Sozialhilferecht: Begriff der Erwerbstätigkeit im Sinne des § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG, Weitergabe von Pflegegeld
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung von um einen Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige erhöhter laufender Hilfe zum Lebensunterhalt.
Die Klägerin erhält seit Jahren mit ihrem Ehemann und den im Haushalt lebenden minderjährigen Kindern und Stiefkindern Hilfe
zum Lebensunterhalt. Am 12.10.1989 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages für Erwerbstätige
nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG, weil sie ihren pflegebedürftigen Ehemann pflege und dafür aus dessen Pflegegeld von ihm 250,-- DM monatlich erhalte. Unter
Hinweis auf Ziff. 23.29 der Sozialhilferichtlinien Baden-Württemberg lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16.10.1989 den Antrag
ab, weil das Pflegegeld ihres Ehemannes bzw. der an die Klägerin weitergegebene Pflegegeldanteil bei der Gewährung der Hilfe
zum Lebensunterhalt nicht als Einkommen angerechnet werde. Würde eine Anrechnung stattfinden, so wäre die Folge davon eine
den begehrten Erhöhungsbetrag erreichende wenn nicht gar übersteigende Minderung der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt.
Am 10.11.1989 erhob ihr Ehemann für die Klägerin Widerspruch. Zur Begründung wurde ausgeführt, das Pflegegeld sei schon von
seinem Zweck her kein Einkommen des Pflegebedürftigen und -- im Falle seiner Weitergabe -- auch kein anrechenbares Einkommen
der Pflegeperson. Denn es diene nicht der Deckung des Lebensunterhalts, sondern -- vor allem innerhalb einer Familien- und
Wirtschaftsgemeinschaft -- der Erhaltung der Pflegebereitschaft nahestehender Personen. Die Anwendung des Nachranggrundsatzes
der Sozialhilfe finde hier ihre Schranke an dem der Pflegegeldgewährung innewohnenden gesetzgeberischen Zweck. Mit Widerspruchsbescheid
vom 26.02.1990 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt: Zwar seien Leistungen
nach dem BSHG schon nach dem Wortlaut des § 76 BSHG keine bei der Feststellung der Bedürftigkeit für die Hilfe zum Lebensunterhalt zu berücksichtigenden Einkünfte; dies gelte
aber nur für den Leistungsempfänger selbst und nicht auch für diejenigen, an die er seine Leistungen weiterreiche. Um den
daraus resultierenden Zielkonflikt mit dem Zweck des Pflegegeldes zu vermeiden, bestimmten die Sozialhilferichtlinien jedoch
ausdrücklich, daß das an die Pflegeperson weitergereichte Pflegegeld bei dieser nicht als Einkommen berücksichtigt werden
solle. Dabei dürfe es jedoch nicht zu einer doppelten Leistungsgewährung kommen. Deshalb untersagten die Sozialhilferichtlinien
ausdrücklich die Gewährung von Mehrbedarf im Falle der Zuwendung von Pflegegeld an die Pflegeperson.
Gegen den am 28.02.1990 zugestellten Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 14.03.1990 Klage erhoben. Sie hat sinngemäß
beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 16.10.1989 sowie den Widerspruchsbescheid vom 26.02.1990 aufzuheben und die Beklagte
zu verpflichten, ihr eine um einen Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige von 250,-- DM erhöhte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt
zu gewähren. Zur Begründung hat sie ihre Rechtsauffassung wiederholt, daß das Pflegegeld weder Einkommen des Pflegebedürftigen
noch der Pflegeperson sei. Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide
Bezug genommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 26.08.1990 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das
Pflegegeld sei zwar kein Einkommen des Leistungsempfängers selbst, wohl aber gehöre es zum Einkommen derer, an die es weitergegeben
werde. Würde die Beklagte der Klägerin nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG einen Mehrbedarfszuschlag gewähren, so wären die von der Klägerin monatlich bezogenen 250,-- DM auch als Einkommen auf ihre
Hilfe zum Lebensunterhalt anzurechnen. Da der Zuschlag höchstens die Höhe des ihr von ihrem Ehemann zugewendeten Pflegegeldanteils
erreichen könne, würde die Klägerin sich damit allenfalls schlechter, niemals aber besser stellen. Die Voraussetzungen des
§ 78 Abs. 2 BSHG lägen ersichtlich nicht vor. Außerdem sei die Erzielung von Einkünften auch eine Voraussetzung für die Gewährung des Mehrbedarfszuschlags
für Erwerbstätige. Man könne daher nicht einerseits behaupten, kein anrechenbares Einkommen zu erzielen und andererseits den
Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige beanspruchen.
Gegen den am 07.09.1990 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 04.10.1990 Berufung eingelegt. Sie hält die Anrechnung
des weitergereichten Pflegegeldes als Einkommen für rechtswidrig und, zumindest, die Voraussetzungen des § 78 Abs. 2 BSHG für erfüllt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 16.10.1989 sowie deren Widerspruchsbescheid vom 26.02.1990 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten,
ihr eine um einen Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige von 250,-- DM monatlich erhöhte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Entscheidungen, bezieht sich auf deren Gründe und erwidert auf die Berufung, die Berücksichtigung
des weitergereichten Pflegegeldanteils als Einkommen sei weder eine Härte im Sinne des § 78 Abs. 2 BSHG, noch fielen die an die Klägerin von ihrem Ehemann geleisteten Zuwendungen überhaupt unter den Tatbestand dieser Vorschrift.
