Sozialhilferecht: Verhältnis der §§ 22 Abs. 1 Satz 2, 23 Abs. 1 BSHG zueinander
Tatbestand:
Die im Jahre 1905 geborene Klägerin steht seit Jahren in der sozialhilferechtlichen Betreuung des Beklagten. Sie erhält ergänzende
Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Beklagte bewilligte ihr ferner ab April 1988 für neun Stunden wöchentlich bis "voraussichtlich
Oktober 1988" Haushaltshilfekosten. Auf diese Hilfe (Einkaufen, Putzen, Waschen, Bügeln, Nähen/Flicken, Begleitung zum Arzt
oder zu Behörden) ist die Klägerin nach den Feststellungen des Allgemeinen Sozialdienstes wegen ihres hohen Alters und ihrer
gesundheitlichen Lage angewiesen. Die Hilfe wird von einer Sozialstation der Arbeiterwohlfahrt geleistet.
In seinem Bescheid über die Bewilligung (ergänzender) Hilfe zum Lebensunterhalt vom 22.7.1988 zog der Beklagte einen "Eigenanteil"
in Höhe von 40,50 DM von der ermittelten Hilfe zum Lebensunterhalt ab. Hierbei handelte es sich um den halben Mehrbedarfszuschlag
nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, den die Klägerin nach Auffassung des Beklagten wegen der gleichzeitigen Gewährung der Hauspflegeleistungen selbst zu tragen
hat.
Nach erfolglosem Vorverfahren hat die Klägerin Klage erhoben, die in beiden Rechtszügen erfolgreich war.
Entscheidungsgründe:
Das VG hat den Beklagten zu Recht verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 1.7.1988 bis zum 30.9.1988 den pauschalierten
Mehrbedarfszuschlag nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG in ungekürzter Höhe auszuzahlen. Hierauf hat die Klägerin einen Anspruch; der Beklagte ist zu einer Kürzung nicht berechtigt.
Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG ist ein Mehrbedarf in Höhe von 20 % des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen für Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet
haben. Diese Voraussetzung erfüllt die im Jahre 1905 geborene Klägerin. Dagegen besteht eine Berechtigung, den pauschalierten
Betrag zu kürzen, im konkreten Falle nicht.
Der Mehrbedarfszuschlag für ältere Menschen in Höhe von 20 % des Regelsatzes hat seine Grundlage alleine in § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG. Der Mehrbedarf ist anzuerkennen, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht, vgl. § 23 Abs. 1 letzter Halbsatz BSHG. Ein abweichender Bedarf ist im Streitfall nicht gegeben.
Ein Abweichen von dem pauschalen Mehrbedarf ist insbesondere nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Klägerin Kosten für die
Haushaltshilfe erhält.
Die Kosten für die der Klägerin zustehenden Haushaltshilfe - das sind etwa 800,-- DM monatlich - sind nach §§ 11, 12 iVm § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG zu beurteilen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BSHG werden die laufenden Leistungen in der Regel nach Regelsätzen bemessen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG sind sie abweichend von den Regelsätzen zu bemessen, soweit dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Für
diesen Teil der laufenden Leistungen sind die Besonderheiten des Einzelfalles das entscheidende Merkmal. Für die Klägerin
fiel im fraglichen Zeitraum ein zusätzlicher monatlicher Bedarf an, der vom Regelsatz nicht gedeckt war.
Die Auffassung des Beklagten, wegen des besonderen Verhältnisses des § 23 Abs. 1 Nr. 1 zu § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG zu einer Kürzung des Mehrbedarfszuschlags berechtigt zu sein, ist im konkreten Falle nicht zutreffend: § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG ergänzt die schematisierenden Regelsätze, um dem Bedarfsdeckungsprinzip und dem Individualisierungsprinzip (§ 3 BSHG) zu genügen, wenn die schematisierten Leistungsgruppen (der Regelsätze) ganz oder teilweise mit den Erfordernissen des Einzelfalles
nicht im Einklang stehen.
