das Positionspapier „Das Kind und seine Familie im Mittelpunkt“ zu vielen in dieser Zeit bundesweit diskutierten Themen veröffentlicht. Weiterhin hat der DSGT im Juni 2018 zum Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) Stellung genommen und sich zuletzt im Dezember 2019 zu dem Gesetzesantrag der Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vom 20.11.2019 im Bundesrat positioniert.

 

In den Jahren 2018 bis 2019 verfolgte die Kommission die fachpolitischen Debatten zum durch das BMFSFJ initiierten Reformprozess „Mitreden und Mitgestalten“ und erarbeitete in diesem Kontext die hier vorliegenden grundsätzlichen Positionierungen zur Kinder- und Jugendhilfe. Gleichzeitig werden auch Schlaglichter auf Themen geworfen, die über diese Fragestellungen hinaus eine besondere Relevanz für den DSGT haben.

 

Der DSGT geht davon aus, dass die Kinder- und Jugendhilfe ein wesentlicher Bestandteil des Sozialsystems der Bundesrepublik Deutschland ist und einen wichtigen Beitrag dazu leistet, „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1 Abs. 3, Nr. 4 SGB VIII). Die rechtlichen Grundlagen dazu sind im SGB VIII aus Sicht des DSGT in vielen Punkten gut geregelt.

 

Das SGB VIII formuliert grundlegende Werte und Ziele (wie Eigenverantwortung, Gemeinschaftsfähigkeit, Verantwortung der Familien, Schutz des Kindeswohls, Beteiligung und Kooperation) und fachliche Standards (zum Beispiel Hilfeplanverfahren und Jugendhilfeplanung, Eltern- und Familienarbeit), wie sie zur Zeit der Entstehung des Gesetzes erfassbar und zukunftsweisend waren. Sie wurden gemäß den gesellschaftlichen und fachlichen Entwicklungen mehrfach ergänzt und aktualisiert (etwa im Bereich des Kinderschutzes, der Kindertagesbetreuung und im Rahmen des Prozesses der Qualitätsentwicklung).

 

Trotz des in vielen Teilen überzeugenden Gesetzes nimmt der DSGT zu unterschiedlichen Themen und an vielen Stellen Mängel in der Umsetzung in die Praxis wahr. So ist nicht flächendeckend eine gelingende Kinder- und Jugendhilfe gewährleistet. Mangelnde finanzielle, personelle und fachliche Ressourcen bilden Hürden für die den Zielsetzungen des Gesetzes entsprechende Anwendung fachlicher Standards in der Praxis und drohen, das SGB VIII mit seiner sozialpädagogischen Intention auszuhebeln.

 

In diesem Kontext schätzt es der DSGT sehr kritisch ein, dass Fragen der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zumeist vorrangig als Fragen nach der Änderung der gesetzlichen Grundlagen gesehen werden. Der DSGT ist grundsätzlich der Auffassung, dass die Steuerung personenbezogener sozialer Dienstleistungen in der Balance von rechtlichen Regelungen und Professionalität der Akteure erfolgt. Gesetzliche Bestimmungen und fachliches Selbstverständnis müssen in der Praxis gut zusammenwirken.

 

Die Institutionen und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe benötigen hierfür ein gesichertes professionelles Selbstverständnis, welches sowohl als Basis für ihre Arbeit auf der Beziehungsebene mit den Familien als auch in der Kooperation mit Akteurinnen und Akteuren anderer Systeme Beziehungs- und Kooperationsarbeit dient. Neben klaren rechtlichen Regelungen erfordert die Arbeit einen fachlichen Gestaltungsfreiraum, um die individuellen kontextuellen Gegebenheiten von jungen Menschen und ihren Eltern entsprechend einbeziehen zu können. Um in jedem Einzelfall fachlich adäquat handeln zu können, braucht es neben kontinuierlicher Fortbildung und regelmäßigen Reflektionen auch den Mut zu unkonventionellen Schritten, um ein ganzheitliches Fallverstehen zu ermöglichen und einen Zugang zu Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu erhalten.

 

Ein eigenes starkes Profil der Sozialarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, verbunden mit einem selbstbewussten, professionellen Selbstverständnis bietet dabei den nötigen Rahmen, als gleichwertige Profession im interdisziplinären Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe anerkannt und hinreichend wirksam zu werden. Für die sozialen Berufe ist es von zentraler Bedeutung, in der bundesweiten Steuerung mehr Gewicht auf die Herausbildung eines belastbaren und von der Fachcommunity geteilten professionellen Selbstverständnisses zu legen. Andere Professionen profitieren dabei z.B. von Kammern oder dem „Gemeinsamen Bundesausschuss“. Dies muss nicht übernommen werden, aber es ist dringend nötig, die Professionalisierung der sozialen Arbeit in den Diskussionen um die Weiterentwicklung stärker zu berücksichtigen.

 

Die Kinder- und Jugendhilfe dient in erster Linie den Interessen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Der Umsetzung der Intention der UN-Kinderrechtskonvention, die im geltenden Kinder- und Jugendhilferecht durch die Regelung von Beteiligungsrechten in §8 Absatz 1, § 8a Absatz 1 und § 36 SGB VIII und den Bestimmungen im Bereich des Kinderschutzes in § 8 Absatz 3 sowie § 45 Absatz 2 Nummer 3 SGB VIII bereits angelegt ist, kommt vor diesem Hintergrund eine zentrale Bedeutung zu. Die Stärkung von Rechten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sollte in allen Bereichen der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ausgebaut werden.

 

Hervorzuheben ist, dass die Förderung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und eine Stärkung der Eltern zusammenwirken (vgl. § 1 Absatz 3 SGB VIII, § 1 KKG). Eltern und andere Sorgeberechtigte sind als Experten für ihre Kinder für die Kindesentwicklung verantwortlich. Sie sind deren wichtigste Bezugspersonen, damit ebenso Teil des Hilfesystems und folglich bei der Entwicklung und Umsetzung der Hilfen als fester Bestandteil der Hilfe einzubeziehen. Die Ziele und Ressourcen der Familien sind für die Entscheidung über den Hilfebedarf ausschlaggebend.

 

Der DSGT sieht keinen Anlass, diese Grundprinzipien zu verlassen. Gleichwohl fallen ihm in der Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe verschiedene grundsätzliche strukturelle Fragestellungen auf, die zu diskutieren wären.

 

Der DSGT schlägt vor, eine Grundsatzdebatte über den hohen Wert der Kinder- und Jugendhilfe als eigenständigem Wirkungsbereich im Dreieck Eltern-Kind-Staat zu führen. Da ihre Ausgestaltung in hohem Maße abhängig von fachpolitischen Entscheidungen ist, scheint es für eine Verbesserung ihrer Rahmenbedingungen notwendig, politische Entscheidungsträger darin zu bestärken, die Kinder- und Jugendhilfe als einen wichtigen Baustein in der kommunalen Infrastruktur zu sehen. Sie ist eine Investition in eine heterogene, friedliche und demokratische Gesellschaft von morgen.

 

 

I. Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe

 

Unzweifelhaft ist, dass die Kinder- und Jugendhilfe ein hoch leistungsfähiges System der Unterstützung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien darstellt. Das zeigt sich zum einen an der zunehmenden sozialpolitischen Bedeutung (zum Beispiel bezogen auf die Kindertagesbetreuung oder die Umsetzung des Kinderschutzes), zum anderen an dem deutlichen Zuwachs der für Leistungen der Jugendhilfe bereitgestellten öffentlichen Mittel (mehr als eine Verdopplung in den letzten 15 Jahre, was einer Steigerung von mehr als 5 % pro Jahr bedeutet). Zugleich ist es gelungen, die Kinder- und Jugendhilfe vom primären  Fürsorge- und Kinderschutz zu emanzipieren und zu einem Leistungsbereich für alle Familien auszugestalten.

 

Dies entbindet jedoch nicht von der Aufgabe, neben den Fragen fachlicher Weiterentwicklungen auch strukturelle Fragen zu erörtern und gegebenenfalls auch bezogen auf die Verfasstheit der Kinder-und Jugendhilfe Änderungen in Betracht zu ziehen, zumal die grundsätzlichen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe Ergebnis der Diskussionen über die Einführung des SGB VIII vor über 30 Jahren sind.

 

Insofern ist die Frage berechtigt: Ist die Kinder- und Jugendhilfe in einer guten Verfassung?

 

Die Wahrnehmung der Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 69 SGB VIII auf der örtlichen Ebene obliegt in der Regel den Landkreisen und kreisfreien Städten (in einzelnen Bundesländern auch kreisangehörigen Städten). Diese haben gemäß § 79 SGB VIII die Gesamtverantwortung, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlichen Strukturen zu schaffen und die entsprechenden Mittel bereitzustellen. Die (landesrechtliche) Qualifizierung der (örtlichen) Kinder- und Jugendhilfe als Aufgabe kommunaler Selbstverwaltung führt in der Praxis allerdings dazu, dass die Standards innerhalb der Jugendhilfe durchaus differieren. Dies betrifft sowohl die quantitative wie auch die qualitative Dimension. Der Vorteil dieser Struktur liegt darin, dass jeder örtliche Träger der Jugendhilfe die für seine regionalen Anforderungen entsprechende Infrastruktur entwickeln kann. Der Nachteil ist, dass alle grundsätzlichen Strukturentscheidungen politisch getragen werden müssen und die Qualität und Angebotsstruktur wohnortabhängig ist.

 

In Hinblick darauf, dass einzelne Leistungen nur mit objektiv-rechtlichen Verpflichtungen ausgestattet sind, wie z.B. die Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII), die Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) und die Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie (§ 16 SGB VIII), ist nachvollziehbar, dass sich die quantitative und qualitative Ausgestaltung der „Jugendhilfe-Landschaft“ – etwa wie viele Stellen an Schulsozialarbeit oder wie viele Familienzentren gefördert werden – im politischen Wettbewerb befindet und nicht selten auch fiskalischen Fragestellungen unterworfen ist. Eine Entwicklung von Bedarfskriterien für die örtliche Angebotsstruktur im Rahmen der Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII) findet häufig nicht statt.

 

Auch die Personalausstattung der Jugendämter obliegt – bis auf den Bereich der Amtsvormundschaften – der Entscheidungshoheit des örtlichen Trägers der Jugendhilfe. Gesetzlich sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe „nur“ zur Vorhaltung einer „dem Bedarf entsprechenden Zahl von Fachkräften“ verpflichtet (§ 79 Abs.3 SGB VIII). So gibt es beispielsweise keine klaren Regelungen, wie viele Sozialarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst oder im Bereich der Jugendhilfeplanung vorzuhalten sind.

 

In der Praxis entsteht nicht selten der Eindruck, dass im Rahmen der Entscheidungsfindung der Kommunen bei der Wahrnehmung ihrer Gesamtverantwortung neben den fachpolitischen Debatten auch die Frage der Finanzausstattung der Kommune eine Rolle spielt. Es existiert ein strukturelles Risiko, dass Kommunen mit herausfordernder Haushaltssituation sich auf die Aufgaben fokussieren, die durch individuelle Rechtsansprüche zwingend vorzuhalten sind. Die Garantie einer angemessenen kommunalen Finanzausstattung durch die Länder und das spezifische finanzverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip stellen offensichtlich nicht sicher, dass die bundesgesetzlich geregelte Gesamtverantwortung der örtlichen Träger tatsächlich in der intendierten Weise wahrgenommen wird.

