Wie geht es weiter mit den Wirbelsäulen-Berufskrankheiten? - Workshop der DSGT-Kommission SGB VII

12.11.2017 opener

Ausgerichtet von der SGB VII-Kommission des DSGT, fand am 21.September 2017 in Kassel der Workshop zum Thema "Wie geht es weiter mit den Wirbelsäulen-Berufskrankheiten?" statt. Nach Grußworten des Präsidenten des BSG Prof. Dr. Schlegel und der Präsidentin des DSGT e. V. Paulat stellte zunächst der Vorsitzende Richter des 2. Senats am BSG, Prof. Dr. Spellbrink die Entwicklung der Rechtsprechung zu den Wirbelsäulen-Berufskrankheiten dar. 

Stand in der Rechtsprechung

Spellbrink hob hervor, dass wissenschaftliche oder wissenschaftlich begleitete Arbeitsergebnisse, zu denen insbesondere die 2005 erarbeiteten Konsensempfehlungen oder das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) gehörten, für die Gerichte unverbindlich seien. Diese seien nicht demokratisch legitimiert, nicht in einem transparenten Verfahren erarbeitet und auch nicht von zur Neutralität verpflichteten Autoren verfasst worden. 

Die Richterin am Sozialgericht Hannover Osterland hielt es für problematisch, dass es weiterhin keine hinreichend belastbaren Erkenntnisse über die Entstehung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule und auch keine wissenschaftlich breit abgesicherte Belastungsermittlung gebe. Als besonders schwierig erwiesen sich für die Tatsacheninstanz Befundlagen, für die in den Konsensempfehlungen kein Konsens niedergelegt sei. Der Gesetzgeber müsse ein Instrumentarium schaffen, der es den Rechtsanwendern erlaube, Einwirkungen und medizinische Befunde zu beurteilen.

Aus Sicht der Verwaltung

Der Hauptgeschäftsführer der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) Prof. Dr. Brandenburg sah angesichts des die Behörde betreffenden Fallaufkommens dazu aufgerufen, eine Weiterentwicklung der Konsensempfehlungen und die Erarbeitung von Begutachtungsrichtlinien zu fördern.

Aus ärztlicher Sicht

Die Perspektive ärztlicher Sachverständiger bei der Begutachtung Versicherter schilderte sodann Prof. Dr. Schiltenwolf, Leiter der Arbeitsgemeinschaft "Sozialmedizin und Begutachtungsfragen" der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Die teils große Erwartungshaltung treffe auf eine ergänzungsbedürftige medizinische Forschung. So ergebe sich aus der Deutschen Wirbelsäulenstudie nicht einmal, dass im Sinne der BK Nr. 2108 Exponierte signifikant häufiger erkrankten als die Gesamtbevölkerung. Deshalb bedürfe es einer deutlich breiter angelegten Untersuchung.

Prof. Dr. Bolm-Audorff, Landesgewerbearzt in Hessen, wies darauf hin, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule auch in anderen europäischen Ländern – wenn auch sehr unterschiedlich definiert - als Berufskrankheiten anerkannt seien. Die Beziehung zwischen Lastenhandhabung und Ganzkörpervibration und dem Bandscheibenverschleiß im Bereich der Lendenwirbelsäule werde von den meisten Autoren bejaht. Die Konsensempfehlungen bedürften der Überarbeitung, da sie in Teilen überholt seien.

Prof. Dr. Michael Kentner, Facharzt für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Sozialmedizin, hielt die Ergebnisse der Deutschen Wirbelsäulenstudie nicht für praktisch nutzbar und zog auch den Nutzen der Konsensempfehlungen in Zweifel, da diese bestimmte Konstellationen nicht bzw. nicht hinreichend differenziert abbildeten. Bei der Ermittlung der Bandscheibenbelastungen herrsche ebenso Unsicherheit wie bei der Beurteilung der Erkrankungen, weil es nach wie vor kein belastungskonformes Schadensbild gebe. 

Für den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. Menger müssen die Konsensempfehlungen weiterhin als aktueller Erkenntnisstand der Begutachtung zugrunde gelegt werden, unabhängig von der persönlichen Meinung des Gutachters. Nur so blieben Begutachtungen transparent und reproduzierbar.

Lebhafte Diskussion

Im Rahmen der Diskussion bestand Einigkeit, dass der Verordnungsgeber die Anerkennungsvoraussetzungen angesichts der medizinischen Erkenntnislage klarer definieren müsse. Entsprechende Initiativen des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) seien jedoch nicht ersichtlich. Bolm-Audorff vertrat die Ansicht, die Erarbeitung von Begutachtungsrichtlinien sei Aufgabe der Rechtsanwender, nicht hingegen des BMAS einschließlich des dort gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats. Schiltenwolf empfahl, Mindestbelastungsdosen als Anerkennungsvoraussetzungen zu definieren. Spellbrink hielt dies nicht nur für eine rechtlich unbedenkliche, sondern durchaus zu begrüßende Verfahrensweise.

Die Diskussion schloss mit weitgehendem Konsens darüber, dass das MDD und die Konsensempfehlungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG einstweilen weiter Grundlage für die Ermittlung des Umfangs der arbeitsbedingten Belastungen bzw. für die Klärung des Ursachenzusammenhangs sein könnten. 

Ausführlicher Bericht

Ein von der Richterin am Sozialgericht Pfriender - derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am BSG - verfasster ausführlicher Bericht über den Workshop ist kürzlich im Heft 21/2017 der Neuen Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) erscheinen.

Autor: Hans-Peter Jung & Dr. Oliver Schur (SGB VII-Kommission)

Anlass: Veranstaltungsbericht

Ein Schwerpunkt des Workshops waren die wissenschaftlichen oder wissenschaftlich begleiteten Arbeitsergebnisse, zu denen insbesondere die 2005 erarbeiteten Konsensempfehlungen oder das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) gehören. Es wurde interdisziplinär und lebhaft aus Sicht der Rechtsprechung, der Verwaltung und der Ärzteschaft diskutiert.

Rubrik:

Schlagwörter: Konsensempfehlungen 2005, Wirbelsäulen-Berufskrankheiten, Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)