Gottschick/Giese, BSHG, Kommentar, 9. Auflage 1985, § 22 Rdnr. 2; Birk u. a. BSHG, Lehr- und Praxiskommentar, 3. Auflage 1991, § 22 Rdnr. 22.
Sollen die Besonderheiten des Einzelfalles eine Erhöhung der Regelsätze rechtfertigen, trägt der Hilfeempfänger dafür die
Beweisführungslast und ggfls. auch die Beweislast. Kann er die Gründe für eine Erhöhung der Leistungen nicht belegen, bleibt
es bei den Leistungen nach Regelsätzen.
§ 23 BSHG regelt demgegenüber für bestimmte Personengruppen in besonderen Situationen kraft Gesetzes eine Abweichung von den Regelsätzen,
die in der Form eines Mehrbedarfs, also einer Erhöhung, anerkannt werden. Der Unterschied zu der Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG liegt vor allem darin, daß der Hilfesuchende seinen Mehrbedarf nicht besonders nachweisen muß, dieser vielmehr kraft Gesetzes
vermutet wird, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Der Hilfesuchende ist bei Vorliegen der Voraussetzungen
des § 23 Abs. 1 BSHG mithin in einer besseren Position als bei einer Anwendung des § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG, weil besondere Bedarfssituationen pauschal abgedeckt werden, ohne daß ein konkreter Nachweis besonderer höherer Ausgaben
zu führen ist. Allerdings entscheidet letztlich auch bei § 23 Abs. 1 BSHG die Besonderheit des Einzelfalles, weil der Bedarf nicht anzuerkennen ist, soweit im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht.
Schon nach dem Wortlaut der Vorschrift kann danach im Einzelfall eine abweichende Bemessung in Betracht kommen, und zwar sowohl
nach oben als auch nach unten. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Norm; denn mit der durch
Art. 21 Nr. 7 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes vom 22.12.1981, BGBl I 1523, bedingten Neufassung dieser Vorschrift wurde die
bis dahin geltende Formulierung "soweit nicht im Einzelfall ein höherer Bedarf besteht" durch die Worte "soweit nicht im Einzelfall
ein abweichender Bedarf besteht" ersetzt.
OVG Münster, Urteil vom 20. März 1991 - 8 A 2093/88 - ZfS 1991, 275; Gottschick/Giese, aaO, § 23 Rdnr. 1; Knopp/Fichtner, BSHG, Kommentar, 6. Auflage 1988, § 23 Rdnr. 6 a; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, Kommentar, 13. Auflage 1988, § 23 Rdnr. 19.
Ein bedeutsamer Unterschied zu § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG bleibt aber insoweit, als die Beweisführungs- und damit letztlich auch die Beweislast anders verteilt ist; wer den pauschalierten
Mehrbedarf im Sinne des § 23 Abs. 1 BSHG wegen abweichenden Bedarfs erhöhen oder herabsetzen will, hat dies zu belegen. D. h., wenn der Sozialhilfeträger trotz Vorliegens
der Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 BSHG dem Sozialhilfeempfänger den Mehrbedarf nicht zubilligen, sondern kürzen will, muß er die dafür sprechenden Umstände des
konkreten Einzelfalles darlegen und ggfls. beweisen.
Hiervon abgesehen ist eine scharfe Trennung zwischen § 21 Abs. 1 Satz 2 und den §§ 23, 24 BSHG nicht zu erkennen. § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG kommt gegenüber den §§ 23, 24 BSHG eine Auffangfunktion zu, weil die verallgemeinerten Sonderregelungen dieser Vorschriften nicht alle denkbaren Besonderheiten
des Einzelfalles im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG abschließend präzisieren und auch nicht erfassen sollen.
Vgl. hierzu Birk u. a., aaO, § 22 Rdnr. 22.
Haben im übrigen die genannten Vorschriften das - gemeinsame - Ziel, notwendigen Mehrbedarf oder auch über den Regelsatz hinausgehenden
besonderen Bedarf - was materiell letztlich dasselbe ist - finanziell auszugleichen, kann es keine allgemeingültigen Anrechnungs-
und Kürzungsregeln im Verhältnis der §§ 22 und 23 BSHG zueinander geben. Es entscheiden jeweils die Besonderheiten des Einzelfalles.
Der "Bedarf" an einer Haushaltshilfe darf nicht deshalb - pauschal oder nach Maßgabe allgemeiner Verwaltungsschriften -teilweise
gekürzt werden, weil der Hilfesuchende zugleich einen Mehrbedarfszuschlag gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG erhält. Dem steht allgemein entgegen, daß der Mehrbedarfszuschlag nach § 23 Abs. 1 BSHG keinen spezifischen "Bedarfsposten" für eine Haushaltskraft beinhaltet. Wegen des pauschalierenden Charakters des § 23 Abs. 1 BSHG läßt sich der Mehrbedarf überhaupt nicht generell in verschiedene "Bedarfsposten" zerlegen. Ein - nicht existierender, spezifizierter
- Bedarfsteil des Mehrbedarfs kann deshalb nicht auf einen - von den Regelsätzen abweichenden (zusätzlichen) - Bedarf generell
angerechnet werden.
Vgl. ebenso OVG Münster, Urteil vom 20.3.1991, aaO.
Eine Kürzung des Mehrbedarfs nach § 23 Abs. 1 letzter Halbsatz BSHG ist im konkreten Fall gleichfalls nicht zulässig. Die Klägerin erhält die Kosten für eine Haushaltshilfe auf der Grundlage
des § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG, damit ihr von den Mitarbeitern der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in erheblichem Umfang Arbeiten aus dem persönlichen häuslichen
Bereich abgenommen werden (Einkaufen, Putzen, Waschen, Bügeln, Nähen/Flicken, Begleitung zum Arzt oder zu Behörden). Der Beklagte
hat nicht dargetan, daß deshalb eine Abweichung von dem 20 %igen Mehrbedarfs-Betrag nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, und zwar im Sinne einer Kürzung des Betrages, berechtigt ist. Der Mehrbedarfszuschlag rechtfertigt sich daraus, daß - ohne
konkrete Zuordnung zu bestimmten Bedarfsgruppen - ältere Menschen infolge einer möglicherweise beschränkten Mobilität erhöhte
Aufwendungen für Kontaktpflege (Telefon, Porto, Fahrgeld), gelegentliche Geschenke für die Inanspruchnahme ansonsten unentgeltlicher
Hilfeleistungen, die täglichen Einkäufe, bei denen sie nicht die jeweils günstigsten Möglichkeiten in Anspruch nehmen können,
sowie für ärztlich nicht verordnete Stärkungsmittel erhöhte Ausgaben haben können.
Vgl. in diesem Zusammenhang Schellhorn/Jirasek/Seipp, aaO, § 23 Rdnr. 9, 12.
Daß auch die Klägerin derartige Aufwendungen hat, ist einerseits naheliegend, wird zudem vom Gesetz vermutet und wird andererseits
vom Beklagten nicht entkräftet. Die Klägerin ist wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes auf erhöhte Kontaktpflege per
Telefon usw. angewiesen; sie wird den Mitarbeitern der AWO, aber auch anderen Personen, die ihr in der Zeit helfen, in der
die Mitarbeiter keine Hilfe leisten können, gelegentlich kleine Aufmerksamkeiten zukommen lassen wollen. Auch die Mitarbeiter
der AWO können beim Einkauf nicht verstärkt auf Sonderangebote achten, wie es Sozialhilfeempfänger ohne Arbeit sonst tun können.
Ähnliche Situationen lassen sich fortsetzen. Derartige Kosten sind mit den Mitteln, die der Beklagte für die Leistungen der
Mitarbeiter der AWO zahlt, nicht abgegolten. Für eine Kürzung der laufenden Leistungen ist deshalb kein Raum.