 

Es wird deutlich, dass eine Debatte zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur die Weiterentwicklung einzelner Normen in den Blick nehmen darf. Vielmehr sollte ein Raum geschaffen werden, grundsätzliche strukturelle Fragen zu diskutieren. Im Folgenden sollen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit und über die in diesem Papier behandelten Themen hinaus - verschiedene weitere Themenbereiche benannt werden, die aus Sicht des DSGT noch zu diskutieren wären.

 

Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen

 

Die Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat sich nicht zuletzt wegen der Finanzierungsfragen (z.B. Kinderschutzgesetz und Gute-Kita-Gesetz, Finanzbeteiligung der Länder an der Kindertagesbetreuung) verändert. Es würde sich lohnen, eine offene Diskussion über die grundsätzlichen Verantwortungs- und Finanzierungsstrukturen zu führen. Dazu gehört auch die Diskussion über die Aufgaben der Länder als oberste Landesjugendbehörden und als überörtlicher Träger (in der Mehrzahl der Länder werden die Aufgaben bereits in den Ministerien wahrgenommen). Eine Rolle der kreisangehörigen Gemeinden ohne eigenes Jugendamt ist im SGB VIII nicht vorgesehen. Angesichts der Bedeutung, die kreisangehörige Gemeinden insbesondere in der Kindertagesbetreuung haben, sollte deren Rolle klargestellt werden.
 

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse

 

Bezogen auf die zentrale Stellung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die nicht infrage gestellt werden sollte, ist zu thematisieren, inwieweit bei der großen Spannbreite der Ausgestaltung der Jugendhilfe auf kommunaler Ebene die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse für Kinder, Jugendliche und ihre Familien gesichert wird bzw. werden kann. In diesem Zusammenhang sollte die Frage erörtert werden, was sinnvollerweise in jeder Kommune für sich entschieden werden kann und bei welchen Bereichen es nicht sinnvoll ist, dass die damit verbundenen Fragen 500 Mal in der Republik (in jedem Jugendamt) einzeln entschieden werden. Was sollte zusammengefasst und  auf Landes- oder auf Bundesebene geregelt werden? So wird z.B. die Kostenerstattung bei stationärer Hilfe bundesseitig geregelt, dagegen unterliegt die Kostenbeteiligung bei der Kindertagesbetreuung in vielen Ländern der freien Ausgestaltung auf örtlicher Ebene.
 

Finanzausstattung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe

 

Die Abhängigkeit der Wahrnehmung der Aufgaben nach dem SGB VIII von der Finanzausstattung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist ein zentrales strukturelles Problem, nicht nur unter dem Aspekt der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland. Die Frage nach einer größeren Einheitlichkeit des Leistungsniveaus auf örtlicher Ebene ist verbunden mit den Grundfragen nach den Finanzbeziehungen zwischen dem Bund, den Ländern und den Kommunen. Die in der Vergangenheit gefundenen Lösungen erscheinen eher punktuell als strukturell tragfähig. Damit verbunden sind Fragen nach den Bereichen, in denen eine Standardisierung sinnvoll ist (z.B. Personalausstattung des Jugendamtes im Allgemeinen Sozialdienst oder Versorgungsniveau in den Bereichen, in denen nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung besteht).
 

Aufgaben und die Rolle der freien Träger

 

In den letzten 30 Jahren haben sich auch die Aufgaben und die Rolle der freien Träger geändert. Wie verstehen sie sich selbst? Wie werden sie von den öffentlichen Trägern wahrgenommen? Und wie sehen sich die öffentlichen Träger? Das Kinder-und Jugendhilferecht sieht als Leitprinzip die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern vor (§ 4 SGB VIII). Dieses Prinzip bleibt auch nach der Realisierung einer inklusiven Lösung unangetastet.

 

Regelungen zu qualitätssichernden bzw. –verbessernden Verfahren

 

Die gesetzlichen Regelungen zu qualitätssichernden bzw. –verbessernden Verfahren (§§ 22a, 45, 74, 78a ff, 79, 79a SGB VIII) sind zum Teil nicht hinreichend aufeinander bezogen. Es müsste geprüft werden, ob eine Neugestaltung möglich ist.
 

Über diese eher strukturellen Fragen hinaus ist es sinnvoll, sowohl die besondere Rolle der Fachcommunity als auch das professionelle Selbstverständnis der Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu stärken. Fachfragen in der Jugendhilfe brauchen vorrangig andere Klärungsmechanismen als gesetzliche Regelungen. Das funktioniert nur, wenn es gelingt, der in Teilen festzustellende Beliebigkeit in fachlichen Fragen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik etwas entgegenzusetzen. Dies berührt auch das Verhältnis der Jugendhilfe zur Medizin und insbesondere zur Psychiatrie. Deren starke Resonanz in den öffentlichen Diskussionen zu Fragen kindlicher Fehlentwicklungen in der Folge von erzieherischen Problemen beruht nicht zuletzt auf der schwachen Professionalisierung in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Damit sind nicht nur Fragen nach der Ausbildung der Fachkräfte, sondern auch nach der wissenschaftlichen Fundierung bzw. nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik verbunden.

 

 

 

II. Kinderrechte und die besondere Bedeutung des Rechts auf Beteiligung

 

Kinder und Jugendliche sind Träger von Grundrechten, ihnen wird eine Subjektstellung zugeordnet und sie verfügen über einen eigenen, nicht vom Elternrecht abgeleiteten Anspruch auf den Schutz des Staates.

An der Spitze des Gesetzestextes im SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfegesetz steht das Recht des jungen Menschen „auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs.1).

Die Positionierung des Rechts des jungen Menschen an dieser herausgehobenen Stelle erfolgt wohlüberlegt im Hinblick darauf, dass Erziehung und Förderung der Entwicklung und damit auch die Tätigkeit der Kinder- und Jugendhilfe zuallererst dem Kind und Jugendlichen selbst sowie der Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit dienen – nicht dem Interesse und der Selbstverwirklichung der Eltern oder der Pflegeeltern, aber auch nicht dem Interesse des Staates.

 

In § 8 „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ wird geregelt, dass Kinder und Jugendliche

 

  • das Recht haben, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden (Abs. 2),
  • Anspruch darauf haben, auch ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten beraten zu werden, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde (Abs. 3),
  • in geeigneter Weise auf die ihnen zustehenden Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen sind (Abs. 1 Satz 2),
  • entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind (Abs. 1 Satz 1).

Die Beteiligung hat zentrale Bedeutung und nimmt eine Schlüsselstellung ein. Es geht bei allen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe um die unmittelbare oder mittelbare Wahrnehmung der Interessen junger Menschen; Kinder und Jugendliche sind jedoch nur hinsichtlich bestimmter Leistungen materiell berechtigte und selbst dann nur begrenzt handlungsfähige Personen. Formen und inhaltliche Ausgestaltung der Beteiligung müssen dem Alter und dem Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen Rechnung tragen.

 

Die Verpflichtung zur Beteiligung wird in etlichen Einzelvorschriften – etwa zur Hilfeplanung (§ 36), zur Kindeswohlklärung (§ 8a), zur Trennungs- und Scheidungsberatung (§ 17), bei der Inobhutnahme (§ 42) – jeweils kontextbezogen eingefordert. Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben erfordert auf der Seite der hiermit befassten sozialpädagogischen Fachkräfte vielfältige Kompetenzen. Beispielsweise müssen die Fachkräfte berücksichtigten, dass die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bei der Trennungs- und Scheidungsberatung ihrem Wohl nicht entgegenstehen darf und dass bei der Tatbestandsermittlung zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a sich der Hausbesuch als eine Form der Beteiligung von Kindern an der Gefährdungseinschätzung interpretieren lässt.

 

Die Vielfalt der fachlichen Herausforderungen bei der Umsetzung von Beteiligung umfasst:

 

  • die Entwicklung und Erprobung solcher methodischer Ansätze, die die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen  gemäß ihren Bedürfnissen und Interessen in altersgerechter Art und Weise anbahnt und gestaltet
  • die Befähigung von Kindern und Jugendlichen, ihre Rechte zu erkennen und wahrzunehmen
  • die kommunikative Begleitung dieser Abläufe, um die hinterliegenden Wirkkräfte erfahr- und nutzbar zu machen
  • die fachlich-wissenschaftliche Begleitung und Auswertung dieser Prozesse im Verständnis eines fortlaufenden Qualitätsmanagements

 

Die Schlüsselstellung des Rechts auf Beteiligung ist auch anschlussfähig an die UN-Kinderrechtskonvention, die diesem Recht ebenfalls eine Zentralstellung zuordnet.

Denn Beteiligung erfordert von den Fachkräften die Hinwendung zu einer konkreten Thematik. Sie ist nur möglich durch die Einbindung in wechselseitige Kommunikations- und Interaktionsprozesse; sie erfordert die Selbstreflexion der Fachkräfte hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse und Ziele sowie die Befähigung zur Perspektivenübernahme und Empathie hinsichtlich der Bedürfnisse und Ziele des/der Anderen.

In § 45 SGB VIII „Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung“ ist durch das BKiSchG im Jahr 2012 in Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 die Mindestvoraussetzung aufgenommen worden, dass die Erlaubniserteilung u.a. dann zu erfolgen hat, wenn „zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung findet“.

Auch in dieser Formulierung wird die Beteiligung in ihrer übergreifenden Bedeutung zur Repräsentation der Kinderrechte genannt. Jedoch sollte man einen Schritt weitergehen und die jeweils mit angesprochenen Rechte gemäß der UN-Kinderrechtskonvention benennen.

 

 

Der DSGT schlägt vor:

 

  • In der Gesetzesformulierung des SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfegesetz sollte eine konkret-inhaltliche Aufzählung von zentralen Kinderrechten enthalten sein, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Schutz, das Recht auf Kindeswohl, das Recht auf Förderung und Bildung, das Recht auf Selbstwirksamkeit. In § 1 könnte in Anknüpfung an die Tradition der Positionierung des Rechts der jungen Menschen auf Erziehung und Entwicklung ihrer Persönlichkeit  an dieser exponierten  Stelle – etwa zwischen dem 2. und dem 3. Absatz - eine entsprechende Einfügung vorgenommen werden.

 

  • Im § 8 Abs. 2 sollte als Ergänzung zum Recht des Kindes und Jugendlichen, sich in allen Angelegenheiten seiner Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden, der weiterführende Hinweis aufgenommen werden, dass als Resultat dieser Initiative des Kindes/Jugendlichen unter Einbindung der Personensorgeberechtigten ein konkretes Unterstützungs- und Hilfeangebot aus dem Spektrum der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe an das Kind/den Jugendlichen und seine Personensorgeberechtigten hervorgehen kann.

 

  • Der Beratungsanspruch für Kinder und Jugendliche gemäß § 8 Abs. 3 Satz 1 sollte nicht hinsichtlich bestimmter Voraussetzungen eingeschränkt werden, sondern als ein allgemeiner Anspruch auf Beratung gesetzlich festgelegt werden, der nicht auf Not- und Krisensituationen beschränkt ist.

