Klagewelle: Krankenkassen fordern Geld von Krankenhäusern zurück

05.12.2018 opener

In den Tagen vor dem 9. November 2018 sind tausende von Klagen bei den Sozialgerichten in Deutschland eingegangen. Nach Recherchen von Report Mainz bei allen Sozialgerichten in Deutschland (https://www.swr.de/report/mit-einer-klagewelle-treiben-krankenkassen-kliniken-in-den-ruin-krankenhaeuser-vor-dem-aus/-/id=233454/did=22650584/nid=233454/putwac/index.html) sollen es im Bundesgebiet weit mehr als 100.000 solcher Verfahren sein. Die Krankenkassen fordern in diesen Verfahren von den Krankenhäusern die Rückzahlung von Vergütungen, die sie für stationäre Behandlungen ihrer Mitglieder gezahlt haben.

Hintergrund: Änderung des Pflegepersonal-Stärkegesetzes

Hintergrund für diese überraschende Klagewelle ist das vom Deutschen Bundestag am 9. November 2018 beschlossene Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG). Dieses im Grundsatz erst zum 1. Januar 2019 in Kraft tretende Gesetz ist im Zuge seiner parlamentarischen Beratungen um eine komplizierte Regelung zur Verjährung ergänzt worden.

Verkürzte Verjährungsfristen und Übergangsvorschriften

Nach der Grundregelung des künftigen § 109 Abs. 5 Satz 1 SGB V (Gesetzentwurf in der Fassung der Beschlüsse des 14. Ausschusses, vergleiche BT-Drucksache 19/5593, S. 38) sollen sowohl Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütung erbrachter Leistungen als auch Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen künftig in zwei statt bisher in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind, verjähren. Für Ansprüche der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen gilt die Verkürzung der Verjährungsfrist schon für Ansprüche, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind (§ 109 Abs. 5 Satz 2 SGB V). Mit anderen Worten: Neben der regulären Verjährung von Ansprüchen aus dem Jahr 2014 verjähren also die Ansprüche aus Sachverhalten für 2015 und 2016 für die Krankenkassen mit Inkrafttreten des Gesetzes auf einen Schlag. Für die Krankenhäuser gilt diese Rückwirkung für noch nicht abgeschlossene Sachverhalte nicht. Ausdrücklich regelt § 109 Abs. 5 Satz 3 SGB V in der ab dem 1. Januar 2019 absehbar geltenden Fassung, dass die Halbierung der Verjährungsfrist nicht für Ansprüche der Krankenhäuser auf Vergütungen erbrachter Leistungen gilt, die vor dem 1. Januar 2019 entstanden sind. Zu Lasten der Krankenkassen, die offenbar schon im politischen Vorfeld mit massiven Klagen bis zum Jahresende wegen der Verkürzung der Verjährung „gedroht“ hatten, wurde darüber hinaus im Rahmen der Ausschussberatungen noch eine weitere drastische Verkürzung in den Gesetzentwurf aufgenommen. Nach der Übergangsregelung zur Neuregelung der Verjährungsfrist für die Ansprüche von Krankenhäusern und Krankenkassen (§ 325 SGB V) ist die Geltendmachung von Rückzahlungsansprüchen der Krankenkassen ausgeschlossen, soweit diese vor dem 1. Januar 2017 entstanden sind und bis 9. November 2018 (Tag der zweiten und dritten Lesung im Deutschen Bundestag) nicht gerichtlich geltend gemacht wurden (siehe BT-Drucksache 19/5593 S. 54). Diese – eigentlich der Entlastung der Sozialgerichte und der Durchsetzung des Rechtsfriedens dienende (so BT-Drucksache 19/5593, S. 123 f.) – Gesetzesänderung hat viele Krankenkassen dazu veranlasst, sämtliche ihres Erachtens gegenüber den Krankenhäusern für die Jahre 2014 bis 2016 bestehenden Rückzahlungsansprüche noch kurz vor dieser Frist einzuklagen.