Dem Senat liegen außer den Akten des Verwaltungsgerichts die einschlägigen Unterlagen der Beklagten vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin
kann eine um den begehrten Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige über den bisher zuerkannten Betrag hinaus erhöhte laufende
Hilfe zum Lebensunterhalt nicht beanspruchen.
Die Klägerin erhält nach ihrem Vorbringen für ihre Pflegetätigkeit gegenüber ihrem Ehemann monatlich 250,-- DM als Vergütung.
Damit ist sie "erwerbstätig" und hat Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG. Nach dieser Vorschrift ist bei der Berechnung des sozialhilferechtlichen Bedarfs als Bemessensgrundlage der laufenden Hilfe
zum Lebensunterhalt für Erwerbstätige ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anzuerkennen. Der Begriff "Erwerbstätige" ist dabei
nicht eng auszulegen; es genügt, wenn durch irgendeine vergütete Tätigkeit ein höherer Energiebedarf oder sonstiger Bedarf
erforderlich wird. Das ist nach einhelliger Meinung auch bei Personen anzunehmen, die einen Angehörigen pflegen und dafür
einen erheblichen Teil ihrer Zeit einsetzen. Die Höhe des Mehrbedarfs bestimmt sich dann nach dem Pflegegeldanteil, der an
die Pflegeperson weitergereicht wird; dieser ist ihr "Erwerb", für den sie "erwerbstätig" ist (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp,
BSHG, 13. Aufl., RdNr. 31 zu § 23; Gottschick/Giese, BSHG, 9. Aufl., RdNr. 7.3 zu § 23; Mergler/Zink, BSHG, RdNr. 36 a zu § 23; Knopp/Fichtner, BSHG, 6. Aufl., RdNr. 21 zu § 23; Sozialhilferichtlinien Baden-Württemberg Ziff. 23.29, Satz 1). Danach hat die Klägerin bei der Berechnung ihrer laufenden
Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich Anspruch auf Anerkennung eines Mehrbedarfs in Höhe von 250,-- DM monatlich. Insoweit
ist ihrer Rechtsauffassung zu folgen.
Nicht gefolgt werden kann jedoch der weitergehenden Ansicht der Klägerin, der als Vergütung für ihre pflegerische Tätigkeit
an sie weitergeleitete Pflegegeldanteil sei bei der Berechnung ihrer Hilfe zum Lebensunterhalt zwar als "Erwerb" im Sinne
des § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG, nicht dagegen als "Einkommen" im Sinne des § 76 Abs. 1 BSHG aufzufassen.
Allerdings geht die Klägerin zu Recht davon aus, daß das Pflegegeld kein Einkommen ihres pflegebedürftigen Ehemannes darstellt.
Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 76 Abs. 1 BSHG, wonach Leistungen nach dem BSHG -- beim Hilfsbedürftigen selbst -- nicht zum Einkommen im Sinne des BSHG zählen, und bedarf hier keiner weiteren Vertiefung. Gibt der Pflegegeldempfänger jedoch das Pflegegeld regelmäßig und nicht
nur gelegentlich, ganz oder in fest bezifferten Teilen als Vergütung für die Pflegeleistungen an die Pflegeperson weiter,
so ist es für diese Einkommen, und zwar auch dann, wenn es sich bei Pflegeperson um eine Angehörige handelt, die mit dem Pflegebedürftigen
in Haushaltsgemeinschaft lebt und selbst auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach Abschnitt 2 des BSHG angewiesen ist (vgl. DV-Gutachten, NDV 1986, 290; OVG Berlin, Urt. v. 12.12.1985, FEVS 35, 343, 345; Schellhorn/Jirasek/Seipp, a.a.O., RdNr. 18 zu § 76; Mergler/Zink, a.a.O.,
RdNr. 12 zu § 76; Gottschick/Giese, a.a.O.; Knopp/Fichtner, a.a.O., RdNr. 1 zu § 76; a. A. VG Düsseldorf, Urt. v. 16.03.1987,
NDV 1987, 460 ff.; LPK-BSHG, 2. Aufl., RdNr. 14 zu § 76). Dies ergibt sich aus dem in § 3 Abs. 1 BSHG zum Ausdruck gelangten Grundsatz der Individualisierung der Sozialhilfe. Danach dient die jeweilige Sozialhilfeleistung grundsätzlich
dem individuellen Bedarf des jeweiligen Bedürftigen und nicht etwa einem Gruppen- oder Familienbedarf (vgl. Schulte/Trenk-Hinterberger,
Sozialhilfe, 2. Aufl., S. 114; Schulte, ZfSH 1990, 471, 472 f. m.w.N.). Daraus folgt, daß die von der Klägerin hervorgehobene
Zweckbestimmung des Pflegegeldes nur für die Person des Pflegebedürftigen selbst gilt, nicht jedoch für Dritte, mögen sie
dem Pflegebedürftigen auch noch so nahestehen. Wird also Pflegegeld als Vergütung für die Tätigkeit der Pflegeperson an diese
weitergereicht, so ist es für sie kein Pflegegeld mehr, sondern Gelderwerb und damit Einkommen. Das gilt auch für Familienangehörige,
