EJTN-Fortbildungen wahrnehmen - Erfahrungsbericht über die Tätigkeit beim Tribunal de Grande Instance (TGI)

03.11.2017 opener

(Hinweis der Redaktion: Es wird im Artikel durchgehend die männliche Version der Begriffe verwendet, es ist aber zugleich die weibliche Version gemeint.)

Mein Dienstherr eröffnete mir im September 2017 dankenswerterweise die Möglichkeit, über das Europäische Netzwerk für die Aus- und Fortbildung von Richtern (EJTN) eine zweiwöchige Einzel-Kurzzeithospitation am Tribunal de Grande Instance (TGI) in Aurillac durchzuführen.

Teilnahme am EJTN-Programm

Das EJTN-Programm steht Richtern mit hoher beruflicher Motivation und guten Sprachkenntnissen offen. Mein Ziel war es, mit der Kurzzeithospitation direkt Kontakt aufzunehmen zu französischen Richtern, mit diesen Meinungen und Erfahrungen in ihrer täglichen Praxis auszutauschen und von Ihnen zu lernen. Darüber hinaus war es mir wichtig, mein bereits im Studium erworbenes Wissen über das französische Recht zu vertiefen.

So wird man Richter in Frankreich

In Frankreich gibt es ca. 8.200 Richter bei 66,9 Millionen Einwohnern. Diese haben 45 Tage Urlaub im Jahr. Um Richter zu werden, muss zunächst eine Aufnahmeprüfung für die nationale Richterschule in Bordeaux bestanden werden. Nach Absolvierung der französischen nationalen Richterschule wird der Richter sofort auf Lebenszeit ernannt. Eine mehrjährige Probezeit gibt es nicht. Der einmal ernannte Richter kann nicht mehr entlassen bzw. des Amtes enthoben werden. Eine Versetzung gegen seinen Willen ist nicht mehr möglich.

Wirtschaftliche Stellung und berufliche Perspektiven der Richter

Im Jahr 2015 begann der französische Richter seine Laufbahn mit etwa 2.660,00 Euro netto, wobei die Besoldung alle 2 Jahre um ca. 260,00 Euro steigt. In Frankreich gelingt ein Aufstieg nach einer bestimmten Dienstzeit fast automatisch vom zweiten in den ersten Grad. Voraussetzung ist zumeist, dass der Richter sich örtlich verändert und sich auf einen Dienstposten bewirbt, der den ersten Grad ausweist. Im ersten Grad stehen dem Richter Stellen wie z.B. Vizepräsident offen. Ein weiterer Aufstieg gelingt nur noch wenigen Richtern. Den französischen Richtern stehen Abordnungen in Ministerien oder zur französischen Botschaft im Ausland offen.

Richterliche Tätigkeit am TGI

Als besonders interessant empfand ich die Kopplung richterlicher materiell-rechtlicher Tätigkeit am TGI. So war der Untersuchungsrichter am TGI gleichzeitig Sozialrichter und Richter des Gerichts über Erwerbsunfähigkeitsverfahren. Am TGI nimmt der Präsident die Geschäftsverteilung vor und schreibt einen Beurteilungsbeitrag, dem der Präsident des Berufungsgerichts in der Regel folgt. Der Präsident des TGI, Herr Tellier, teilte mir in einem persönlichen Gespräch mit, dass er alle 2 Jahre eine Beurteilung der Richter vornimmt. Grundlage der Beurteilung sind Urteile des Richters, ein von ihm auszufüllendes Formular mit seinen Aktivitäten im Beurteilungszeitraum und ein Beurteilungsgespräch mit dem Präsidenten des TGI.

Es ist demgegenüber nicht üblich, dass sich der Präsident des TGI die mündlichen Verhandlungen des jeweiligen Richters anschaut. Statistiken über Erledigungszahlen gibt es nicht. Genaue Vorgaben hinsichtlich der Erledigungszahlen sowie feste Arbeitszeiten für Richter existieren ebenfalls nicht.

Erfahrungen während der Kurzzeithospitation

Die Kollegen in Aurillac stellten mir ein zweiwöchiges umfassendes Programm zusammen, bei welchem ich an Sitzungen und geheimen Beratungen des Zivilgerichts und des Strafgerichts teilnehmen konnte. Ich war jeden Tag voll und ganz in den Gerichtsalltag eingebunden und konnte mich aktiv einbringen. Im Bereich Strafrecht nahm ich an Vernehmungen von Beschuldigten durch den Untersuchungsrichter und an mündlichen Verhandlungen des Strafgerichts teil, vordergründig im Bereich der Drogenkriminalität, der Sexualdelikte und der Körperverletzungsdelikte .

