6. DSGT: Schwerpunkte der Kommission Ethik im sozialrechtlichen Verfahren

06.02.2017 opener

Die Kommission „Ethik im sozialrechtlichen Verfahren“ befasste sich im Wesentlichen mit der Umsetzung der auf dem 5. Deutschen Sozialgerichtstag entwickelten „Potsdamer Ethik-Grundsätze“ auf praktischer Ebene.

Soziale Menschenrechte in internationalen Konventionen

In seinem einleitenden Vortrag „40 Jahre soziale Rechte im Sozialgesetzbuch – noch zeitgemäß?“ verdeutlichte Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer die Bedeutung der in internationalen Verträgen und Konventionen niedergelegten sozialen Menschenrechte für die Interpretation und Auslegung der sozialen Rechte im Sozialgesetzbuch. Heranzuziehen seien sie etwa für die Ausfüllung von Ermessensspielräumen und als Argumentationshilfe für die Durchsetzung von Leistungsansprüchen.

Die Kommission entwickelte sodann eng an das Anforderungsprofil der Ethik-Grundsätze angelehnt Vorschläge zu Fortbildungsangeboten für die am sozialrechtlichen Verfahren beteiligten Berufsgruppen. Als solches wollte sie auch den Vortrag von Prof. Dr. Birte Englich zu Einflüssen auch auf die gerichtliche Entscheidungsfindung verstanden wissen, der auf Anregung der Kommission in das Programm des 6. Deutschen Sozialgerichtstags aufgenommen worden war.

"Warum entscheide ich wie?"

Tiefe Einblicke in die psychologischen Hintergründe der Entscheidungsfindung gab der Vortrag "Warum entscheide ich wie?" von Frau Prof. Dr. Birte Englich, Professorin für Angewandte Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung an der Universität Köln. Ausgehend von einem Experiment zu normativen sozialen Einflüssen machte sie auf die Irritationen aufmerksam, die davon ausgehen können, dass die Mehrheit einer Gruppe bestimmte Entscheidungen trifft.

Arten der Informationsverarbeitung

Sodann stellte sie die Zwei-System Theorie vor, nach der es zwei Arten der Informationsverarbeitung gebe: eine intuitive und eine reflektive. Die meisten Entscheidungsprozesse liefen über das intuitive System ab, das leichter zu beeinflussen sei. In Abhängigkeit von unterschiedlichen Begriffen in einer Fragestellung ergeben sich signifikant unterschiedliche Ergebnisse. Praktisch demonstrierte sie dies an einem kurzen Film und verdeutlichte, was Zeugen übersehen können, selbst (oder gerade) wenn sie ganz genau hinschauen.

Optische Täuschungen

Im Anschluss an Beispiele optischer Täuschungen wies Prof. Dr. Englich darauf hin, wie Erwartungen unsere Wahrnehmung steuern, was insbesondere auch für Vorurteile und Stereotype gelte. Dies führe u.a. dazu, dass wir unsere Erinnerung an diese Erwartungen angleichen. Entscheidungsverzerrende Effekte könnten aber kognitiv korrigiert werden. Um die Wirkung von Stereotypen zu unterstreichen, stellte sie sodann eine US-amerikanische Untersuchung vor, wonach Straftäter mit afro-amerikanischen Gesichtszügen auch ohne dunkle Hautfarbe tendenziell höhere Strafen erhielten. Demgegenüber dürften vor den Sozialgerichten nach ihrer Auffassung eher positive Stereotype eine Rolle spielen. Hierzu gehöre die Beobachtung, dass schöne Menschen als deutlich sozialkompetenter, humorvoller und angenehmer empfunden werden als andere.

Emotionen und Entscheidungsfindung

Den Einfluss unserer Emotionen auf unsere Entscheidungen zeigte Prof. Dr. Englich anhand weiterer Studien. Der Effekt sei auch für moralische Urteile nachweisbar. Befinde man sich in fröhlicher Stimmung, so werde ein Vorgang häufig als weniger problematisch oder unmoralisch empfunden. Ergänzend verwies sie auf eine israelische Studie, die die Abhängigkeit von Entscheidungen über Bewährungsanträge von der Zeit seit der letzten Pause des Richters nachwies; je länger diese zurückliege, desto negativer fielen die Entscheidungen aus, was auch einen geringeren Begründungsaufwand für die Richter bedeute.