 

 

 

III. Fachlich-strukturelle Grundlagen

 

1. Inklusive und bedarfsgerechte Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe

 

Nach Ansicht des DSGT muss die Reform der Kinder- und Jugendhilfe sicherstellen, dass allen anspruchsberechtigten Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern und anderen Sorgeberechtigten tatsächliche Zugänge zu bedarfsgerechten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gewährt werden.

Im Rahmen einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe unter dem Dach des SGB VIII sind dabei die Rechte aller Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und es ist die Ausgrenzung junger Menschen mit Behinderung zu verhindern. Deren Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft trägt wesentlich zur Entwicklung zu einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bei.

Außerdem sind die Sicherung und der Ausbau individueller Rechtsansprüche auf geeignete Unterstützung für junge Menschen bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte von Eltern und anderen Sorgeberechtigten vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention zu bedenken.

 

Umsetzung der UN-BRK in der Kinder- und Jugendhilfe

 

Nach der aktuellen Rechtslage sind bzgl. der Leistungen für junge Menschen mit (drohender) Behinderung unterschiedliche Leistungssysteme zuständig. Diese Aufteilung auf die Leistungen der Eingliederungshilfe einerseits und die Kinder- und Jugendhilfe andererseits führt in der Praxis nicht nur zu Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten, sondern in der Folge auch zu Streitigkeiten bezüglich der Zuständigkeit der Leistungsträger. Erstrebenswert wäre es stattdessen, dass unterschiedliche Bedarfe im Rahmen einer Gesamtbetrachtung festgestellt werden und Hilfen systemisch erfolgen können. Sichergestellt werden muss dabei, dass alle jungen Menschen Zugang zu den ihnen zustehenden Leistungen haben. Insofern stellen eine programmatische Verankerung des inklusiven Ansatzes und eine entsprechende Länderöffnungsklausel im SGB VIII in Bezug auf die Gewährung von Leistungen  erste Schritte dar zur langfristig angestrebten bundesweiten Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe, unabhängig von der Art ihrer Behinderung.

 

Der DSGT setzt sich dafür ein:

 

  • den Begriff der Behinderung, der durch Art. 1 der UN-Behindertenrechtkonvention und § 2 Abs. 1 SGB IX definiert wird, sowie den Begriff der Teilhabeleistungen, den § 4 SGB IX normiert, bereits an zentralen Stellen in den programmatischen Vorschriften des SGB VIII aufzugreifen,

 

  • in § 10 SGB VIII zu regeln, Landesrecht solle bestimmen können, dass Leistungen der Eingliederungshilfe auch jungen Menschen mit (drohender) körperlicher und geistiger Behinderung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewährt werden,

 

  • Leistungen für junge Menschen mit (drohender) Behinderung mit den Leistungen für Eltern und andere Sorgeberechtigte so zu verknüpfen, dass diese in ihrer Funktion gleichermaßen auf die Förderung der Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit des jungen Menschen und auf seine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft abzielen.

 

 

 

 

2. Sozialraum und Sozialraumorientierung

 

Die fachpolitische Debatte zur Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe wird in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – und mitunter sich veränderndem Vokabular – seit vielen Jahren geführt. Im Kern geht es in vielen Konzepten darum, Lebenswelten so zu gestalten, dass Familien in schwierigen Lebenslagen besser mit den sich ihnen stellenden Herausforderungen umgehen können. Insbesondere seit 2011 wird der Diskurs zur Sozialraumorientierung im Kontext der „Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ vor allem unter der Fragestellung geführt, ob und wie ambulante Hilfen zur Erziehung niedrigschwellig ohne Hilfeplanverfahren für Familien zugänglich gestaltet und wie Infrastrukturleistungen und Regelangebote für Prävention genutzt werden können.  Das SGB VIII kennt ein breites Spektrum niedrigschwelliger einzelfallunabhängiger Leistungen sowie einzelfallbezogener Leistungen, die unmittelbar in Anspruch genommen werden können. Einigkeit besteht, dass diese niedrigschwelligen Angebote im Sozialraum helfen, die Familien besser zu erreichen und die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe somit für die Kinder, Jugendlichen und für Familien zugänglicher zu machen. Wie die Angebote im Sozialraum gestärkt werden können, wird in der Kinder- und Jugendhilfe allerdings kontrovers diskutiert.

 

Ein einheitliches Begriffsverständnis zu zentralen Elementen innerhalb des Diskurses zur Sozialraumorientierung existiert erstaunlicherweise (noch) nicht. Dies wäre für eine intensive Erörterung der Herausforderungen und der Gelingensbedingungen jedoch erforderlich und sollte angegangen werden. Nach Ansicht des DSGT sollte  dies wie folgt ausgestaltet werden:

 

Niedrigschwellige Angebote der Kinder und Jugendhilfe:


Neben den infrastrukturellen Angeboten der Kinder und Jugendhilfe, die – wie die Angebote der Kinder und Jugendarbeit, der Kindertagesbetreuung und der Eltern- und Familienbildung - nicht einzelfallbezogen gewährt werden, sondern sich an alle jungen Menschen/Eltern wenden, ist im Rahmen der Sozialraumorientierung der niedrigschwellige Zugang zu einzelfallbezogenen Hilfen zu gewährleisten, zu denen insbesondere die Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII), aber auch die soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII) gehören.“

 

Sozialraum


Unter Sozialraum versteht der DSGT eine Integration von räumlicher Umgebung mit dem sozialen Handeln/ der Interaktion der Menschen. So ist mit dem Sozialraum nicht nur ein sozialgeografisch begrenzter Raum wie z. B. ein Stadtteil oder eine Region gemeint. Er ist vielmehr auch sozial gestalteter Raum: der  Lebensraum, der soziale Mikrokosmos, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungsprozesse manifestieren. Der soziale Raum definiert sich ständig neu, von den virtuellen Räumen hin zur gelebten Nachbarschaft, von der globalen Dimension hin zur überschaubaren Lebenswelt.


Aus Sicht des DSGT ist hier insbesondere darauf hinzuweisen, dass dem Sozialraumbegriff die inklusive Gestaltung immanent ist. Dies setzt für die entsprechenden jugendhilfeplanerischen Prozesse eine inklusive Ausstattung und einen weiten Inklusionsbegriff voraus.

 

Sozialraumorientierung

 

Aus Sicht des DSGT ist unter Sozialraumorientierung ein Arbeitsprinzip der kleinräumigen Neujustierung fachlichen Handelns zur Verbesserung der Angebote der Sozialen Arbeit zu verstehen. Im Mittelpunkt des professionellen Handelns stehen dabei die Handlungsmöglichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Familien, so dass Sozialraumorientierung auch die Ermöglichung und Gestaltung von Lern- und Erfahrungsfeldern für subjektive Aneignungs-, Lern- und Partizipationsprozesse für Kinder und Jugendliche bedeutet. Sozialraumorientierung ist damit als Fachkonzept zu verstehen, welches bei stringenter Anwendung im Rahmen der Jugendhilfeplanung infrastrukturelle, organisationale und finanzierungstechnische Folgen hat. Eine Reduzierung der Sozialraumorientierung auf einen dieser Aspekte würde dabei zu kurz greifen. Infrastrukturelle Leistungen können und dürfen die individuellen Rechtsansprüche nicht ersetzen. Vielmehr sind sie häufig deren Grundlage, ergänzen diese oder dienen ihrer Erfüllung. Durch ein gutes Zusammenspiel von individuellen rechtsanspruchserfüllenden Hilfen und infrastrukturellen Leistungen kann so eine Nachhaltigkeit individueller Hilfen abgesichert werden, ohne dass diese in Frage gestellt werden. Auch soll so Ausgrenzung (z.B. sozialräumliche Segregation, Gentrifizierung) vermieden und die ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen (z.B. Bildung, Einkommen, Gesundheit) abgemildert werden.

Das Prinzip Sozialraumorientierung beschränkt sich dem Grunde nach nicht nur auf die Kinder- und Jugendhilfe. Hier sind insbesondere zu nennen: Städtebauförderung, öffentlicher Gesundheitsdienst, andere Sozialleistungen, Schule.

 

Durch gut abgestimmte Planungsprozesse, die junge Menschen und ihre Familien mit ihren Vorstellungen bereits in dieser Phase angemessen beteiligen, könnte besser ermöglicht werden, Konzeptionen und Zugänge einzelner Hilfen flexibler auf den Willen und die Bedarfe der Kinder, Jugendlichen und Familien auszurichten. Grundsätzlich sollte die Inanspruchnahme von Angeboten durchlässiger ausgestaltet werden, um so der bestehenden „Versäulung“ einzelnen Leistungsbereichen zugeordneter Hilfen und Unterstützungsangebote (Hilfen zur Erziehung, Familienbildung, Familienhilfe bei psychischen Erkrankungen von Eltern, Sozialarbeit an Schule, etc.) entgegentreten zu können. Dadurch wäre auch die Chance deutlich erhöht, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu stärken. Im Mittelpunkt der übergreifenden Planung sollten der junge Mensch und seine Familie stehen, nicht bestehende Kompetenzen der verschiedenen Ressorts.

 

Um eine wirksame Sozialraumorientierung zu gewährleisten, ist eine angemessene Personalausstattung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Träger der freien Jugendhilfe sicherzustellen. Dies betrifft sowohl die erforderlichen Strukturen in den Allgemeinen Sozialen Diensten als auch im Bereich der Jugendhilfeplanung. Für eine nachhaltige Ausgestaltung sozialraumorientierter Jugendhilfe ist zudem eine quantitativ und qualitativ ausreichende Personalausstattung bei den Trägern von Angeboten und Diensten der Jugendhilfe erforderlich. Träger der freien Jugendhilfe benötigen dementsprechend eine verbindliche Finanzierung, um Kontinuität und Verstetigung zu gewährleisten.

 

Der DSGT empfiehlt:

 

  • den Auf- und Ausbau einer sozialräumlichen fallunspezifischen sozialen Arbeit zu unterstützen, die die Ressourcen im Sozialraum berücksichtigt und für die Lösung individueller Problemlagen verfügbar macht, ohne dass sich dies nur auf Hilfen im Vorfeld und zur Vermeidung kostenintensiver Einzelfallhilfen beschränkt,

 

  • eine leistungs- und systemübergreifende Planung in den Blick zu nehmen,

 

  • die sozialräumlichen Angebote inklusiv auszugestalten, wobei ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde zu legen ist,

 

  • im Planungsprozess die jungen Menschen und ihre Familien zu beteiligen,

 

  • eine angemessene Personalausstattung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Träger der freien Jugendhilfe sicherzustellen.

 

 

 

 

IV. Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen nach dem SGB VIII

 

Im folgenden Kapitel widmet sich das Papier einigen ausgewählten Themen der Hilfen zur Erziehung. Zunächst stehen die Eltern von Kindern und Jugendlichen im Fokus, die außerhalb ihres Elternhauses untergebracht sind. Der Arbeit mit den Eltern kommt im Rahmen einer stationären Hilfe zur Erziehung herausragende Bedeutung zu. In der Praxis gibt es allerdings deutliche Defizite bei der Umsetzung.