wenn ihnen -- ähnlich wie es bei vergüteten Dienstleistungen von Familienangehörigen im Haushalt oder in einem Familienbetrieb
der Fall sein kann -- ein fest bezifferter Vergütungsbetrag aus dem Pflegegeld regelmäßig zufließt. Der entgegenstehenden
Auffassung des VG Düsseldorf, auf die sich die Klägerin beruft, vermag der Senat nicht zu folgen. Denn der von diesem Gericht
in den Vordergrund gerückte Grundsatz der "Identität der Zweckbestimmung" des Pflegegeldes findet eben seine Grenze im Grundsatz
der Individualisierung der Sozialhilfe. Auch wenn das Pflegegeld von seinem Zweck her kein Aufwendungsersatz ist, sondern
gewährt wird, um den Pflegebedürftigen in den Stand zu setzen, Dank und Anerkennung gegenüber Pflegepersonen und Nachbarn
durch Zuwendungen auszudrücken und deren Hilfs- und Pflegebereitschaft zu erhalten (vgl. BVerwGE 29, 108, 110; BVerwG FEVS 23, 45, 47; Senatsurteil v. 21.08.1991 -- 6 S 2550/89 --), verliert es diese "Zweckidentität" eben dann, wenn es tatsächlich für regelmäßige, bezifferte Leistungsentgelte eingesetzt
wird, und zwar nicht in der Person des Pflegebedürftigen, der aus seinem Pflegegeld Zahlungen erbringt, sondern in der Person
desjenigen, der diese Zahlungen erhält. Für diesen ist die Zahlung "Erwerb" und anders wäre er auch nicht legitimiert, einen
Mehrbedarfszuschlag für "Erwerbstätige" nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG zu beanspruchen. Ist aber eine Geldzuwendung in der Person des Empfängers "Erwerb", so ist sie für ihn auch "Einkommen".
Sie in der einen Hinsicht als Gelderwerb zu bewerten, in der anderen dagegen nicht, liefe auf einen Selbstwiderspruch hinaus.
Das gilt auch innerhalb der Familien- und Haushaltsgemeinschaft, wenn ein Angehöriger für einen anderen eine von diesem regelmäßig
und in gleichbemessener Höhe vergütete Tätigkeit erbringt. Ein solcher Selbstwiderspruch ließe sich allenfalls in der Weise
vermeiden, daß das weitergereichte Pflegegeld weder als Einkommen noch als Erwerb im Sinne des Mehrbedarfszuschlages behandelt
wird. Diesen Weg sind in Ziff. 76.44 Satz 2 und 23.29 Satz 2 die Sozialhilferichtlinien Baden-Württemberg gegangen. Er findet
jedoch in Fällen der vorliegenden Art im Sozialhilferecht keine hinreichende Grundlage. Zu Doppelleistungen führt auch die
hier vertretene Auffassung nicht.
Aus den obenstehenden Ausführungen ergibt sich ferner, daß das an die Klägerin weitergereichte Pflegegeld auch den Tatbestand
des § 78 Abs. 2 BSHG nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift sollen Zuwendungen, die ein anderer gewährt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche
Pflicht zu haben, als Einkommen außer Betracht bleiben, soweit ihre Berücksichtigung für den Empfänger eine besondere Härte
bedeuten würde. Regelmäßig und in gleicher Höhe gezahlte Entgelte für bestimmte Dienste, gleich welcher Art, die auf einer
zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarung beruhen, fallen jedoch schon nach ihrem Zweck und Inhalt nicht unter die
in § 78 Abs. 2 BSHG gemeinten freiwilligen Zuwendungen. Denn sie beruhen einmal auf der sowohl rechtlichen wie sittlichen Pflicht, getroffene
Vereinbarungen auch einzuhalten; darüber hinaus entsprechen sie im Falle laufender Zuwendungen für regelmäßige Pflegeleistungen
auch einer in dem engen Zusammenleben zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegeperson wurzelnden Dankespflicht, dies zumal
zwischen Ehegatten.
Da die Beklagte den der Klägerin von ihrem Ehemann zugewendeten Pflegegeldanteil in Anwendung von Ziff. 76.44 der Sozialhilferichtlinien
bisher nicht als Einkommen angerechnet hat, nach der Rechtsauffassung des Senats dies bei Gewährung des beantragten Mehrbedarfszuschlages
aber tun müßte, erweist sich die auf -- um den Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige -- erhöhte Hilfe zum Lebensunterhalt
gerichtete Klage als unbegründet. Wie bereits ausgeführt, kann die Klägerin die monatlichen Zuwendungen ihres Ehemannes nicht
einerseits als Begründung eines Mehrbedarfszuschlages für Erwerbstätige ins Feld führen, ihn aber andererseits nicht als Einkommen
gewertet wissen wollen.