Inhaltliche Schwerpunkte der Klagen

Die Klagen haben verschiedene Schwerpunkte, die für die Gerichte mangels aussagekräftiger Angaben oft noch nicht eindeutig erkennbar sind. Ein quantitativ bedeutsamer Komplex vor allem in dünner besiedelten Regionen rankt sich um zwei Urteile des Bundessozialgerichts vom 19. Juni 2018 zur Auslegung des Kriteriums einer „höchstens halbstündige(n) Transportentfernung“ bei medizinisch notwendigen Verlegungen von Patienten (B 1 KR 38/17 R und B 1 KR 39/17 R). Der 1. Senat des BSG hatte in zwei Verfahren aus Rheinland-Pfalz die Revisionen der klagenden Krankenhausträgerin zurückgewiesen. Ihr stehe kein Anspruch auf Zahlung von über 15.000 bzw. 20.000 Euro (für 13 bzw. 17 Behandlungsfälle) zu, da das Krankenhaus nicht die hierfür notwendigen Mindestvoraussetzungen eines unmittelbaren Zugangs zu neurochirurgischen Notfalleingriffen sowie zu gefäßchirurgischen und interventionell-neuroradiologischen Behandlungsmaßnahmen erfüllte, indem sie mit einem Partner in einer anderen Stadt kooperierte. Das Krankenhaus sei in der fraglichen Zeit nicht in der Lage gewesen, die erforderliche Transportentfernung unter Verwendung des schnellstmöglichen Transportmittels grundsätzlich, also regelhaft jederzeit bis zu einer halben Stunde einzuhalten. Dieser Zeitraum beginne mit der Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, und ende mit der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit des Kooperationspartners. Bei Dunkelheit dauerte diese Rettungstransportzeit auch unter Einsatz eines Rettungshubschraubers als schnellstmöglichem Transportmittel wesentlich länger als eine halbe Stunde. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft titelte schon kurz nach dieser Entscheidung: Urteil des Bundessozialgerichts gefährdet die flächendeckende Schlaganfallversorgung (vgl. Presseerklärung vom 26. Juni 2018 DKG zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. Juni 2018). Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß warf dem BSG vor, dass es durch die Neudefinition eines wesentlichen Strukturmerkmals für die Abrechnung der Komplexbehandlung beim akuten Schlaganfall massiv in das Vergütungsgefüge und damit auch in die Versorgung eingreife. Es sei nicht die Aufgabe des obersten deutschen Sozialgerichts, die Strukturvorgaben zur Versorgung von Schlaganfallpatienten zu definieren. Weitere Themenkomplexe der eingegangen Klagen betreffen bei den geriatrische Komplexbehandlungen (OPS 8-550, vgl. u.a. BSG v. 19. Dezember 2017 – B 1 KR 19/17 R –), und Aufwandspauschalen für sachlich-rechnerische Abrechnungsprüfungen (u.a. BSG v. 23. Mai 2017 – B 1 KR 24/16 R –; v. 25. Oktober 2016 – B 1 KR 22/16 R –).

Einfallstor für weitere rückwirkende Regelungen 

Es ist erkennbar, dass im Gesetzgebungsverfahren auch versucht wurde, mögliche Rückzahlungsansprüche der Krankenkassen gegen die Kliniken auf der Grundlage von höchstrichterlichen Entscheidungen zu begrenzen oder ganz auszuschließen. Möglicherweise ist auch die geplante Änderung des § 295 Abs. 1 SGB V durch das PpSG in diesem Kontext zu sehen. Danach kann künftig das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) bei Auslegungsfragen zu den Diagnosenschlüsseln nach Satz 2 und den Prozedurenschlüsseln nach Satz 4 Klarstellungen und Änderungen mit Wirkung auch für die Vergangenheit vornehmen, soweit diese nicht zu erweiterten Anforderungen an die Verschlüsselung erbrachter Leistungen führen. (BT Drucksache 19/5593, S. 53). Dies könnte eine rechtliche Grundlage sein, wonach das DIMDI auch rückwirkend Änderungen und Klarstellungen bei Auslegungsfragen zu den Diagnoseschlüsseln und den Operationen- und Prozedurenschlüsseln (OPS), wie der Regelung über die Transportzeiten vornehmen kann. In der Begründung hierzu (BT-Drucksache. 19/5593, S. 123 zu Nr. 16 a) werden jedenfalls ausdrücklich als Beispiel für die Änderung die jüngsten Entscheidungen des BSG vom 19. Juni 2018 (OPS 8-98b und OPS 8-981) sowie die Entscheidung vom 19. Dezember 2017 (B 1 KR 19/17 R) zur geriatrisch frührehabilitativen Komplexbehandlung (OPS 8-550), die ebenfalls einen quantitativ bedeutsamen Schwerpunkt der aktuellen Klagewelle bildet, angeführt. Am 21. November 2018 hat das Land Niedersachsen einen Antrag im Bundesrat gestellt (BR-Drucksache 560/1/18), wonach die Bundesregierung auf das DIMDI einwirken solle, damit dieses unverzüglich noch im Jahr 2018 die rückwirkende „Klarstellung“ der Formulierung im OPS 8-98b vornehme. Inzwischen ist offenbar eine solche Regelung getroffen worden. Vor allem für die bereits anhängigen Gerichtsverfahren sind dadurch jedoch die auch verfassungsrechtlichen Fragen, die sich bei der Bewertung dieses ganzen Bündels an rückwirkenden Gesetzes- und Regelungsänderungen stellen, jedoch nicht einfacher geworden.

Außergerichtliche Lösungsansätze 

Inzwischen ist eine solche Regelung getroffen worden. Die rückwirkenden Klarstellungen des DIMDI vom 3.12.2018 zu den OPS-Codes 8-550 und 8-98 sind abrufbar unter https://www.dimdi.de/dynamic/de/das-dimdi/aktuelles/meldung/OPS-2019-Neuer-Anhang-Klarstellungen. Für die bereits anhängigen Gerichtsverfahren könnten sich dadurch zusätzliche spannende auch verfassungsrechtlichen Fragen bei der Bewertung dieses ganzen Bündels an rückwirkenden Gesetzes- und Regelungsänderungen stellen. Vielleicht kommt es dazu jedoch wegen der außergerichtlichen Einigungen gar nicht.

Denn auf Bundesebene hat das BMG Gespräche zur Streitschlichtung zwischen der Krankenhausgesellschaft und dem GKV-Spitzenverband angeschoben, die in diesen Tagen stattfinden und auch zu einem teilweisen Ergebnis geführt haben (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2018/dezember/spahn-vermittelt-zwischen-krankenkassen-und-kliniken.html). Man ist gespannt, ob jetzt tatsächlich alle Klagen der Krankenkassen zu den Themenkomplexen Schlaganfall und Geriatrie vor den Sozialgerichten zurückgenommen werden und die klagenden Krankenkassen dann  auch die Gerichtskosten tragen werden. Möglicherweise haben auch die Verständigungsversuche auf Landesebene, wie sie vor allem von Rheinland-Pfalz ausgingen, die Einigung befördert. Jedenfalls war und ist es weiterhin wichtig, nicht nach vermeintlich Schuldigen, sondern nach praktikablen Lösungen nicht nur für dieses Problem zwischen den Krankenkassenverbänden und der Deutschen Krankenhausgesellschaft  zu suchen (vgl. in diesem Sinne auch das Interview bei Tagesschau 24 am 22. November 2018 (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LSG/Presse/PI/2018/5000_Krankenhausfaelle.html;jsessionid=7531A4D61D86BCD47BE920D32A434BFD).

Autor: Christine Fuchsloch, PräsLSG S-H; VizePräs. des DSGT e.V., RiSG (Schleswig) Janine Gall

Mit dem Pflegepersonal-Stärkegesetzes wurden die Möglichkeiten der Krankenkassen Rückzahlungen von Vergütungen gegenüber Krankenhäuser geltend machen zu können, drastisch eingeschränkt. Die Krankenkassen haben als Reaktion darauf bis zur gesetzlichen Ausschlussfrist am 9. November 2018 bundesweit mehr als 100.000 gerichtskostenpflichtige Klagen erhoben. Damit stellen die eigentlich als Entlastung gedachte Regelung die Sozialgerichtsbarkeit vor eine erhebliche Belastungsprobe. Eine außergerichtliche Lösung dieser auch rechtlich komplexen Thematik ist jetzt vordringlich.

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Schlagwörter: Krankenkassen, Krankenhäuser, Rückzahlung von Vergütungen , Klagewelle