 

Wie man die ambulanten Hilfen stärken kann, indem man für sie den Abschluss von Vereinbarungen über Leistung, Qualität und Kosten gesetzlich verankert, wird anschließend diskutiert.

 

1. Eltern und ihre Einbindung in die stationären Hilfen zur Erziehung

 

1.1 Fremdunterbringung und Elternarbeit

 

Rechtliche Vorgaben

 

Den Anlass für eine - einvernehmliche oder gegebenenfalls durch eine familiengerichtliche Entscheidung veranlasste - Trennung des Kindes oder Jugendlichen von seinen Eltern bilden die geringen Potenziale und Ressourcen der Eltern, die eine Unterstützung des Familiensystems ungeeignet erscheinen lassen, bzw. eine Kindeswohlgefährdung, zu deren Abwendung die Eltern nicht bereit oder nicht in der Lage sind. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Ausgangslage (Art. 6 GG), die dem Kind sowohl ein Grundrecht auf Gewährleistung der elterlichen Pflege und Erziehung als auch ein Grundrecht auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl zuweist, ist der staatliche Schutzauftrag (Wächteramt) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Es sind also Eingriffe in die elterliche Erziehungsverantwortung nur in den Fällen zu legitimieren, in denen eine „öffentliche Hilfe“ (§ 1666a BGB) nicht geeignet ist, eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.

 

Im anderen Fall – und dies ist die Ausgangslage für die Hilfe zur Erziehung – ist der staatliche Schutzauftrag darauf gerichtet, die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie so weit zu verbessern, dass die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung wieder ohne öffentliche Hilfe nachkommen können. Erscheint also wegen der geringen Ressourcen und Potenziale der Eltern eine Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich, so ist die Hilfe zur Erziehung primär auf eine Rückkehrperspektive des Kindes oder Jugendlichen gerichtet. Diese wiederum ist aber nicht allein dadurch realisierbar, dass das Kind oder der Jugendliche an dem neuen Lebensort gefördert wird, sondern setzt zur Veränderung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie eine intensive Arbeit mit den Eltern voraus. Das SGB VIII trägt diesen Vorgaben dadurch Rechnung, dass in § 27 der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung geregelt wird, die Elternarbeit als zentrales Element der Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie (erst) in § 37 SGB VIII aufgegriffen wird.

 

Elternarbeit als unabdingbarer Bestandteil der Hilfe zur Erziehung

 

Bei der praktischen Umsetzung dieser rechtlichen Vorgaben sind vielerorts erhebliche Defizite erkennbar. Das Hauptaugenmerk der Hilfegewährung wird auf den jungen Menschen gelegt, ohne zugleich Unterstützung für die Eltern anzubieten. Damit ist die Rückkehroption aus einer stationären Hilfe aber von vornherein infrage gestellt. In Teilen der Praxis wird die Arbeit mit den Eltern nicht ausdrücklich als Teil des umfassenden Hilfeauftrags identifiziert und mit entsprechenden Ressourcen (beim öffentlichen oder einem freien Träger) ausgestattet. Entsprechende Empfehlungen von Hilfeplanbeteiligten bis hin zu Anträgen der Personensorgeberechtigten werden mit dem Hinweis, es würde sich sonst um eine „Doppelhilfe“, also eine zusätzliche Leistung neben der Gewährung nach § 27 i.V.m. § 33 oder § 34 SGB VIII handeln, mitunter abgelehnt.

 

Schon der Begriff „stationäre Hilfe“ verleugnet, dass die Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen außerhalb des Elternhauses nur ein Teil des Hilfekonzepts ist, der in einem untrennbaren Zusammenhang mit der „Hilfe für die Eltern“ zu sehen ist. Das staatliche Wächteramt hat primär zum Ziel, die Eltern–Kind/Jugendlicher–Beziehung zu verbessern und die Eltern (wieder) zu befähigen, ihrer Erziehungsverantwortung gerecht zu werden. Das bedeutet, dass die Eltern als Experten für die Entwicklung ihrer Kinder auch dann Verantwortung tragen, wenn sie von ihnen räumlich getrennt sind bzw. die Hilfe (primär) darauf gerichtet sein muss, dass diese Verantwortung wieder auf sie zurück übertragen wird. Die Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie ist deshalb nur ein Element in einem umfassenden Hilfeprozess, der sich sowohl an die Eltern als auch an das Kind oder den Jugendlichen richtet. Deshalb sind die Eltern nicht nur in den Hilfeprozess einzubeziehen, sondern es sind alle fachlichen und rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, damit sie diesen Erziehungsauftrag schrittweise wieder eigenverantwortlich wahrnehmen können. Zu dieser Verantwortung von Eltern gehört in Einzelfällen aber auch, reflektiert zu entscheiden, dass ein Kind an einem anderen Lebensort gut aufwachsen soll. Elternarbeit ist Teil der Hilfe zur Erziehung, die mit einer Fremdunterbringung des Kindes oder Jugendlichen verbunden ist. Sie ist keine optionale Ergänzung, vielmehr ist die stationäre Hilfe nur in enger Verknüpfung mit intensiver Elternarbeit rechtlich zulässig und fachlich verantwortbar.

 

Der DSGT setzt sich dafür ein, das rechtssystematische Konzept der Hilfe zur Erziehung, die mit einer Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses verbunden ist, zu überarbeiten.

 

Der DSGT fordert:

 

  • die Deckung des „erzieherischen Bedarfs“ der Eltern durch ggf. intensive pädagogische und therapeutische Leistungen für Eltern als zentrales Thema im Leistungstatbestand der Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) klarstellend so auszugestalten, dass die Unterstützung der Herkunftseltern ein primärer und unverzichtbarer Bestandteil der Hilfe zur Erziehung ist,

 

  • auch die Arbeit mit Eltern, die nicht (mehr) sorgeberechtigt sind, ausdrücklich in das Konzept der Hilfe zur Erziehung aufzunehmen.

 

1.2 Forschung zur Situation von Kindern/ Jugendlichen in Fremdunterbringung und ihrer Eltern

 

Aus Sicht des DSGT ist die Erforschung der Situation von stationär untergebrachten Kindern und Jugendlichen sowie ihrer Eltern weiterhin unzureichend. Das betrifft sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen als auch die individuelle Situation der Hilfeempfänger. Die damit verbundenen Forderungen hat der DSGT schon in seinem Positionspapier aus dem Jahr 2018 deutlich gemacht, die nachfolgend wiederholt und stellenweise ergänzt werden.

 

Die Bundesregierung sollte gezielte Forschungsvorhaben fördern, die ihren Schwerpunkt neben der Situation der Kinder/ Jugendlichen stärker auf die Situation der Herkunftseltern fokussieren. Es kann auch sinnvoll sein, die psychischen Dynamiken und Mechanismen im Rahmen einer Fremdunterbringung aus der Perspektive aller Beteiligten im Rahmen eines umfassenden Kinder- und Jugendberichtes zu beleuchten.

 

Neben der rechtlichen Struktur ist es innerhalb der Jugendhilfe auch fachlicher Standard, Eltern als natürliche Inhaber der Erziehungsverantwortung für ihre Kinder zu verstehen und davon auszugehen, dass die Hintergründe für das erzieherische Handeln oder bestimmte Verhaltensmuster der Eltern, die eine dem Wohl des Kindes geeignete Erziehung nicht, nicht mehr oder vorübergehend nicht gewährleisten, unterschiedlich begründet sind. Auch Verhalten, welches Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigen kann, ist als bestmöglicher Bewältigungsversuch einer individuellen und komplexen Herausforderung der Eltern zu verstehen und erfordert qualifiziertes Fallverstehen und annehmende Beziehungsarbeit, ohne dabei die Rechte und Bedürfnisse des Kindes außer Acht zu lassen.

 

Der DSGT setzt sich dafür ein, dass folgende Themen interdisziplinär und im europäischen Vergleich erforscht werden:

 

  • Wie können Eltern in den Stand gesetzt werden, trotz hoher Belastungen Problem- und Konfliktlösungsmuster zu entwickeln und dauerhaft aufrecht zu erhalten, die eine kindeswohlorientierte Erziehung ermöglichen?

 

  • Wie wirken sich die Interventionen der Jugendhilfe auf das Erleben von Selbstwirksamkeit und Kompetenz der Eltern aus?

 

  • Mit welcher sozialpädagogischen Methodik können Fachkräfte der Jugendhilfe Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung so unterstützen, dass diese sich als Experten für die Interessen und Bedürfnisse der Kinder verstehen und sie (die Eltern) sich durch die Unterstützung nicht entwertet fühlen?

 

  • Welche Veränderungen braucht die Jugendhilfe, um die Eltern als Verantwortliche und Beteiligte „auf Augenhöhe“ zu gewinnen?

 

Eine Unterbringung von Kindern/ Jugendlichen in einer Pflegefamilie oder einer stationären Einrichtung stellt in diesem Kontext an Herkunftseltern, Pflegeeltern oder Verantwortliche der stationären Einrichtungen und an die untergebrachten Kinder besondere Herausforderungen, die Gegenstand von Forschung sein müssen.

 

Viele Kinder befinden sich ab dem Zeitpunkt ihrer Unterbringung in einer permanenten inneren Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, die auch für die Identitätsentwicklung eine wesentliche Rolle spielt. Wichtig für die pädagogische Arbeit wäre herauszufinden, welche emotionalen Mechanismen hier konkret wirksam sind.

 

Auch für die verantwortlichen Erziehungspersonen in den Einrichtungen und in Pflegefamilien stellt die Situation einer Fremdunterbringung eine besondere Herausforderung dar. Erfolgt hier keine angemessene Begleitung und Beratung der erwachsenen Verantwortungsträger (Eltern, Sorgeberechtigte, Pflegeeltern, Bezugserzieher und -erzieherinnen in den stationären Einrichtungen) durch das Jugendamt, führt diese Konstellation nicht selten zu Auseinandersetzungen über die „Deutungshoheit“, was für die Kinder am besten sei. Dabei stellt die Gewährleistung und die Durchführung von Umgangskontakten eine zentrale Herausforderung dar.

 

Der DSGT setzt sich dafür ein, dass folgende weitere Themen interdisziplinär und im europäischen Vergleich erforscht werden:

 

  • Wie kann es Kindern/ Jugendlichen in Fremdunterbringung erleichtert werden, eine sichere Ich-Identität zu entwickeln? Welche Rolle spielt dabei die Herkunftsfamilie?

 

  • Wie kann Kindern/ Jugendlichen in Fremdunterbringung die Bewältigung von Loyalitätskonflikten erleichtert werden? Welche Unterschiede gibt es hier bei Pflegefamilien und stationären Einrichtungen und wie wirken sich diese aus?

 

  • Welche Beiträge können Pflegefamilien/ stationärer Einrichtungen dazu leisten? Was brauchen sie dazu, insbesondere um fremduntergebrachten Kindern/ Jugendlichen eine positive Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie zu ermöglichen?

 

  • Wie können Besuche und andere Umgangskontakte der Herkunftseltern gestaltet werden, damit sie für die kindliche Entwicklung und die Stärkung der Verantwortung der Eltern positive Impulse setzen?

 

  • Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie durch das Jugendamt kindeswohlorientiert gesteuert und moderiert werden?

