Anmerkung zum 2. Pflegestärkungsgesetz und der damit verbundenen grundlegenden Reform der Pflegeversicherung

16.10.2017 opener

 

Seit dem 1. Januar 2017 liegen ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und auch ein Neues Begutachtungs-Assessment (NBA) vor. Das Maß für die Pflegebedürftigkeit des Menschen ist nunmehr die Selbstständigkeit insbesondere bei Bewältigung des Alltages und der entsprechende Unterstützungsbedarf.

Neuerungen zum 1. Januar 2017

Der Unterstützungsbedarf wird nunmehr in 4 Kategorien eingeteilt, nämlich selbstständig, überwiegend selbstständig, überwiegend unselbstständig und unselbstständig.

Während zuvor noch die Definition des Pflegebegriffes mit vorgegebenen, überwiegend täglichen Verrichtungen und der Notwendigkeit zu Hilfe dabei in Zeiträumen bzw. Minuten ausgedrückt wurde, kommt es jetzt auf das Maß der Selbstständigkeit bzw. die Häufigkeit zur Hilfe an. Diese Hilfebedürftigkeit teilt sich nunmehr in 6 Bereiche auf, nämlich die Mobilität, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, die Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen, die Selbstversorgung, die Bewältigung und der selbstständige Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen als auch die Gestaltung des Alltagsleben und der sozialen Kontakte.

Ziel der durchgeführten Reform

Ziel war, die Entscheidung in Bezug auf Pflegebedürftigkeit transparenter zu machen, unter anderem auch dadurch, dass dem Antragsteller das Gutachten zur Verfügung gestellt wird. Darüber hinaus soll im Prinzip eine allumfassende Begutachtung durchgeführt werden mit Empfehlung zur Förderung oder zum Erhalt der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten, aber auch zur Prävention und Rehabilitation, zu Heil- und Hilfsmitteln, zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen usw.

Kritik am Neuen Begutachtungs-Assessment (NBA)

Betrachtet man das NBA und das daraus resultierende Gutachten, so stellt man sehr schnell fest, dass insbesondere hinsichtlich der Transparenz doch erhebliche Probleme bestehen, da nicht wie zuvor einfach Zeiten addiert werden können, sondern vielmehr die im Gutachten benannten Punkte in sog. gewichtete Punkte umgerechnet werden müssen.

Bei den jetzt 5 bestehenden Pflegegraden, die naturgemäß hinsichtlich der Bewertung deutlich enger beieinander liegen als die zuvor bestehenden 3 Pflegestufen, treten gerade im Grenzbereich deutliche Unklarheiten auf. So kann man z.B. nicht bei Verschieben einer Bewertung von überwiegend selbstständig mit einem Punktwert von 1 zu überwiegend unselbstständig mit einem Punktwert von 2 im Ergebnis einen Punkt addieren und damit eine höhere Stufe erreichen, da die erzielten Punkte ja noch gewichtet werden müssen. Dies führt zu einer erheblichen Zunahme der Widersprüche.

Zudem ist die Begrifflichkeit selbstständig und unselbstständig relativ klar zu definieren, die Unterschiede zwischen überwiegend selbstständig und überwiegend unselbstständig sind für den Laien jedoch kaum nachvollziehbar und für den Gutachter nur durch ausführlichste Beschreibungen in den Richtlinien zu lösen bzw. aufzulösen. Auch in diesem Bereich ist somit die Transparenz eher gering einzuschätzen.

Gewichtung der Module

Hinzu kommt noch, dass für den Pflegegrad die Module unterschiedlich gewichtet sind. So ist für das Modul 1 „Mobilität“ eine Gewichtung von 10% vorhanden, die Module 2 und 3 werden zusammengezogen und nur dasjenige mit dem höheren Wert findet Berücksichtigung mit einem prozentualen Anteil von 15%, wohingegen die Selbstversorgung bei 40% gewichtet wird, die Bewältigung krankheits- und therapiebedingter Anforderungen mit 20% sowie die Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte mit 15%.

Darüber hinaus ist ein erhebliches Widerspruchs- und Klagepotenzial im Bereich der Heil- und Hilfsmittel, insbesondere aber auch im Bereich der Rehabilitation zu erkennen. Die überwiegende Anzahl der Gutachten wird durch Pflegefachkräfte durchgeführt, wobei jedoch die Beurteilung der Rehabilitationsbedürftigkeit und –fähigkeit eine ärztliche Leistung darstellt. Man versucht dies dahingehend aufzulösen, dass die Gutachten von Ärzten gegengelesen werden und eine entsprechende Stellungnahme zum Thema Rehabilitation von diesen erfolgt.

Drohende Widerspruchs- und Klageverfahren

Aus den obigen Ausführungen ist meines Erachtens klar zu erkennen, dass die neue Pflegebegutachtung eine riesige Zahl von Fällen und Begutachtungen ausmacht, die Transparenz eher schlechter als besser geworden ist, was dann auch zu einer entsprechenden massiven Häufung von Widersprüchen und vermutlich auch durchzuführenden Klageverfahren führt.

Die Grenzen zwischen den Pflegegraden sind im Prinzip fließend, die im Gutachten zu tätigenden Aussagen in vielen Bereichen nicht objektiv nachprüfbar, sodass man in weiten Teilen auf die Aussagen der betreuenden Personen bzw. der antragstellenden Personen angewiesen ist. Dies führt natürlich zu erheblichen Problemen und Differenzen in der Begutachtung, da nur ein Teil der Aussagen auch objektiv aus den vorhandenen krankheitsbedingten Beeinträchtigungen abzuleiten ist (z.B. Häufigkeit der Arztbesuche, der Therapien etc.). Im Prinzip müsste hier auch festgestellt werden, ob denn die durchgeführten Therapien notwendig und sinnvoll sind, auch wenn sie ausgeführt werden.

Erschwerend kommt zusätzlich noch hinzu, dass gerade bei der doch durch demenzbedingte Einschränkungen geprägten Pflegebegutachtung relativ rasche Änderungen des Zustandsbildes möglich sind. Die Begutachtung im Klageverfahren ist ja auch heute schon dadurch erheblich beeinträchtigt, dass sehr häufig über länger zurückliegende Zeiten entschieden werden muss und keine verlässlichen und objektivierbaren Daten über den Verlauf vorliegen.

Es ist davon auszugehen, dass spätestens Ende des Jahres die ersten Klageverfahren bei den Sozialgerichten eingehen und dann entsprechend die Richterschaft, aber auch die Sozialverbände, die Anwälte und die Gutachter beschäftigen werden.

Autor: Dr. med. Dimmek, Leitender Arzt, Knappschaft Bahn See, SGB XI Kommissionsvorsitzender

Anlass: Pflegeversicherungsreform

Ziel der durchgeführten Reform war es insbesondere, die Entscheidung in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit transparenter zu machen. Betrachtet man das Neue Begutachtungs-Assessment (NBA) und das daraus resultierende Gutachten, so ist festzustellen, dass hinsichtlich der Transparenz erhebliche Probleme bestehen, weil die im Gutachten benannten Punkte nach einem komplizierten Verfahren in sog. gewichtete Punkte umgerechnet werden müssen. Mit einer Vielzahl von Widerspruchs- und Klageverfahren ist zu rechnen.

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Schlagwörter: Reform der Pflegeversicherung, Neues Begutachtungs-Assessment (NBA), Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff