Nachhaltigkeit im Sozialrecht

09.04.2019 opener

Förderung von Bildung und lebenslangem Lernen im Sinne der Nachhaltigkeit.

Jeder in Deutschland Lebende ist unmittelbar vom Sozialrecht betroffen. Hingewiesen sei nur auf die Verpflichtung jeder Person mit Wohnsitz im Inland, eine (private) Krankenversicherung zu unterhalten, sofern keine Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung oder eine vergleichbare Absicherung besteht (§ 193 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz). Für Studierende wird dies u. a. durch die Verpflichtung durchgesetzt, der Hochschule zur Einschreibung eine Versicherungsbescheinigung vorzulegen (§ 2 Studentenkrankenversicherungs-Meldeverordnung).

Zugleich kann die wirtschaftliche Bedeutung des Sozialrechts nicht überschätzt werden: 965,5 Mrd. € wurden 2017 für soziale Leistungen ausgegeben. Dies entspricht 29,6 % des Bruttoinlandsproduktes (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget 2017, S. 6, https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a230-17-sozial-budget-2017.html). Fast 5,4 Mio. Menschen arbeiten im Gesundheits- und Sozialwesen (Statistisches Bundesamt, Erwerbstätige: Deutschland, Jahre, Wirtschaftszweige [WZ 2008], Geschlecht, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleErgebnis/ 12211-0009), hinzukommen noch einmal 370.000 Mitarbeiter der Sozialversicherungsträger (Statistisches Bundesamt, Personal des öffentlichen Dienstes, Beschäftigte nach Art des Dienst- oder Arbeitsvertragsverhältnisses, 30.06.2017, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/OeffentlicheFinanzenSteuern/OeffentlicherDienst/Personal/Tabellen/Beschaefti-gungsbereiche.html). Angesichts dieser gewaltigen Zahlen drängt sich die Frage der Nachhaltigkeit des Mitteleinsatzes geradezu auf. Wo und wie Nachhaltigkeitsüberlegungen im Sozialrecht relevant werden, soll nachfolgend untersucht werden.

Nachhaltigkeit – Eine globale Verpflichtung

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ als solcher ist schwer zu fassen. Er wird heute in einer Vielzahl von Zusammenhängen mit fast ebenso vielen inhaltlichen Variationen genutzt (vgl. nur den Eintrag „Nachhaltigkeit“ in Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Nachhaltigkeit). In seiner deutschen Grundbedeutung umschreibt er eine „längere Zeit anhaltende Wirkung“ (Eintrag „Nachhaltigkeit“ in Duden online Wörterbuch, https://www.duden.de/rechtschreibung/Nachhaltigkeit). Im öffentlichen Diskurs scheint aber ein an das forstwirtschaftliche Nachhaltigkeitsprinzip angelehntes, umwelt- und entwicklungspolitisch geprägtes Wortverständnis zu dominieren. In diesem Sinne umschreibt der Begriff Nachhaltigkeit ein Prinzip, wonach nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren oder künftig wieder bereitgestellt werden kann (vgl. die Einträge „Nachhaltigkeit“ in Duden online Wörterbuch und Wikipedia, ebd).

Einem solchen Nachhaltigkeitsverständnis entspricht auch die „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie“ der Bundesregierung (Die Bundesregierung, Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, 2016, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/berichte-und-reden/berichte-der-bundesregierung-418550). In ihrer aktuellen Fassung berücksichtig sie insbesondere die von den Vereinten Nationen 2015 verabschiedete globale Agenda für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) und die 17 darin festgelegten globalen Ziele (Sustainable Development Goals). Die Strategie orientiert sich an drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung, deren Unterscheidung Abhängigkeiten und Zusammenhänge aufzeigt. Dies sind Ökonomie, Ökologie und Soziales (Die Bundesregierung, Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, 2016, S. 54). Damit nehmen Agenda 2030 und Nachhaltigkeitsstrategie auch Gegenstände in den Blick, die der Regulation durch das Sozialrecht unterliegen. Dies gilt insbesondere für das erste globale Ziel, Beendigung von Armut, aber auch für das vierte Ziel, Gewährleistung inklusiver, hochwertiger Bildung und der Förderung lebenslangen Lernens.

Maßnahmen der Bundesregierung zur Umsetzung dieser Ziele sind auf dem Gebiet des Sozialrechts u. a. die Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, die Verbesserung der Rentenleistungen für langjährig Versicherte mit geringen Anwartschaften, die regelmäßige Anpassung der Regelsätze in der Grundsicherung (Die Bundesregierung, Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, 2016, S. 56) sowie Verbesserungen bei der Ausbildungsförderung (BAföG; Die Bundesregierung, Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, 2016, S. 92). Diesen Zielen zuordnen lassen sich aber auch das Teilhabechancengesetz sowie das Qualifizierungschancengesetz, die zum 01.01.2019 in Kraft treten werden. Mit Ersterem wird ein neues Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ innerhalb des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II; Das Sozialgesetzbuch [SGB] ist in zwölf Bücher [I bis XII] untergliedert, die entweder spezielle Regelungen für einzelne fachliche Bereiche des Sozialrechts [z. B. Grundsicherung, Arbeitsförderung, Krankenversicherung usw.] oder allgemeine fachbereichsübergreifende Regelungen enthalten) eingeführt, welches Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und dem sozialen Arbeitsmarkt schaffen soll (Entwurf Teilhabechancengesetz – 10. SGB II-ÄndG, BT-Drucks. 19/4725 S. 1). Das zweite will u. a. durch eine Stärkung der Weiterbildungsförderung und -beratung eine Antwort auf die Herausforderungen des digitalen und demografischen Wandels geben. Dazu soll auch im Interesse der Fachkräftesicherung die Möglichkeit verbessert werden, Qualifikationen durch Fortbildungen zu erneuern. Hierdurch sollen berufliche Aufstiege oder – wenn nötig – auch Umstiege ermöglicht werden (Entwurf Qualifizierungschancengesetz, BT-Drucks. 19/4948 S. 1 f.)

Nachhaltigkeit – eine (sozial-)rechtliche Verpflichtung?

Sowohl die Agenda 2030 als auch die „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie“ sind als solche rechtlich nicht bindend. Vielmehr sind sie Ausdruck politischer Ziel-setzungen. Für den Juristen stellt sich in solchen Fällen stets die Frage, ob diese Zielsetzungen auch Niederschlag in den Gesetzen, für das Sozialrecht also vor allem im Sozialgesetzbuch, gefunden haben. Gibt man die Begriffe „nachhaltig“ oder „Nachhaltigkeit“ in eine juristische Suchmaschine ein, so erhält man Treffer in nur 14 der mehr als 3000 Paragraphen des Sozialgesetzbuchs.

Verstreute Fundstellen

Vielfach erscheint der Begriff „nachhaltig“ im eigentlichen Wortsinn als Umschreibung einer längere Zeit anhaltenden Wirkung bzw. eines solchen Zustands:

- § 16g Abs. 2 SGB II lässt „zur nachhaltigen Eingliederung in Arbeit“ die Erbringung bestimmter Leistungen zu, auch wenn Hilfebedürftigkeit durch Beschäftigungsaufnahme entfallen ist (sog. nachgehende Betreuung).

– § 76 Abs. 3 SGB III gewährt eine Prämie für eine „nachhaltige Vermittlung“ aus einer außerbetrieblichen in eine betriebliche Ausbildung. Als „nachhaltig“ gilt eine Dauer des betrieblichen Ausbildungsverhältnisses von mehr als vier Monaten.

– Für das Vorschlagsrecht einer Arbeitgebervereinigung bei Sozialversicherungswahlen verlangt § 48a Abs. 4 SGB IV u. a. ein Beitragsaufkommen, das diese Vereinigung in die Lage versetzt, „ihre Vereinstätigkeit nachhaltig auszuüben“.

– § 20 Abs. 3 SGB V benennt das Gesundheitsziel der nachhaltigen Be-handlung von depressiven Erkrankungen.

– § 37 SGB VIII enthält das Merkmal der Nichterreichbarkeit einer nachhaltigen Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie als Voraussetzung für eine ggf. dauerhafte Herauslösung aus dieser Familie.

– Nach § 51 Abs. 2 SGB VIII entfällt eine Beratungspflicht des Jugendamtes im Adoptionsverfahren, wenn bei „Herausgabe“ des Kindes an einen (natürlichen) Elternteil eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens des Kindes zu erwarten ist.

Nachhaltigkeitsrücklage und Nachhaltigkeitsfaktor

Allein sieben Treffer erbringen Regelungen zur Nachhaltigkeitsrücklage in der gesetzlichen Rentenversicherung (§§ 153, 154, 158, 214, 216, 217, 219 SGB VI). Diese „gemeinsame Nachhaltigkeitsrücklage“ haben die Träger der allgemeinen Rentenversicherung vorzuhalten. Ihr werden „die Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben zugeführt“, Defizite sind aus ihr zu decken (§ 216 SGB VI).

Bis 2004 wurde diese Rücklage als Schwankungsreserve bezeichnet und diente dazu, unterjährige Schwankungen in der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung auszugleichen. Mit dem Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz (RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21.07.2004, BGBl I 2004, 1791) erhielt sie darüber hinaus die Funktion, konjunkturelle Schwankungen bei den Beitragseinnahmen aufzufangen. Hierzu wurde die Obergrenze der Rücklage, bei deren Überschreiten der jährlich festzulegende Beitragssatz abzusenken ist (§ 158 SGB VI.) angehoben, um künftigen Einnahmeproblemen nachhaltiger entgegenzuwirken und hierdurch den Beitragssatz mittelfristig zu stabilisieren (Begründung zum Entwurf des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, BT-Drucks. 15/2149, 20). Allerdings stehen sowohl die geltende Obergrenze von 1,5 Monatsausgaben als auch die politische Verlockung, vorhandene Rücklagen für an Wahlterminen orientierte Leistungsausweitungen zu missbrauchen (Vgl. Gunkel in Eichenhofer/Rische/Schmähl, Handbuch der Gesetzlichen Rentenversicherung, 2011, Kapitel 34 RdNr. 137 ff.), einem wirksamen Ausgleich künftiger demografischer Herausforderungen des Umlagesystems entgegen.

Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf diese Herausforderungen ist der letzte Treffer, der Nachhaltigkeitsfaktor in der sog. Rentenformel (§ 68 SGB VI), der ebenfalls auf das RV-Nachhaltigkeitsgesetz zurückgeht (RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21.07.2004, BGBl I 2004, 1791). Die Rentenformel legt fest, welchen Geldbetrag Rentner für ihre erworbenen Ansprüche erhalten (aktueller Rentenwert) und damit auch, um welchen Wert die Renten jährlich steigen. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt sich regelmäßig dämpfend auf den grundsätzlich an der Bruttolohnentwicklung orientierten Anstieg der Renten aus, indem er die Relation von Rentnern zu Beitragszahlern wiedergibt. Dadurch werden neben der Entwicklung der (stetig steigenden) Lebenserwartung sowohl die (tendenziell rückläufige) Entwicklung der Geburten als auch die der (konjunkturell z. Z. hohen) Erwerbstätigkeit auf die Rentenanpassung übertragen (Begründung zum Entwurf des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, BT-Drucks. 15/2149, 22). Die Anpassung fällt umso geringer aus, je ungünstiger das Zahlenverhältnis von Leistungsbeziehern (Rentnern) zu versicherungspflichtig Beschäftigten (Beitragszahlern) ist (Blüggel in juris-Praxiskommtar SGB VI, § 68 RdNr. 39). Aufgrund der in den 1960er Jahren einsetzenden Umkehrung der Bevölkerungspyramide führt dieser Faktor langfristig zu einer Absenkung des Rentenniveaus.