 

2. Ambulante Hilfen

 

Ambulante Hilfen leisten sowohl im Bereich der Hilfen zur Erziehung als auch im Bereich der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII einen zentralen Beitrag im Rahmen der Angebote und Dienste für Kinder, Jugendliche und Familien. In der Fachöffentlichkeit wird der Wert ambulanter Hilfen immer wieder betont. Auch in der Entwicklung der Fallzahlen wird deutlich, dass diese Hilfen eine kontinuierlich zunehmende Bedeutung haben.

 

Ein Blick auf die Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte, aber auch auf die Bedingungen der Organisation durch (zu einem Großteil) freie Träger der Jugendhilfe zeigt, dass sich der Wert der ambulanten Hilfen auch strukturell deutlich machen sollte.

 

Um der zentralen Bedeutung ambulanter Hilfen Ausdruck zu verleihen, sollte das SGB VIII in § 7 eine Legaldefinition treffen, die das Wesen ambulanter Hilfen näher beschreibt. Eine Formulierung könnte so getroffen werden: "Ambulante Hilfen im Sinne dieser Vorschrift sind vom Einrichtungsbegriff des § (…) SGB VIII (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel V.4. „Definition des Einrichtungsbegriffes“) nicht erfasste Leistungen der Erziehungs- und Eingliederungshilfe, die sowohl aufsuchend als auch begleitend und in den Räumen einer Beratungsstelle angeboten werden."

 

Die ambulanten Hilfen sollten zudem vollständig in das Vereinbarungssystem des SGB VIII einbezogen und Leistungs-, Qualitätsentwicklungs- und Entgeltvereinbarungen auch für die ambulanten Hilfen zwingend abgeschlossen werden müssen. Dadurch würde zum einen die Finanzierung ambulanter Leistungen im Interesse der Leistungserbringer besser abgesichert und zum anderen die Steuerungsverantwortung der öffentlichen Jugendhilfe gestärkt werden.

 

Somit würde ein neuer § 78 a SGB VIII "Anwendungsbereich der Entgeltfinanzierung" in Konsequenz der gesetzlichen Definition der Dienste konsequenterweise nur aus folgendem Absatz bestehen: "Die Regelungen der §§ 78 b bis g gelten für die Erbringung von Leistungen in stationären und teilstationären Einrichtungen sowie von Diensten im Sinne von § 7." Eine Einordnung der Vereinbarungen im ambulanten Bereich in §§ 78a ff. SGB VIII hätte zur Folge, dass Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen über ambulante Hilfen schiedsstellenfähig (§ 78 g SGB VIII) wären und damit die Vertragsparteien auch für diese Leistungsarten in den Genuss der Unterstützung dieses Vertragshilfeorganes kämen.

 

Weiterhin stellt der DSGT fest, dass der bestehende (offene) Leistungskatalog der ambulanten Hilfen zur Erziehung nicht in jedem Fall die Bedarfe inklusiv ausgerichteter ambulanter Hilfen widerspiegelt. Der Leistungskatalog sollte kritisch reflektiert und entsprechend modifiziert werden.

 

Der DSGT fordert:

 

  • eine Legaldefinition der ambulanten Hilfen in § 7,
     
  • den zwingenden Abschluss von Leistungs-, Qualitätsentwicklungs- und Entgeltvereinbarungen für ambulante Hilfen
     
  • die Erstreckung der Zuständigkeit der Schiedsstelle auf ambulante Hilfen.

 

V. Voraussetzungen für die Erlaubnis zum Betrieb einer Einrichtung

 

Der Betrieb einer Einrichtung, in der Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden, bedarf einer Erlaubnis. Ziel ist es, alle Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Regelungen finden sich u.a. in den §§ 45 ff. SGB VIII. Die Aufsicht und Prüfungen durch staatliche Stellen, die die Mindestanforderungen für diesen Schutz sicherstellen sollen, sind unverzichtbare Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe. Unsicherheiten in der Praxis, die angemessene Beachtung der notwendigen Hierarchie zwischen Prüfenden und zu Prüfenden und einzelne Skandale erfordern die Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen.

 

Die Diskussionen zur SGB VIII-Reform haben nach Ansicht des DSGT bisher das Ziel verfehlt, durch klare Regelungen die Aufsicht als Aufgabe der überörtlichen Träger (Landesjugendämter) zu stärken und die Einsicht in die Einrichtungen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe (§ 4 SGB VIII) zu verbessern.

 

Der DSGT schlägt unabhängig vom gesetzgeberischen Reformbedarf vor:

 

  • die personellen Ressourcen mit den zukünftigen Aufgaben der Aufsicht abzugleichen, und zwar unter Beachtung einer angemessenen räumlichen Nähe der Aufsicht zur Einrichtung.

1. Betriebserlaubnis und Aufsicht zwischen Beratung und Kontrolle

 

Die Rolle des überörtlichen Jugendhilfeträgers bei der Aufgabenwahrnehmung (Erteilung der Betriebserlaubnis und Aufsicht) nach §§ 45 ff. SGB VIII ist in der Praxis mitunter unklar, da einerseits die Beratungsfunktion, andererseits die Kontrollfunktion erfüllt werden soll. Dabei ist die Beratung im Rahmen der §§ 45 ff. SGB VIII nicht als ausdrückliche Aufgabe der Aufsichtsbehörde genannt. Mit Blick auf § 14 Abs.1 SGB I wird man aber wohl die in § 85 Abs.2 Nr. 7 SGB VIII genannte Aufgabe als die hierfür spezielle Rechtsgrundlage für den überörtlichen Träger der Jugendhilfe ansehen dürfen. Dabei ist zwischen dem ggfs. folgenlosen Beratungsanspruch der Träger von Einrichtungen gegenüber dem überörtlichen Träger (Beratungsfunktion nach § 85 Abs. 2 Nr.7 SGB VIII) und der innerhalb des abgestuften Prüfverfahrens ergehenden folgenreichen Beratungspflicht der für die Aufsicht zuständigen Behörde zu unterscheiden (Kontrollfunktion nach § 85 Abs.2 Nr. 6 i.V.m. § 45 Abs.6 S. 1 SGB VIII). Diese Beratung dient indes der Beseitigung aufgetretener Mängel im Vorfeld der Erteilung von Auflagen. Die Unterscheidung dieser Funktionen wird dadurch unterstrichen, dass nach § 85 Abs.3 SGB VIII auch der örtliche Träger nur die Beratungsfunktion nach § 85 Abs.2 Nr.7 SGB VIII wahrnehmen kann.

 

Der DSGT empfiehlt:

 

  • zu prüfen, ob diese Unterscheidung einer besonderen gesetzlichen Klarstellung bedarf.

2. Gewährleistung des Kindeswohls

 

Entscheidendes Tatbestandsmerkmal für die Erlaubniserteilung und auch für nachträglichen Aufsichtsmaßnahmen des überörtlichen Trägers ist die Gewährleistung des Wohls der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung. Unklarheiten bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl bzw. Kindeswohlgefährdung im Bereich der §§ 45 ff. SGB VIII führen zu Unsicherheiten seitens der Verantwortlichen der Aufsichtsbehörden darüber, zu welchem Zeitpunkt ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) des freien Trägers erforderlich ist. Dies kann für betroffene Kinder und Jugendliche vor allem dann schwerwiegende Folgen haben, wenn ein notwendiger Eingriff durch die Aufsichtsbehörde aus dieser Unsicherheit heraus unterbleibt bzw. verspätet erfolgt. Allerdings ist auch zu beachten, dass ein möglicher Widerruf der Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung eine Gefahr für die betreuten jungen Menschen in der Einrichtung sein kann.

 

Eine in Praxis und Rechtsprechung erfolgte Bezugnahme auf § 1666 BGB wird oft dahingehend missverstanden, dass die Voraussetzungen insofern erfüllt sein müssten. Im familienrechtlichen Kontext, im Zusammenhang mit einem Eingriff in Elternrechte, geht es vor allem um das einzelne Kind. Der jugendhilferechtliche Regelungsbereich der §§ 45 ff. SGB VIII stellt jedoch auf einen Eingriff des überörtlichen Trägers in die Autonomie des freien Trägers ab, wobei die Vielzahl der in der Einrichtung befindlichen Kinder im Mittelpunkt des Schutzbereichs steht. Daraus folgt, dass die Schwelle einer Kindeswohlgefährdung im Bereich der §§ 45 ff. SGB VIII niedriger sein muss. Akute Kindeswohlgefährdungen nach dem Maßstab von § 1666 BGB müssen im Bereich der §§ 45 ff. SGB VIII also nicht abgewartet werden. Vielmehr ist auf eine Gefährdung durch unzureichende Rahmenbedingungen der Einrichtung abzustellen.

 

Der DSGT spricht sich dafür aus, über eine konkrete Umschreibung bzw. Eingrenzung einer quasi „strukturellen Gefährdung“ im Gesetz nachzudenken. Bei einer Weiterentwicklung der Norm hinsichtlich einer Absicherung der strukturellen Rahmenbedingungen ist aber zwingend darauf zu achten, die bisherigen Kriterien in § 45 Absatz 2 SGB VIII beizubehalten und ggf. zu stärken. Eine gesetzliche Klarstellung korrespondiert mit den Meldepflichten nach § 47 SGB VIII, in dem der Träger anzeigt, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen (Achtung: Mehrzahl!) beeinträchtigt ist. Die Formulierung zielt in der Regel auf strukturelle Gefährdungen.

 

Der DSGT schlägt vor:

 

  • auf den Begriff Kindeswohl bzw. Kindeswohlgefährdung innerhalb der Regelungen der §§ 45 ff. SGB VIII zu verzichten.

 

3. Nachweis der Trägerzuverlässigkeit

 

Aus Sicht des DSGT ist es erforderlich, dass neben der individuellen Eignungsprüfung des Fachpersonals auch die Eignung des Trägers einer Einrichtung im Sinne einer „Zuverlässigkeitgeprüft wird bzw. im laufenden Betrieb überprüft werden sollte. Zu beachten ist dabei allerdings, dass es keinen absoluten bundesrechtlichen Zuverlässigkeitsbegriff gibt und deshalb eine jugendhilfespezifische Praxis bei der Auslegung dieses Begriffs erforderlich wird. Dementsprechend kann im Bereich der Betriebserlaubnis im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechts die Annahme einer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit nur auf Tatsachen mit einem Bezug zum Träger der Einrichtung als juristischer Person gestützt werden. Nicht umfasst ist die persönliche Eignung der einzelnen Vertreter und Vertreterinnen des Trägers. Anknüpfungspunkte hierfür wären vielmehr §§ 45 Abs.2 SGB VIII und 48 SGB VIII, die bislang auf die fehlende Eignung von Personen abzielt, die in der Einrichtung tätig sind. Vertreter und Vertreterinnen des Trägers selbst sind nicht erfasst. Dem Träger als juristische Person kann es demnach insbesondere an der notwendigen Zuverlässigkeit fehlen, wenn dieser mit besonderer Beharrlichkeit keine Gewähr dafür bietet, dass er seinen sich aus den §§ 46 und 47 SGB VIII ergebenden Mitwirkungs-, Duldungs-, und Meldepflichten nachkommt, Personen entgegen einem Beschäftigungsverbot nach § 48 SGB VIII beschäftigt oder wiederholt erteilte Auflagen nicht erfüllt.