"better-than-everage"- Effekt

Für einige Überraschung sorgte dann die Vorstellung des Better-than-average-Effekts: Je größer die Erfahrung des Entscheidenden, desto sicherer sei er sich seiner Entscheidung. Jedoch bestehe nachweisbar kein signifikanter Unterschied zur Beeinflussbarkeit von Entscheidungen weniger erfahrener Entscheider. Große Erfahrung und Expertenstatus führten leicht zu einer gewissen Überschätzung der eigenen Entscheidungssicherheit.

"Anker"-Effekt

Vertieft ging Prof. Dr. Englich sodann auf eigene Untersuchungen zum sog. Anker-Effekt ein. Diesen zeige beispielsweise folgendes Experiment: Werde an einem Glücksrad eine niedrige Zahl vorgegeben, werde die Zahl der Afrikanischen Staaten in der UNO niedriger geschätzt als bei Vorgabe einer größeren Zahl. Solche Effekte träten auch auf, wenn die Zahlen völlig unwahrscheinlich seien oder die Probanden um besonders hohe Aufmerksamkeit gebeten würden. Der Effekt trete selbst bei Experten auf. Die Relevanz dieses Effektes bei Gericht zeigen Untersuchungen zu Schadensersatzurteilen in den USA. Aber auch in Deutschland sei ein Ankereffekt der Forderung des Staatsanwalts für die Haftdauer nachweisbar, was auch für erfahrene Strafrechtler gelte. Diese sind sich zwar sicherer in ihrem Urteil, aber genauso beeinflussbar. Der Anker-Effekt sei sogar dann nachweisbar, wenn die Probanden die „Forderung" selbst erwürfeln müssen, selbst wenn sie merkten, dass Würfel gezinkt seien: Je größer die erwürfelte „Forderung“, desto länger die angeordnete Haft. Schließlich sei auch feststellbar, dass die Reihenfolge der Forderungen von Staatsanwalt und Verteidigung eine erhebliche Rolle spiele.

"Mentale Kontamination" korrigieren

Abschließend sprach Prof. Dr. Englich Möglichkeiten an, sich vor diesen Effekten zu schützen. Die sog. Korrektur mentaler Kontamination könne in fünf Schritten beschrieben werden:

1. Ein unerwünschter Prozess werde in Gang gesetzt;

2. Dieser müsse bemerkt und erkannt werden;

3. Der Entscheidende müsse motiviert sein, dies zu korrigieren;

4. Es sei Wissen über Richtung und Größe des Einflusses erforderlich;

5. Es bedürfe der Fähigkeit zur Korrektur.

Hierzu sei Selbstkontrolle bezüglich dieser Einflüsse notwendig, Schulung und Aufklärung hierüber, wie auch die Stärkung der Motivation zum bewussten Umgang mit entscheidungsbeeinflussenden Faktoren. Hilfreich sei vor allem das gezielte Durchspielen von alternativen Entscheidungsmöglichkeiten als Weg zur Verringerung von Ankereffekten. Schließlich sei es wichtig, kognitive Ressourcen im Auge zu behalten, um Übermüdung, Hunger und anderen selbstverursachten Effekten vorzubeugen.

Die anschließende Diskussion zeigte deutlich die Nachdenklichkeit des Auditoriums, das sich gerade auch in seiner Rolle als erfahrene und damit urteilssichere Experten und Expertinnen angesprochen fühlte.

Autor: Bericht der Kommissionsvorsitzenden VRiLSG Martin Löns und VRiLSG Michael Wolf-Dellen sowie des RiBSG Dr. Christian Mecke

Anlass: Bundestagung des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.

Die Kommission befasste sich im Wesentlichen mit der Umsetzung der auf dem 5. DSGT entwickelten „Potsdamer Ethik-Grundsätze“ auf praktischer Ebene. Beleuchtet wurde die Bedeutung in internationalen Verträgen und Konventionen niedergelegter sozialer Menschenrechte für die Interpretation und Auslegung der sozialen Rechte im Sozialgesetzbuch. Einen tiefen Einblick in die psychologischen Hintergründe der Entscheidungsfindung bot der Vortrag "Warum entscheide ich wie?"

Rubrik:

Schlagwörter: Potsdamer Ethik-Grundsätze, psychologische Hintergründe der Entscheidungsfindung, soziale Rechte in internationalen Verträgen