Der Nachhaltigkeitsfaktor zielt darauf ab, eine sachgerechte Aufteilung der aus den genannten Entwicklungen folgen-den Lasten zwischen Beitragszahlern und Rentnern zu gewährleisten (Begründung zum Entwurf des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes, BT-Drucks. 15/2149, 18). Im Rahmen einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Politik soll er den Grundsatz der Generationengerechtigkeit (zur Generationengerechtigkeit als Element nachhaltiger Politik vgl. auch https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/die-deutsche-nachhaltigkeitsstrategie-318846) wahren, dem im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung besondere Bedeutung zukommt. Denn diese arbeitet nach dem Umlageverfahren, das anders als Kapitaldeckungsverfahren kein Ansparen von Rücklagen zur Auszahlung im Alter kennt. Vielmehr werden die von den heutigen Beschäftigten eingenommenen Beiträge (zuzüglich der Bundeszuschüsse) sofort wieder an die heutigen Rentner ausgezahlt.

Das Umlageverfahren beruht auf der Idee des Generationenvertrags, wonach die heute Erwerbstätigen die heutigen Renten finanzieren. Dafür erwerben sie Ansprüche gegenüber nachfolgenden Generationen, die ihre Renten zu finanzieren haben werden. Somit werden drei Generationen in diesem „Vertrag“ gebunden (vgl. Hüfken in Eichenhofer/Rische/Schmähl [Fn. 20], Kapitel 23 RdNr. 54 ff.). Wegen der heute entstehenden, bei noch jungen Versicherten aber erst in Jahrzehnten fälligen Ansprüche muss Rentenpolitik in besonderem Maße nachhaltig sein. Sie muss auch in 50 Jahren ein Rentenniveau gewährleisten, das die Beitragsbelastung der heute Beschäftigten als „gerecht“ erscheinen lässt, und gleichzeitig verhindern, dass nachfolgende Generationen durch die zur Befriedigung heute erworbener Rentenansprüche notwendige Beitragslast erdrückt werden.

Fazit

Eine allgemeine Bindung des Sozialrechts an das Ziel der „Nachhaltigkeit“, lässt sich den zitierten Normen des Sozialgesetzbuchs nicht entnehmen. Auch das Grundgesetz enthält keine solche Bindung. Allerdings können Nachhaltigkeitsgesichtspunkte wie die langfristige Sicherung der Stabilität und Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme Eingriffe in erworbene Ansprüche und Anwartschaften rechtfertigen, selbst wenn diese dem Eigentumsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG unterliegen (Hebeler, Nachhaltigkeit der Sozialsysteme unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, NZS 2018, 848, 851).

Zudem werden sich im Rahmen einer umfangreicheren Untersuchung zahlreiche sozialrechtliche Regelungen finden lassen, die Nachhaltigkeitsgesichtspunkte berücksichtigen oder die Umsetzung der globalen Ziele fördern, ohne die Begriffe „nachhaltig“ oder „Nachhaltigkeit“ zu benennen, wie z. B. der alle Sozialversicherungsträger verpflichtende Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 69 Abs. 2 SGB IV). Die Nachhaltigkeit des Sozialrechts wie auch sozial(rechts)-politischer Entscheidungen kritisch zu würdigen, steht gerade jungen Juristen gut an, denn ihre Generation wird die Folgen mangelnder Nachhaltigkeit zu tragen haben.

Siehe auch:
Der Wirtschaftsführer für junge Juristen 2019

Autor: RiBSG Dr. Christian Mecke

Kaum ein Rechtsgebiet wird so sehr unterschätzt wie das Sozialrecht. Im Pflichtenkanon der juristischen Ausbildung spielt es trotz seiner enormen wirtschaftlichen Bedeutung so gut wie keine Rolle. Im folgenden Beitrag wurden Begriff, Stellung und Ziele der Nachhaltigkeit im Sozialrecht, diesem 1-Billionen-Euro-Sektor, beleuchtet.

Rubrik:

Schlagwörter: Nachhaltigkeit, Sozialversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Sozialrecht