 

Der DSGT sieht die Notwendigkeit einer „ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführungin den Einrichtungen. Das Kriterium ist aber insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (z.B. ab 5 Plätzen pro Betriebsstätte) zu präzisieren. Auch ist u.a. schon aus datenschutzrechtlichen Erwägungen klarzustellen, dass der Nachweis einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung nicht eine generelle Pflicht umfasst, Bücher und Akten offenzulegen. Bei Gefahren für das Wohl der Kinder kann eine Offenlegung geboten sein. Aber auch hier sind die Regelungen zum Sozialdatenschutz zu beachten.

 

Die wirtschaftliche Lage eines freien Trägers ist eine wichtige Voraussetzung für die Erbringung der vereinbarten Leistung und Qualität. Eine Darlegung der Solvenz liegt aber in der Verantwortung des Leistungserbringers. Eine Regelung, die über die Formulierung in § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII -  „(…) wenn 1. die dem Zweck und der Konzeption der Einrichtung entsprechenden (…) wirtschaftlichen (…) Voraussetzungen für den Betrieb erfüllt sind“  - hinausgeht, bringt nicht den erhofften Erkenntnisgewinn und wird vom DSGT abgelehnt.

 

4. Definition des Einrichtungsbegriffes

 

Das SGB VIII enthält keine Definition des Einrichtungsbegriffs. Mit Blick auf die Frage, wann ein Betreuungsangebot dem Erlaubnisvorbehalt und der Aufsicht der §§ 45 ff. SGB VIII unterliegt, spielt der Begriff der Einrichtung allerdings eine entscheidende Rolle. Zu beachten ist dabei vor allem, dass der in §§ 45 ff. SGB VIII angelegte Erlaubnisvorbehalt einen Eingriff in die Betätigungsfreiheit von Einrichtungsträgern darstellt. Klärungsbedürftig ist unter anderem, wann es sich bei einem Betreuungsangebot um eine Familienpflege in Form der Kindertagespflege oder Vollzeitpflege handelt. Denn für diese Pflegestellen gelten eigene Aufsichtsregeln (§§ 43, 44 SGB VIII).

 

Der DSGT spricht sich dafür aus, eine Definition des Einrichtungsbegriffs im SGB VIII zu verankern und Zuordnungskriterien zu formulieren.

 

Dabei sollten alle professionellen familienanalogen Angebotsformen, Erziehungsstellen, Projektstellen, individualpädagogischen Betreuungsstellen, sonstige betreute Wohnformen und sozialpädagogische Lebensgemeinschaften, die in Verantwortung eines Jugendhilfeträgers betrieben werden, der Aufsicht nach §§ 45 ff. SGB VIII unterliegen. Sie sollten unter den Einrichtungsbegriff fallen, wenn sie fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind oder nach ihrer Konzeption aus zwei oder mehreren Einrichtungsteilen mit verschiedenen Standorten bestehen, aber fachlich und organisatorisch einer gemeinsamen Leitung zugeordnet sind.

 

Besonders zu berücksichtigen ist, dass der Begriff der Einrichtung auch im Bereich der Regelungen zu den Vereinbarungen gemäß § 78b SGB VIII verwendet wird. Zudem ist zwar zwischen Prüfrecht (3.Kapitel: Andere Aufgaben) und Leistungsrecht (1. Kapitel: Leistungen i. V. m. §§ 26, 78a ff. SGB VIII) zu unterscheiden, doch gibt es in der Praxis teilweise Unklarheiten in der Verortung (u.a. Vorlage der Konzeption, Qualifikation des Personals, Stellenschlüssel, Prüfverfahren, Maßnahmen der Qualitätsentwicklung).

 

In systematischer Hinsicht ist darüber nachzudenken, die Definition in § 45 Abs. 1 SGB VIII einzufügen oder, aufgrund seiner allgemeingültigen Bedeutung, in § 7 SGB VIII (Begriffsbestimmungen) aufzunehmen.

 

5. Prüfrechte an Ort und Stelle

 

Die dringend notwendige Einsicht in die Arbeit der Einrichtungen erhält die aufsichtführende Stelle vor allem durch die Prüfungen an „Ort und Stelle. Der DSGT empfiehlt dringend, an den „Örtlichen Prüfungen“ festzuhalten. Die Prüfung allein durch die Vorlage schriftlicher Unterlagen durchführen zu können räumt der verschriftlichten Dokumentation im Betriebserlaubnisverfahren mit Blick auf das Ziel, Kinder zu schützen, einen unangemessen hohen Stellenwert ein.

 

Der DSGT empfiehlt die gesetzliche Verpflichtung, in regelmäßigen Abständen angemeldet oder anlassbezogen, dann ggfs. unangemeldet, vor Ort Überprüfungen durchzuführen.

 

Unangemeldete Prüfungen sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für die Unterschreitung der Mindestanforderungen und Gefährdung der Kinder erfolgen. Ohne Anlass sind sie unverhältnismäßig und verfehlen aufgrund des Faktors Zufall ihr Ziel.

 

Die Einsicht in Einrichtungen gewinnt die aufsichtführende Stelle durch die Eindrücke vor Ort, insbesondere durch Gespräche mit Kindern, Jugendlichen, mit Beschäftigten und Leitungskräften. Wie bisher sollten die Gespräche keinen Beschränkungen unterliegen, wie durch generelle vorherige Einwilligungserklärungen der Personensorgeberechtigten. Auch in der bisherigen Gesetzesformulierung gelten die Regelungen zum Datenschutz.

Darüber hinaus: Junge Menschen und ihre Eltern sollten verstärkt die örtlichen und überörtlichen Jugendämter und andere externe Stellen für ihre Anliegen bzw. Beschwerden nutzen (können).

 

6. Beseitigung von Mängeln

 

In der Praxis entstehen immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Aufsichtsbehörden und freien Trägern, wenn es um die Feststellung bzw. den Fortbestand von Mängeln innerhalb der Einrichtung geht. Dabei ist der Begriff des Mangels in § 45 Abs.6 SGB VIII nicht weiter erläutert.

 

Der DSGT spricht sich dafür aus, eine Definition des Mangels im Sinne des § 45 Abs.6 SGB VIII zu verankern.

 

Abzustellen wäre hierbei vor allem auf Gegebenheiten, die den Anforderungen, die sich aus der Erteilung der Betriebserlaubnis ergeben, nicht entsprechen, oder auf sonstige Gründe, die mit allgemein anerkannten fachlichen Grundsätzen nicht vereinbar sind.

 

 

 

VI. Gefährdungseinschätzung und Kooperation von Fachkräften und Berufsgeheimnisträgern im Kinderschutz

 

Die grundsätzliche Positionierung des DSGT zu diesem Themenbereich aus dem Jahr 2018 hat weiterhin Bestand. Ein gesetzlicher Änderungsbedarf, wie er in dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im § 8a Abs. 1 SGB VIII in Verbindung mit §4 KKG vorgesehen war, besteht aus Sicht des DSGT weiterhin nicht.

Eine Mitverantwortung von Ärzten und Ärztinnen und anderen Akteuren des Gesundheitswesens als Partner im Kinderschutz, die sich auch im SGB V abbildet, wird begrüßt. Ebenso unverzichtbare Partner sind Lehrkräfte und Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen an Schulen und Akteure der Eingliederungshilfe sowie der Drogen- und Suchthilfe. Es sollte überlegt werden, eine interdisziplinäre Einschätzung der Gefährdung eines Kindes durch das Jugendamt verbindlich festzulegen.

Fachpolitisch wird weiterhin diskutiert, die sog. Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen in § 4 KKG dergestalt neu zu strukturieren, dass die in der geltenden Gesetzesfassung bislang als zweite Stufe geregelte Befugnis zur Information des Jugendamtes von Absatz 3 in den Absatz 1 verlagert wird. Die bislang in Absatz 1 als erste Stufe geregelte Erörterung der Situation mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten und die evtl. gebotene Hinwirkung auf eine Inanspruchnahme von Hilfen wird nunmehr in den Absatz 2 verlagert.

Zudem sollen aus dem Kreis der Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen die Informanten aus dem Bereich des Gesundheitswesens künftig eine Rückmeldung seitens des Jugendamtes zum Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung und den ergriffenen Maßnahmen erhalten, um deren Kooperationsbeziehung zu den Jugendämtern zu fördern.

 

Durch die Neustrukturierung der Verfahrensnorm würde ihrem Wortlaut nach noch mehr als bisher offenbleiben, ob die benannten Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen  zu einem Handeln verpflichtet sein sollen oder ob der Norm lediglich ein Appell- oder reiner Befugnischarakter zukommt. Zudem würde die grundlegende Haltung des § 8 a SGB VIII des "Schutzes durch Hilfe" ausgehebelt, indem das bisherige Stufenverhältnis umgekehrt und die Information des Jugendamtes zum regelmäßigen Normalfall gemacht wird, während der bislang am Anfang eines Tätigwerdens stehende Kontakt mit den betroffenen Familien und die gemeinsame Suche nach geeigneten Hilfen als eher subsidiäres Instrument beschrieben ist. Vor der Meldung einer Familiensituation an das Jugendamt sollte jedoch im Regelfall nach wie vor eine Erörterung der Situation mit den Betroffenen stehen.

Die in § 4 Abs. 4 KKG zudem geplante Sollvorschrift hinsichtlich einer inhaltlich vorgegebenen Rückmeldung seitens des Jugendamtes an Informanten aus dem Gesundheitswesen überzeugt ebenfalls nicht. Zum einen läuft ein solches Verfahren der regelmäßigen Übermittlung sensibler Informationen ohne Einwilligung der Betroffenen der Vertrauensbildung sowohl zwischen der Familie und der fallzuständigen Fachkraft des Jugendamtes als auch zwischen der Familie und dem Angehörigen eines Heilberufes zuwider. Zum anderen räumt das vorgesehene Verfahren den fallzuständigen Fachkräften des Jugendamtes keinen hinreichenden fachlichen Ermessensfreiraum ein, im konkreten Einzelfall individuell zu entscheiden, ob und wann eine Weitergabe von Informationen auch ohne das Wissen und die Einwilligung der Personensorgeberechtigten sachgerecht und erforderlich ist.

 

Die geplante Regelung gewichtet damit letztlich die Kooperationsbeziehung zwischen dem Jugendamt und den Informanten aus dem Gesundheitswesen stärker als das Vertrauensverhältnis zu den Kindern und Eltern, denen aber, soweit ihnen keine Vertraulichkeit angeboten werden kann, grundsätzlich mit Ehrlichkeit und Transparenz sowie schützend und unterstützend begegnet werden sollte. Es besteht die Gefahr einer Entwicklung im Kinderschutz, die eine interdisziplinäre Kooperation von Fachkräften und Berufsgeheimnisträgern und -trägerinnen aller Systeme verkürzt auf strukturierte Verfahren der Kontrolle mit Meldungen von Fällen an das zuständige Jugendamt. Für einen wirksamen Kinderschutz ist jedoch die gelingende Kommunikation und Kooperation von Fachkräften und Akteuren verschiedener Fachrichtungen zu einer qualitativen Gefährdungseinschätzung von zentraler Bedeutung.