Sozialgerichtsbarkeit in Frankreich

Da zur ordentlichen Gerichtsbarkeit in Frankreich auch die Sozialgerichte gehören, möchte ich insbesondere über die Verfahren der gesetzlichen Sozialversicherung berichten. Im Rahmen des Sozialrechts beschäftigte ich mich mit Fragen der Übernahme von Flugtransportkosten zur Behandlung in einem weit entfernten Krankenhaus, trotz anderer Behandlungsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe. Im Rentenrecht war zu prüfen, ob die Hinterbliebenenrente - trotz Belehrungsfehler der Behörde im Antragsformular über die anzugebenen Einkommensarten - aufzuheben war, da das Einkommen die dafür vorgesehene Schwelle überschritt.

Darüber hinaus ging es in einem Fall um das der Grundsicherung entsprechende „Aktive Solidaritäts-Einkommen“ (RSA). Im Gericht über Erwerbsunfähigkeitsverfahren befasste ich mich mit dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit und hier insbesondere mit der Frage, ob in den dortigen Fällen ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gegeben war. Zudem war streitig, ob tatsächlich eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen im konkreten Fall vorlag. Besonders interessant war die Frage, ob ein Wegeunfall auch bei einem Unfall auf einem Umweg vorliegt, bei dem der Kläger gegen Bezahlung einen Mitfahrer in seinem Auto zunächst zum Haus des Mitfahrers gefahren hat.

Ablauf gerichtlicher Verhandlungen

Als höchst spannend stellte sich für mich der Ablauf der Gerichtsverhandlung dar, welche kostenlos ist. So waren an einem Tag 35 Verfahren ab 14 Uhr geladen. Sämtliche Anwälte und Beteiligten wurden aufgerufen und ihre Anwesenheit festgestellt. Nach Aufruf des jeweiligen Verfahrens konnte ein Terminverlegungsantrag gestellt werden (z.B. weil der Schriftsatz der Gegenseite erst vor kurzem eingegangen war). Dann bestimmte der Vorsitzende die Reihenfolge der Fälle nach eigenem Benehmen. Ein Kriterium kann dabei die Seniorität der Rechtsanwälte sein.

Bei jedem Verfahren stellt der Vorsitzende zunächst den Sachverhalt dar und richtet ggf. Fragen an die Beteiligten, die vor dem Richtertisch durchgängig stehen müssen. Im nächsten Schritt plädieren die jeweiligen Anwälte bzw. die Beteiligten. Am Ende wird ein Termin für eine Entscheidung verkündet. Im Anschluss berät sich der Sozialrichter mit den ehrenamtlichen Richtern und setzt die schriftlichen Urteilsgründe ab. Ändert er beim Schreiben des Urteils den Tenor ab, ist dies selbstverständlich mit den ehrenamtlichen Richtern noch einmal abzustimmen, was flexibel per Telefon oder E-Mail möglich ist. In einem späteren Verkündungstermin wird das endgültige Urteil oder eine Vertagung verkündet, falls noch weitere Ermittlungen notwendig sind.

Persönliches Fazit

Insgesamt bin ich von meiner Kurzzeithospitation vollauf begeistert, habe viel über die Tätigkeit eines französischen Sozialrichters gelernt und kann anderen Richtern nur empfehlen, EJTN-Fortbildungen wahrzunehmen und so intensiv ihren Beitrag zu leisten zum grenzüberschreitenden Verständnis füreinander in Europa.

Autor: Ri'in SG (SG Cottbus) Dr. Yvonne Kuschminder

Anlass: Fortbildungsmaßnahme

Im September 2017 erhielt ich die Möglichkeit, über das Europäische Netzwerk für die Aus- und Fortbildung von Richtern (EJTN) eine zweiwöchige Einzel-Kurzzeithospitation am Tribunal de Grande Instance (TGI) in Aurillac durchzuführen. Ziel war es, auf diesem Wege direkt Kontakt aufzunehmen zu französischen Richtern, mit diesen Meinungen und Erfahrungen in ihrer täglichen Praxis auszutauschen und von Ihnen zu lernen.

Rubrik:

Schlagwörter: EJTN, Sozialgerichtsbarkeit in Frankreich, Richteraustausch