Kurzbericht der Kommission SGB VIII beim 8. DSGT am 3.11.2022 – »Der Solidaritätsbeitrag von Familien in der Pandemie – Lehre für die Kinder- und Jugendhilfe in Krisenzeiten?«

09.11.2022 opener

In Anlehnung an das Generalthema arbeitete die Kommission SGB VIII am 3.11. von 14:00 Uhr bis 18:30 Uhr unter der Überschrift „Der Solidaritätsbeitrag von Familien in der Pandemie – Lehre für die Kinder- und Jugendhilfe in Krisenzeiten?“. Als Vortragende konnten wir den ehemaligen Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Herrn Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, (aktuell: TU Dortmund) und Frau Dr. Sonja Bastin von der Universität Bremen/ dem Forschungsinstitut SOCIUM gewinnen. Die Arbeit der Kommission diente dazu, auf Grundlage zweier Vorträge eine Einschätzung vorzunehmen, ob und wie krisenfest sich das System der Kinder- und Jugendhilfe darstellt. Hierzu haben wir auch einen vertiefenden Blick auf den Solidaritätsbeitrag von Familien – insbesondere im Rahmen der Coronapandemie – geworfen und grundsätzliche Fragen der Zusammenhänge zwischen familialer und staatlicher Verantwortung im Kontext von Care-Arbeit diskutiert. Ergebnisse der Sitzung werden in die weitere Arbeit der Kommission fließen. Insbesondere im Rahmen des derzeitigen Prozesses zu Fragen der grundsätzlichen Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe.

Prof. Rauschenbach ging in seinem Vortrag der Frage nach, ob und wie es mit der Krisenfestigkeit der Kinder- und Jugendhilfe bestellt ist. Dazu warf er einen Blick auf die vorliegende Datenbasis, die die historische Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe aus einem eher fürsorgeorientierten Unterstützungssystem hin zu einem in der Gesellschaft verankerten und anerkanntem Begleit- und Unterstützungssystem für Familien darstellt. Dabei fokussierte er insbesondere auf die kontinuierlich zunehmende Bedeutung der Kindertagesbetreuung.

Im Gegensatz zu anderen Sozialleistungssystemen ist die Kinder- und Jugendhilfe dadurch gekennzeichnet, dass Sie Ihrer Verantwortung insbesondere durch die Bereitstellung von Infrastruktur und weniger/ kaum durch monetäre Sozialleistungen gerecht wird. Diese Leistungen (zum Beispiel im Feld der Kindertagesbetreuung) sind in den letzten Jahrzehnten sowohl hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Angebote, der beschäftigten Fachkräfte und des finanziellen Volumens kontinuierlich gewachsen. Auch mit Blick auf die Anforderungen der Corona-Pandemie führte Herr Prof. Rauschenbach aus, dass sich das System in seiner Verantwortungsgemeinschaft aus Land, Kommunen und Trägern der freien Jugendhilfe als hinreichend stabil und verlässlich gezeigt hat.

Trotz dieser positiven Befundlage führte Herr Prof. Rauschenbach auch zu zentralen Risiken aus. Als besondere Herausforderungen sieht er:

  • den demographischen Wandel,
  • die Entwicklung im Bereich der Zuwanderung
  • und den Arbeitskräftemangel.

Frau Dr. Bastin führte in Ihrem Beitrag zu den Belastungen der Familien im Kontext der Corona-Pandemie aus. Sie verwies dazu auf verschiedene Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung insbesondere unter dem Fokus der Verteilung der Care-Arbeit innerhalb der Gesellschaft insgesamt und im familialen Kontext im Verhältnis der Geschlechter.

Insgesamt kommt Sie zu der Erkenntnis, dass die Belastungen der Pandemie einem Brennglas gleich die grundsätzlichen Herausforderungen der Familien im Rahmen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders deutlich gemacht haben. Hier ist zudem das Ausmaß der Belastungen von Müttern (besonders von alleinerziehenden Müttern) deutlich. Nach wie vor erbringen insbesondere Frauen Leistungen der unbezahlten Care-Arbeit im Umfang von kalkulatorisch etwa 40% des BIP. Dies ist in der Regel zusätzlich mit einer Reduzierung von Erwerbsarbeit verbunden. Dies bringt für die Gesellschaft verschiedene Risiken mit sich, wie z.B. Armut im Alter, Kinderarmut, verschiedene Formen der Abhängigkeiten und nicht zuletzt Verlust an Vertrauen in Politik und öffentliche Institutionen.

Positive Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Gleichstellung wurden durch die Krise deutlich gefährdet. Während auf der einen Seite die Leistungen von Familien im Bereich von Erwerbsarbeit und nicht finanzierter Care-Arbeit im Rahmen unseres solidarischen Wohlfahrtsstaates zu einem großen Teil vergemeinschaftet werden, wurde ein Großteil der Belastungen der Pandemie individualisiert. Viele Familien haben sich durch die Politik und die Vertreterinnen und Vertreter von Behörden und Institutionen allein gelassen gefühlt. Erhebungen machen deutlich, dass diese Wahrnehmungen mit Blick auf den inneren Zusammenhalt Anlass zur Sorge geben (müssen).

Im Nachgang der beiden Beiträge erfolgte innerhalb der Kommission eine Diskussion zu verschiedenen Punkten, die in die weitere Arbeit der Kommission Eingang nehmen sollen. Als relevant sei hier genannt:

  • Der kontinuierliche Zuwachs der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (hier insbesondere das Feld der Kindertagesbetreuung) ist grundsätzlich auf eine kontinuierlich steigende Anerkennung der Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe auch in Ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und insbesondere auf ihre Notwendigkeit zur Stabilisierung unseres auf Erwerbsarbeit aufbauenden Staates zurückzuführen.
  • Es ist hierbei aber auch im Blick zu behalten, dass die Zunahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (hier insbesondere im Feld der Hilfen zur Erziehung) auch als Indikator für die Zunahme von individuellen Belastungen und Hilfslagen von Familien zu verstehen ist, die auch systemische Hintergründe haben können.
  • Interessant ist die Entwicklung des Feldes der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere im Kontext der Auffächerung der Verantwortlichkeiten zwischen Bund (Gesetzgebung), Ländern, Kommunen und Trägern der freien Jugendhilfe. Diese Konstellation weist verschiedene Risiken (insbesondere im Kontext von Standardisierungen im Rahmen der Anforderung, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen) auf. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass diese Konstellation (insbesondere mit Blick auf die Rolle der Träger der freien Jugendhilfe) gut geeignet scheint, fachliche Innovation und strukturelle Entwicklungen sicher zu stellen.
  • Es wurde intensiv diskutiert, ob und wie (trotz der kontinuierlichen Stärkung des Systems der Kinder- und Jugendhilfe und der Wahrnehmung der grundsätzlich produktiven Zusammenarbeit der oben erwähnten Akteure) eine stärkere Praxis der kritischen Reflexion der Arbeit der Jugendämter und der Träger der freien Jugendhilfe erfolgen kann. Sind zwar mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz im letzten Jahr verschiedene Regelungen zur Stärkung der Aufsicht und zu Beschwerdestellen verabschiedet worden, fehlen weiterhin schlagkräftige Instrumente zur Sicherstellung der Qualität im Bereich der öffentlichen Jugendhilfe. Insbesondere braucht es zur Absicherung einer guten Praxis:
    • eine Kultur des kritischen Hinschauens im Rahmen vertrauensvoller und verantwortlicher Zusammenarbeit aller Akteure (besonders kritisch ist hier hektisches Agieren von Politik und Verwaltung bei vermeintlichen „Skandalen“)
    • fachliche Methoden der Abklärung von besonderen Vorkommnissen, die über das einfache Absolvieren von Verwaltungsverfahren hinausgehen
    • mit Blick auf die Entwicklungen im Bereich der Fachkräfte ist zudem die grundsätzliche Fachlichkeit durch Ausbildung und Leitung sicher zu stellen.
  • Die große gesamtgesellschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe als professionelle Care-Arbeit und die hohen Leistungen und Belastungen von Familien – hier insbesondere der Mütter - wird in der Öffentlichkeit und der Politik noch nicht hinreichend abgebildet. Es ist zu prüfen, wie dieses Feld stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten kann.
  • Mit Blick auf die gesellschaftlich ungleich verteilten Belastungen von Familien mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen Familien/ Personen sowie die weiterhin deutlichen Rückstände im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter kann das System der Kinder- und Jugendhilfe als zentraler Faktor zur Entlastung der Familien verstanden werden. Allerdings scheint es die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht zu verändern, trotz Erhöhung der Erwerbsarbeitsquote von Frauen bleiben die Verantwortlichkeiten für Care-Arbeit nahezu unverändert hauptsächlich (zusätzlich) bei den Frauen. Es stellt sich hier aber die Frage der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen legitimierbaren staatlichen Handelns. Ebenso stellt sich die Frage, ob es einen „familiären Kernbereich“ geben soll, der vor staatlicher Einflussnahme abgegrenzt bleiben sollte. Ähnliche Diskurse finden aktuell im Rahmen der „Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe“ im Kontext der Frage zur Anspruchsinhaberschaft des Rechtsanspruches für die zukünftigen Leistungen der Hilfen zur Erziehung statt.
  • Dem subjektiv stark erhöhten Belastungsempfinden der Familien, hier insbesondere der Mütter, während der Corona-Pandemie stehen relativ stabile Zahlen im Bereich der Inobhutnahmen und im Rahmen von Misshandlungstatbeständen in der Kriminalstatistik entgegen. Dies kann einen Hintergrund darin haben, dass trotz hoher Belastungen der Familien in gleichem Maße von hohen Resilienzen ausgegangen werden kann. Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass nicht jede temporäre Überlastung unmittelbar zu akuten Gefährdungen führen muss. So treten Folgen langanhaltender Belastung und Erschöpfung von Familien/ Müttern vermutlich eher zeitverzögert auf.

Autor: RiLSG Jörn Hökendorf, Pressesprecher DSGT e.V.

Anlass: Kommission SGB VIII beim 8. DSGT

In Anlehnung an das Generalthema arbeitete die Kommission SGB VIII am 3.11. von 14:00 Uhr bis 18:30 Uhr unter der Überschrift „Der Solidaritätsbeitrag von Familien in der Pandemie – Lehre für die Kinder- und Jugendhilfe in Krisenzeiten?“ Innerhalb der Kommission erfolgte eine Diskussion zu verschiedenen Punkten, die in die weitere Arbeit der Kommission Eingang nehmen sollen.

Rubrik:

Schlagwörter: Pandemie, Care-Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe in Krisenzeiten, Familie