 

Die Gefährdungseinschätzung ist ein kommunikativer Prozess, der sowohl die fachliche Expertise verschiedener Disziplinen als auch die Sicht der Eltern und Kinder mit einbeziehen sollte. Sie stellt ebenso hohe professionelle Ansprüche an Fachkräfte und Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen wie die weitere Arbeit mit der Familie und dem Kind nach der Gefährdungseinschätzung. Ziel einer interdisziplinären Kooperation von Akteuren der öffentlichen und freien Jugendhilfe, des Gesundheitswesens, der Suchthilfe und der Schulen sollte aus Sicht der DSGT sein, eine Verantwortungsgemeinschaft für die Gestaltung möglichst optimaler Hilfeprozesse zu bilden, die Kinder schützen und Eltern befähigen, Verantwortung für Kinder zu übernehmen.

 

Die konkrete Zusammenarbeit stellt die Kooperationspartner vor Herausforderungen, da sie sich gemeinsamen Zielen verpflichten, aber unterschiedliche institutionelle Aufträge, gesetzliche Rahmenbedingungen und Kostenträger vorhanden sind. Eine qualitative systemübergreifende Kooperation im Kinderschutz gelingt nur zwischen gleichstarken Systemen und in dem Bewusstsein aller Beteiligten, dass keine hierarchischen Beziehungsgefüge zueinander bestehen.

 

Voraussetzungen für das Gelingen einer interdisziplinären Kooperation ist die rechtliche Rahmung über das SGB VIII hinaus in den verschiedenen Sozialgesetzbüchern. Dazu gehören u.a. verbindliche Vorgaben zu fallübergreifender Netzwerkarbeit und interdisziplinäre Qualifizierungen aller Beteiligten. Die Wirksamkeit systemübergreifender Kooperationen im Kinderschutz wird im Wesentlichen davon abhängen, inwieweit es den Akteuren gelingt, sich einem gemeinsamen Ziel zu verpflichten, Systemlogiken nicht gegeneinander zu verwenden, und die Bereitschaft besteht, die Leistungs- und Zuständigkeitsgrenzen des anderen Systems anzuerkennen.

 

Der DSGT setzt sich dafür ein,

 

  • Kinderschutz nicht auf ein technokratisches Handeln zu verkürzen. Das Primat der Jugendhilfe, Hilfe zu leisten und Eltern zu stärken, darf nicht zugunsten kontrollierender gesetzlicher Vorgaben aufgegeben werden,

 

  • einheitliche Verfahrensregeln eines gemeinsamen Handelns zum Schutz von Kindern und Jugendlichen für Fachkräfte und Berufsgeheimnisträger und -trägerinnen  gesetzlich vorzugeben und nicht Sonderregelungen für besondere Berufsgruppen zu schaffen,

 

  • die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine interdisziplinäre Kooperation in allen Sozialgesetzbüchern zu schaffen und eine finanzielle, organisatorische und zeitliche Ausstattung sicherzustellen,

 

  • eine(n) Kooperationsbeauftragte(n) in Kinderschutzfällen auf Bundesebene analog zu der/dem Beauftragten für sexuellen Missbrauch einzusetzen.

 

 

 

VII. Gerichtliche Verfahren und Schiedsstellenverfahren

 

1. Schiedsstellenverfahren mit seinen Bezügen zum Vertragsrecht

 

Das Vertragsrecht/ Vereinbarungsrecht des SGB VIII, in das das Schiedsstellenverfahren eingebettet ist, lehnt sich weitgehend an die entsprechenden Vorschriften des Vertragsrechts nach dem (damaligen) Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) an. Die dortigen Vorschriften über die prospektiv zu vereinbarenden Entgelte waren „Vorbild“ (so BT-Drs. 13/10330, S. 16) für die Regelungen der §§ 78a ff. SGB VIII.

 

Der Gesetzgeber hat trotz der engen Anlehnung an die Vorschriften der §§ 93 ff. BSHG wegen (angeblicher) Unterschiede zum Sozialhilferecht die neuen Vorschriften der §§ 78a ff. SGB VIII etwas anders formuliert. Daher haben wir es heute mit leicht vom Vertragsrecht des SGB XII abweichend formulierten Vorschriften im SGB VIII zu tun.

Ob es tatsächlich erhebliche Unterschiede in der Struktur des Leistungsrechts zwischen der Sozialhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe gibt, kann durchaus bezweifelt werden (s. dazu etwa Grube, „Keine Hilfe für die Vergangenheit“ in der Kinder- und Jugendhilfe - und andere Gemeinsamkeiten zwischen SGB VIII und SGB XII, RsDE 76, 2014, 1-13). Jedenfalls hat sich das Vertragsrecht im Sozialleistungsrecht nach dem BSHG, SGB XII und dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) in den letzten 20 Jahren stetig weiterentwickelt, sodass jetzt ernsthaft zu fragen ist, ob die Kinder- und Jugendhilfe weiterhin ein „Eigenleben“ führen darf.

 

Die Vorsitzenden der Schiedsstellen aus den drei Sozialleistungsbereichen fordern seit langem (erfolglos), das Schiedsstellenwesen zu vereinheitlichen und vorzugsweise im Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) als besondere Materie zu verorten (vgl. Gottlieb/Krüger, Vorschläge zur rechtlichen Harmonisierung der Schiedsstellenverfahren nach §§ 76 XI und 80 SGB XII, NDV 2013, 571; Gottlieb, Vereinheitlichungsaspekte bei den sozialrechtlichen Schiedsstellen nach §§ 78g SGB VIII, 76 SSGB XI und 80 SGB XII, Sozialrecht aktuell 2012, 150).

Das „Eigenleben“ des Vertragsrechts der Kinder- und Jugendhilfe hat dazu geführt, dass Erkenntnisse aus dem Vertragsrecht der Sozialhilfe (und der Pflegeversicherung) nicht hinreichend wahrgenommen werden, wobei dies noch dadurch verstärkt wird, dass das Kinder- und Jugendhilferecht in die Gerichtszuständigkeit der Verwaltungsgerichte fällt. An dieser Stelle soll explizit nicht die Frage der Zuweisung des SGB VIII in die Sozialgerichtsbarkeit gestellt werden, auch wenn es kaum erklärlich ist, dass etwa die Eingliederungshilfe in die Zuständigkeit zweier Gerichtsbarkeiten fällt und bei Umsetzung der sog. „Inklusiven Lösung“ sich das Problem verschiedener Rechtswege noch verschärfen würde.

 

Der DSGT sieht de lege ferenda im Bereich des Schiedsstellenverfahrens erheblichen Regelungsbedarf.

 

Das Finanzierungssystem prospektiv vereinbarter Entgelte für anspruchsgesicherte Sozialleistungen ist für die Leistungen nach dem SGB VIII zu übernehmen. Das bedeutet, dass auch ambulante Leistungen und vor allem die Leistungen der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (§§ 22 ff. SGB VIII) in das Vertragssystem fallen und schiedsstellenfähig sind. Der Landesrechtsvorbehalt nach § 78a Abs. 2 SGB VIII könnte dann entfallen (vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel IV 2. „Ambulante Hilfen“).

 

Die rechtsdogmatische Deutung der Leistungserbringung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis hat sich in der Rechtsprechung des BSG und des BGH durchgesetzt und ist auch bereits im Kinder- und Jugendhilferecht angekommen (so VGH München, v. 19.6.2018, 12 C 18.313; dazu Wahrendorf, jurisPR-SozR 20/2018 An. 5). Daher sollte § 78b Abs. 1 SGB VIII terminologisch angepasst werden.

Es ist zu prüfen, ob nicht auch weitere Vorschriften des Vereinbarungsrechts nach dem SGB VIII terminologisch an das neue Vertragsrecht der §§ 123 ff. SGB IX (§§ 75 ff. SGB XII, Fassung ab 2020) angepasst werden können, weil diesbezügliche Unterschiede trotz inhaltlicher Übereinstimmung nur zu Irritationen führen.

 

Unbedingt regelungs- bzw. klarstellungsbedürftig ist die Frage rückwirkender Vereinbarungen und Schiedsstellenentscheidungen (§ 78d Abs. 1 und 2 SGB VIII; § 78g Abs. 3 SGB VIII). Anlass dazu gibt nicht zuletzt das Urteil des BSG vom 23.07.2014, B 8 SO 2/13 R, das richtungsweisend für eine einheitliche Rechtsanwendung in SGB VIII, SGB XI und SGB XII sein könnte.

 

Die Vorschrift des § 78f SGB VIII (Rahmenverträge) ist zu unbestimmt, da keinerlei Konkretisierungen des Vertragsinhalts formuliert sind. Wegen der großen Bedeutung der Rahmenverträge ist dies jedoch notwendig, damit nicht zu viele Detailregelungen bereits in einem Rahmenvertrag vereinbart werden.

 

Das Schiedsstellenwesen nach § 78g SGB VIII ist in den Ländern im höchsten Maße uneinheitlich geregelt. Das beeinträchtigt die Rechtsschutzsuchenden und verhindert, dass sich eine einheitliche Rechtsprechung bilden kann. Weitere bundesrechtliche Vorgaben für das Schiedsstellenwesen sind wünschenswert.

 

Die Ermächtigung der Landesregierungen, Schiedsstellenverordnungen zu erlassen (§ 78g Abs. 4 SGB VIII), sollte konkretisiert werden, damit nach Möglichkeit die derzeitige völlige Zersplitterung der einzelnen Verordnungen zurückgefahren wird.

 

Der DSGT plädiert deshalb dafür:

 

  • das Finanzierungssystem prospektiv vereinbarter Entgelte für anspruchsgesicherte Sozialleistungen für die Leistungen nach dem SGB VIII zu übernehmen,

 

  • zu prüfen, weitere Vorschriften des Vereinbarungsrechts nach dem SGB VIII terminologisch an das Vertragsrecht der §§ 123 ff SGB IX, §§ 75 ff SGB XII anzupassen,

 

  • die Frage der Rückwirkung von Vereinbarungen und Schiedsstellenentscheidungen klarstellend zu regeln,

 

  • § 78 f SGB VIII (Rahmenverträge) zu konkretisieren,

 

  • weitere vereinheitlichende Regelungen zum Schiedsstellenwesen bundesrechtlich zu treffen,

 

  • die Ermächtigung zum Erlass von Schiedsstellenverordnungen bundesrechtlich zu konkretisieren.

 

2. Rechtswegdiversität bei der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII

 

Der DSGT hat sich in seinem Positionspapier aus dem Jahr 2018 für eine Sonderzuständigkeit der Familiengerichte bei der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) ausgesprochen. Diese Position wird nachstehend konkretiiseirnd weiterentwickelt. Nach derzeit geltender Rechtslage hat das Jugendamt, wenn die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten einer Inobhutnahme widersprechen, das Jugendamt ihnen aber aufgrund seiner Gefährdungseinschätzung das Kind oder den Jugendlichen nicht übergeben möchte, gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 Ziff. 2 SGB VIII unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichtes über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen herbeizuführen. Je nachdem, ob das Familiengericht die Einschätzung des Jugendamtes teilt und einen Eingriff in die elterliche Sorge für erforderlich hält oder nicht, entscheidet es über die jeweils notwendigen Maßnahmen im Anschluss an die Inobhutnahme bereits nach derzeit geltender Gesetzeslage in alleiniger Zuständigkeit.

