Überlegungen zur Vergabe des Nachteilsausgleichs „RF“

04.04.2017 opener

Die neue Serie "Forum Medizin “ in "Sozialrecht heute" soll eine Plattform für medizinische Diskurse innerhalb des DSGT bieten. Dabei sollen sowohl ärztliche Beiträge mit sozialrechtlich relevanten Problemstellungen veröffentlicht, als auch medizinisch/juristische Fragestellungen diskutiert werden. Insbesondere wird ein reger Gedankenaustausch auch innerhalb der medizinischen Fachgebiete angestrebt. Schwerpunkte werden sich dabei wohl auf den Gebieten des Rentenrechts, des Schwerbehindertengesetzes sowie der gesetzlichen Unfallversicherung ergeben. Der erste Beitrag erscheint heute mit folgendem Thema: Überlegungen zur Vergabe des Nachteilsausgleichs „RF“

Eingangsproblematik

Bei der 1962 geborenen Klägerin war von Seiten der Versorgungsbehörde mit Bescheiden 1987 und 1994 ein GdB von 100 nebst Anerkennung der Merkzeichen „G“, „aG“ „H“ und „B“ festgestellt worden. Die Entscheidungen stützten sich dabei auf folgende Funktionsbeeinträchtigungen: "Beinbetonte spastische Tetraparese und geistige Behinderung mit hirnorganischen Veränderungen".

Ein Antrag auf Feststellung des Nachteilsausgleichs „RF“ vom Februar 2015 wurde unter Berücksichtigung von Befundberichten der behandelnden Ärzte sowie nach versorgungsärztlichen Stellungnahmen auch im Widerspruchsverfahren abgelehnt. Es sei nicht erkennbar, dass die Behinderte auf Dauer gehindert sei, ggf. in Begleitung an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. In dem sich anschließenden sozialgerichtlichen Klageverfahren schloss sich im September 2016 eine nichtöffentliche Sitzung zur Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie zur Beweisaufnahme an. Dazu war ich als Terminssachverständiger geladen. Die Klägerin erschien zum Termin im Rollstuhl unter Begleitung ihres Prozessbevollmächtigten.

Objektive Kriterien zum Nachteilsausgleich „RF“

Gemäß Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit Nr. 33, Seite 141 f sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt bei Blinden bzw. wesentlich Sehbehinderten oder auch Gehörlösen bzw. erheblich Hörgeschädigten. Überdies sind die Voraussetzungen bei behinderten Menschen mit einem GdB von wenigstens 80 erfüllt, wenn diese wegen ihres Leidens nicht ständig an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können. Hierzu gehören Menschen mit besonders schweren Bewegungsstörungen. Gleiches gilt für behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, für Menschen mit nicht nur vorübergehender ansteckungsfähiger Lungentuberkulose, für behinderte Menschen nach Organtransplantationen mit immunsuppressiver Medikation sowie für geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie bei dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen stören. Die behinderten Menschen müssen allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein.

Beurteilung aus Sicht des Sachverständigen

Bei der Klägerin lagen wegweisende Einschränkungen des Seh- oder auch des Hörvermögens nicht vor. Eine ansteckungsfähige Lungentuberkulose oder auch eine immunsuppressive Behandlungsbedürftigkeit nach Organtransplantation war nicht erkennbar. Auch bei schwerer Bewegungsstörung sah ich die Klägerin in der Lage, mit Hilfe von Begleitpersonen und unter Benutzung eines Rollstuhls öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise zu besuchen. Nach meiner Beurteilung wirke die Klägerin auch bei geistiger Behinderung mit hirnorganischen Veränderungen auf ihre Umgebung weder unzumutbar abstoßend noch sei zu befürchten, dass sie durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten störe. Aus medizinischer Sicht sei der Besuch öffentlicher Veranstaltungen nicht nur zumutbar, sondern auch zur Stabilisierung der seelischen Verfassung der Klägerin wünschenswert. Die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „RF“ wurde daher aus sachverständiger Sicht nicht empfohlen.

Beurteilung aus Sicht des Prozessbevollmächtigten

Diese Auffassung wurde von Seiten des Prozessbevollmächtigten nicht geteilt. Die UN-Behindertenrechtskonvention habe „Inklusion“ als Menschenrecht für Menschen mit Behinderungen erklärt. Dies bedeutet, dass alle Menschen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Im Falle der Klägerin sei zwar davon auszugehen, dass sie weder unzumutbar abstoßend oder störend wirke, auch sei ihr objektiv der Besuch öffentlicher Veranstaltungen mit Hilfe von Begleitpersonen und mit einem Rollstuhl möglich. Subjektiv sei ihr jedoch der Besuch öffentlicher Veranstaltungen verwehrt, da sie unter ihren schweren Behinderungen sehr leide, sich ständig beobachtet fühle und daher der Besuch öffentlicher Veranstaltjungen für sie selbst nicht zumutbar sei. Vor dem Hintergrund der Inklusion und der selbstbestimmten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sei daher das Merkzeichen „RF“ zuzuerkennen.

Keine Entscheidung

Diese Argumentationskette wurde von Seiten des beklagten Landes nicht aufgegriffen und dazu auf die zur Vergabe des Merkzeichens „RF“ geltenden „Anhaltspunkte“ verwiesen. Diese Ansicht wurde auch von Seiten des Gerichtes vertreten. Mir selbst erschien die Argumentation des Prozessbevollmächtigten durchaus nachvollziehbar und vor dem Hintergrund des Inklusionsgedankens plausibel. Die Klage wurde letztendlich zurückgenommen und die Rücknahme damit begründet, dass die Durchführung umfangreicher ärztlicher Untersuchungen zur Begutachtung  nicht gewünscht würde. Die Klägerin scheue die Durchführung gutachtlicher Untersuchungen. Aus diesem Grunde werde auch eine etwaige weiterführende Diskussion und Bewertung – möglicherweise im Rahmen eines Berufungsverfahrens – nicht angestrebt.

Diskussion des Falles beim 6. DSGT

Ich habe diese Kasuistik bereits im Rahmen der Kommissionssitzung SGB IX/SER/SB auf dem 6. DSGT vorgestellt. Hier wurde unter Berücksichtigung des Teilhabebegriffes der UN-BRK die Problematik durchaus kontrovers diskutiert. Die Anerkennung von Nachteilsausgleichen sei auch vor dem Hintergrund der individuellen Bedürfnisse festzustellen. Inwieweit eine Gesamtüberarbeitung der versorgungsärztlichen Gründsätze – bei der ja die ICF und die Teilhabe einbezogen werden sollen – Auswirkungen auch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „RF“ gewinnt, bleibt abzuwarten. Zwar hat der Nachteilsausgleich „RF“ nach wiederholter Ansicht des BSG seinen Sinn und Zweck verloren, der Nachteilsausgleich wurde jedoch bis dato noch nicht gestrichen. Ob vor dem Hintergrund der Inklusion nicht die individuelle Situation des Behinderten, sondern ausschließlich der objektive Befund die Entscheidungsgrundlage zur Vergabe des Nachteilsausgleichs „RF“ bilden soll, sollte weiter diskutiert werden.

Autor: Dr. med. Stefan Grüne, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Anlass: Forum Medizin, Kasuistik

Die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „RF“ führt in der Praxis immer wieder zu Umsetzungs– und Akzeptanzproblemen. Vor dem Hintergrund des Inklusionsgedankens und des Teilhabebegriffes der UN-BRK wird in der Kasuistik dazu auf eine Einzelfallbetrachtung eingegangen.

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Schlagwörter: Nachteilsausgleich , Teilhabe, Inklusion