Stellungnahme zum Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG)

18.06.2017 opener

Kritik am Gesetzgebungsverfahren

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) weist unter Bezugnahme auf seine bereits auf dem 6. DSGT im November 2016 geäußerte Kritik erneut darauf hin, dass das kurzfristige und intransparente Gesetzgebungsverfahren kein partizipatives Verfahren bei der Auseinandersetzung mit den angedachten Änderungen möglich macht. Der DSGT konzentriert sich aus diesem Grund nur auf ausgewählte Regelungen im Rahmen dieser Stellungnahme.

Bedarf an neuen Vorschriften?

Nach Auffassung des DSGT hat sich das SGB VIII bewährt und ist ein gutes Gesetz für junge Menschen und ihre Familien. Die Herausforderungen, denen mit dem KJSG begegnet werden soll, sind aus Sicht des DSGT vor allem auf Defizite im Rahmen des Vollzugs der bestehenden gesetzlichen Regelungen zurückzuführen und nicht auf einen Bedarf an neuen Vorschriften. Der DSGT empfiehlt, die Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe ausreichend mit Finanzen und qualifiziertem Personal auszustatten, um den bestehenden gesetzlichen Regelungen entsprechend nachkommen zu können. Den Einwand, dass aufgrund fehlender bzw. begrenzter Mittel ein besserer Vollzug der gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich sei, kann der DSGT nicht anerkennen – das wirtschaftlich starke Deutschland muss und kann einen wirksamen Vollzug der Gesetze leisten. Der DSGT hat grundsätzliche verfassungsrechtliche, aber auch fachliche Bedenken bezogen auf die Regelungen in § 36a SGB VIII-E, §§ 1632 IV, 1696 III BGB-E.

§ 36a SGB VIII-E "Perspektivklärung"

§ 36a I SGB VIII-E sieht vor, dass eine „Perspektivklärung“ bereits vor der Entscheidung über eine Hilfe, also im Rahmen des Verfahrens zur Aufstellung des ersten Hilfeplans, prognostiziert werden muss, ob die Leistung zeitlich befristet sein oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten soll. Maßgeblich ist nach § 36a Abs. 2 SGB VIII-E, ob in einem vertretbaren Zeitraum die Situation in der Herkunftsfamilie soweit verbessert werden kann, dass die Herkunftsfamilie das Kind oder den Jugendlichen wieder selbst erziehen kann.

Der DSGT weist darauf hin, dass die damit vorgesehene „Perspektivklärung“ zu Beginn des Hilfegeschehens in den wenigsten Fällen möglich sein wird. Es handelt sich bei der „Perspektivklärung“ um eine Aufgabe, die Flexibilität aushalten und ermöglichen muss. Es sollte weniger die Klärung einer ungewissen Perspektive am Beginn des Hilfegeschehens im Vordergrund stehen, sondern vielmehr der Gedanke vorherrschen, eine wirksame Hilfe in der gegenwärtigen Lage zu ermitteln.

In diesem Zusammenhang gibt der DSGT zu bedenken, dass Schwierigkeiten bei der Umsetzung der bestehenden Regelungen zum Hilfeplanverfahren vorhanden sind, die darin bestehen, dass die bereits teilweise überlasteten Fachkräfte vor Ort diese verantwortungsvolle und mit weitreichenden Folgen versehene Aufgabe nicht entsprechend übernehmen können. Der DSGT weist darauf hin, dass gerade diese realen Umstände vor Ort zu einer Gefahr für die Betroffenen führen können, wenn eine solche Perspektivklärung im ersten Hilfeplanverfahren erfolgen soll.

Unvereinbarkeit des § 36a SGB VIII-E mit Art. 6 GG

Hintergrund der Regelung ist, Kindern und Jugendlichen Sicherheit über ihren Lebensmittelpunkt zu verschaffen. Die unbestimmten Rechtsbegriffe (z.B. vertretbarer Zeitraum) sind zwar verfassungskonform auslegbar, werfen aber im Hinblick auf Art. 6 GG erhebliche Verfassungsbedenken auf. In diesem Zusammenhang weist der DSGT auf eine aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hin, in der betont wird, dass Kinder aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung haben. Der DSGT empfiehlt, Kriterien für die „Perspektivklärung“ zu entwickeln und sie damit zumindest etwas handhabbarer zu machen. Dabei sollte auch bedacht werden, auf das Verhältnis der teils parallel, teils gegenläufigen Grundrechte von Kindern und Jugendlichen zu den Grundrechten der Eltern einzugehen. Der DSGT gibt zudem zu bedenken, dass aufgrund der unbestimmten Rechtsbegriffe noch größere Unsicherheit entstehen und eine jahrelange Zersplitterung der Rechtsprechung herbeigeführt werden könnte.

Widersprüchliche Formulierungen in den §§ 1632 IV, 1696 III BGB-E

Der DSGT weist darauf hin, dass sich in den Regelungen §§ 1632 Abs. 4, 1696 Abs. 3 BGB-E die Formulierungen widersprechen. In § 1632 Abs. 4 BGB-E ist das Wohl des Kindes der Maßstab („…wenn die Anordnung zum Wohl des Kindes erforderlich ist.“), in § 1696 Abs. 3 BGB-E ist hingegen davon die Rede, dass die Entscheidung dem „Kindeswohl widerspricht („… es sei denn, die Wegnahme von der Pflegeperson widerspricht“). Damit bezeichnen die beiden Vorschriften eine unterschiedliche Schwelle bei der Berücksichtigung des Kindeswohls. Die damit verbundenen Folgen sind noch nicht geklärt, ebenso wenig ist geprüft, ob dies auch im Sinne des Kindes oder des Jugendlichen ist. Auch hier dürfte die bereits zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2017 in Hinblick auf eine Senkung der Eingriffsschwelle des Staates in die elterliche Erziehungsverantwortung Bedeutung erlangen.

Autor: SGB VIII-Kommission des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.

Anlass: Stellungnahme des DSGT e.V.

Nach Auffassung des DSGT e.V. hat sich das SGB VIII bewährt und ist ein gutes Gesetz für junge Menschen und ihre Familien. Die Herausforderungen, denen mit dem KJSG begegnet werden soll, sind vor allem auf Defizite im Vollzug der bestehenden gesetzlichen Regelungen zurückzuführen. Der DSGT e.V. hat bezogen auf die Regelungen in § 36a SGB VIII-E, §§ 1632 IV, 1696 III BGB-E grundsätzliche verfassungsrechtliche und fachliche Bedenken.

Rubrik:

Schlagwörter: Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, SGB VIII, Perspektivklärung, Kindeswohl