 

Parallel zu dem familiengerichtlichen Verfahren haben die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aber auch die Möglichkeit, gegen den die Inobhutnahme verfügenden Verwaltungsakt Widerspruch zu erheben und beim Verwaltungsgericht um Rechtsschutz nachzusuchen. Das Verwaltungsgericht überprüft ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme und kann diese ggf. aufheben, und zwar auch in Fällen, in denen es zwar nicht an einer Kindeswohlgefährdung, aber etwa am Vorliegen einer dringenden Gefahr bzw. der Unmöglichkeit des rechtzeitigen Einholens einer familiengerichtlichen Entscheidung (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 lit. b) SGB VIII) oder der örtlichen Zuständigkeit des Jugendamtes fehlt.

 

Um in einer solchen Situation eine gerichtliche Auseinandersetzung um das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen in mehreren parallel laufenden Verfahren und ggf. widersprüchlicher Entscheidungen zu vermeiden, spricht vieles dafür, die Frage des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung auf einen Rechtsweg – nämlich den sachnäheren familiengerichtlichen – zu konzentrieren und diesem Verfahren einen zeitlichen Vorrang zuzuweisen. Selbst wenn in der Praxis aufgrund des familiengerichtlichen Beschleunigungsgebotes und im Hinblick auf die allgemein längeren Verfahrenslaufzeiten der Verwaltungsgerichte häufig die Familiengerichte ohnehin schneller entscheiden werden, erscheint es aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit geboten, eine entsprechende ausdrückliche Bestimmung auch in das SGB VIII aufzunehmen.

 

Die – die Bindung der Behörden an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3, 2. HS GG) sicherstellende - Prüfung der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme im Übrigen sollte dagegen weiterhin sachnäher auf dem Verwaltungsrechtsweg erfolgen, um einer mit den gesetzgeberischen Intensionen nicht vereinbaren Handhabung des § 42 SGB VIII entgegenzuwirken. Zum einen dient das behördliche Widerspruchsverfahren, das ja ggf. auch mit einer Abhilfeentscheidung enden kann, der (nochmaligen) Selbstkontrolle der Verwaltung und damit sowohl dem Gebot der Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Verwaltung als auch dem Rechtsschutz der Betroffenen sowie darüber hinaus auch der Entlastung der Gerichte. Zum anderen bleibt es hierbei auch im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (Gebot des effektiven Rechtsschutzes) bei den – Klarheit, Berechenbarkeit und Durchschaubarkeit gewährleistenden - Typisierungen der VwGO, was das grundsätzliche System der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle behördlicher Entscheidungen unter Wahrung der gesetzlichen Rechtsmittelfristen betrifft.

 

Unabhängig davon – aber gleichwohl im engen thematischen Zusammenhang – steht das Problem der divergierenden Auffassungen, wenn etwa das Familiengericht die Voraussetzungen für Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nach § 1666 a Abs. 1 Satz 1 BGB als nicht erfüllt ansieht, das Jugendamt eine ambulante Hilfegewährung aber dennoch als nicht geeignet ablehnt, obwohl eine Kindeswohlgefährdung gegeben ist bzw. akut droht. Hier kann nur mit Hilfe klar bestimmter Kommunikationsstrukturen und durch entsprechende Fortbildungsangebote darauf hingewirkt werden, dass sämtliche mit der Kindeswohlgefährdung einhergehenden Problematiken von den Beteiligten umfassend erörtert und verantwortlich erwogen werden, um letztlich die Akzeptanz der familiengerichtlichen Entscheidung zu erhöhen und auf diese Weise den Kinderschutz zu gewährleisten.

 

 

Der DSGT setzt sich dafür ein,

 

  • den Familiengerichten im Falle einer Inobhutnahme gegen den Willen der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten gesetzlich die alleinige Zuständigkeit für die vorrangige Prüfung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung zuzuweisen, indem in § 42 SGB VIII die Regelung aufgenommen wird, dass

 

  • Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Inobhutnahme keine aufschiebende Wirkung haben (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO),

 

  • das Verwaltungsgericht, soweit das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nicht ohne weiteres auszuschließen ist, das Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. HS VwGO aussetzt, bis insoweit eine rechtskräftige Entscheidung des Familiengerichtes ergangen ist,

 

  • verstärkt interdisziplinäre Fortbildungsangebote für die Fachkräfte des Jugendamtes und Familienrichterinnen und -richter einzurichten und klarere Aufklärungs- und Kommunikationsstrukturen sowohl zwischen den Jugendämtern und den Eltern als auch zwischen den Jugendämtern und den Familiengerichten zu regeln, die auf eine kooperative und informierte Einbindung aller Beteiligter am Prozess der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung abzielen.

 

 

3. Paritätisches Wechselmodell (PWM)

 

Nach der Entscheidung des BGH vom 1.2.2017 – XII ZB 601/15 ist das paritätische Wechselmodell als gerichtliche Umgangsregelung gesetzlich nicht ausgeschlossen. Dessen Ablehnung durch einen Elternteil allein hindert die Regelung noch nicht. Entscheidender Maßstab für die Regelung ist das „im konkreten Einzelfall festzustellende Wohl des Kindes“. Um festzustellen, welche Form des Umgangs dem Kindeswohl im konkreten Fall am besten entspricht, ist das Familiengericht zur umfassenden Aufklärung verpflichtet, die grundsätzlich auch die persönliche Anhörung des Kindes erfordert.

 

Das PWM als Umgangsregelung setzt jedoch eine bestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus. Bei einem erheblich konfliktbelasteten Verhältnis der Eltern untereinander entspricht die Anordnung des PWM in der Regel nicht dem wohlverstandenen Interesse des Kindes. Die Anordnung des PWM zu dem Zweck, eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erst herbeizuführen, wäre folglich nicht, wie erforderlich, am Kindeswohl orientiert. Es besteht die Gefahr, dass die Eltern die Regelung zu Lasten des Kindes unterlaufen. Bei erzwungenem paritätisch aufgeteiltem Umgang kann sich die Konkurrenz neuer Partner, Verwandter, Freunde, Nachbarn und weiterer Bezugspersonen um Einfluss auf das Kind negativ auf dieses auswirken. Das PWM stellt insgesamt höhere Anforderungen an Eltern und Kind zum Umgang als herkömmliche Betreuungsmodelle.

 

Nach Ansicht des DSGT darf das PWM nicht zum gesetzlichen Regelfall werden. Für erforderlich hält der DSGT bei der Einzelfallprüfung die Erfüllung folgender Voraussetzungen:

 

  • Bindung des Kindes zu beiden Elternteilen,

 

  • alters- und entwicklungsangemessene Berücksichtigung des Willens des Kindes,

 

  • ähnliche Betreuungsregelungen (Kontinuität) vor und nach der Trennung,

 

  • positive Rahmenbedingungen (Erreichbarkeit/ Entfernungen zu den Wohnorten der Elternteile/ Kita/ Schule etc.),

 

  • Bereitschaft der Eltern zu ausreichender Kommunikation und Kooperation,

 

  • Erziehungseignung der Eltern.

 

 

 

VIII. Fazit und Zentrale Forderungen

 

Aus Sicht des DSGT leistet die Kinder- und Jugendhilfe einen essenziellen Beitrag für die Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien. Das SGB VIII bildet in vielen Teilen eine gute Grundlage. Trotzdem empfiehlt der DSGT, einige Stellen im SGB VIII weiterzuentwickeln und weist an diversen Punkten auf Umsetzungsdefizite in der Praxis hin.

 

Dieses Grundsatzpapier schließt mit einer Auswahl zentraler Forderungen und Empfehlungen an Politik, Wissenschaft und Praxis:

 

  • Der DSGT regt an, gesetzliche Grundlagen zur Sicherstellung einer hinreichenden Förderung infrastruktureller Angebote der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe (außerhalb der Hilfen zur Erziehung) und zur Sicherstellung einer angemessenen Personalausstattung der örtlichen Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe zu schaffen.
     
  • Außerdem setzt sich der DSGT unter anderem dafür ein, die UN-BRK in der Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen und den Diskurs zur Zusammenführung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe unter dem Dach des SGB VIII fortzuführen.

 

  • Individuelle Rechtsansprüche für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sollten bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte von Eltern und anderen Sorgeberechtigten ausgebaut werden.
     
  • Der DSGT weist darauf hin, dass Elternarbeit als Schwerpunkt, nicht als Anhängsel der stationären Hilfe zur Erziehung betrachtet und entsprechend geleistet werden sollte.
     
  • Im Rahmen von Fremdunterbringung sollte die Erforschung der Situation von Kindern/ Jugendlichen und ihrer Eltern intensiviert werden.
     
  • Der DSGT empfiehlt, eine Legaldefinition des Einrichtungsbegriffs einzuführen und das Vereinbarungswesen zu stärken.
     
  • Die Gefährdungseinschätzung sollte nach Auffassung des DSGT optimiert werden. In diesem Zusammenhang unterstützt er die Stärkung der fallübergreifenden und fallunabhängigen Kooperation von Fachkräften und Akteuren verschiedener Fachrichtungen im Kinderschutz.
     
  • Aufgrund der bestehenden „Rechtswegdiversität“ in Fällen einer Kindeswohlgefährdung schlägt der DSGT vor, durch verfahrensrechtliche Regelungen dafür Sorge zu tragen, dass die Prüfung des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung primär im Rahmen des Verfahrens nach § 1666 BGB durch die Familiengerichte erfolgt.
     
  • Der DSGT empfiehlt, das Paritätische Wechselmodell (PWM) nicht als Regelfall gesetzlich festzuschreiben.


 

Autor: Monika Paulat, Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages, Präsidentin des Landessozialgerichts a.D., Martin Isermeyer, Fachbereichsleiter Kinder- und Jugendhilfe, ejf gemeinnützige AG Berlin

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) legt ein Grundsatzpapier zur Verwirklichung der Kinder- und Jugendhilfe als staatliche und gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe vor. Es schließt an das Positionspapier von Januar 2018 an, in dem seinerzeit neun Thesen und Forderungen formuliert worden waren. Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe war Gegenstand eines langen Reformprozesses, den der DSGT und die federführende Kommission SGB VIII sehr intensiv begleitet hat. Das Grundsatzpapier geht weit über das erste Positionspapier hinaus. Es bezieht – wie sein Name zum Ausdruck bringt – jenseits aktueller Themen der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts grundsätzlich und zukunftsweisend Stellung zu den Anforderungen an eine gute Kinder- und Jugendhilfe. In sieben Kapiteln stellt das Papier diese Anforderungen im Einzelnen dar, nachdem in einer Präambel essentielle Gedanken über die gesellschaftliche Relevanz der Kinder- und Jugendhilfe niedergelegt sind und bevor im Schlusskapitel zentrale Forderungen des DSGT zu der von ihm für notwendig erachteten Weiterentwicklung des SGB VIII vorgetragen werden.

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Schlagwörter: Positionspapier, Familie, Kooperation, Beteiligung, Kindeswohl, Grundsatzpapier, Kinder- und Jugendhilfe