Sozialhilferecht: Schmerzensgeld und einsetzbares Vermögen
Gründe:
I.
Der 1964 geborene Kläger begehrt vom Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Er ist türkischer Staatsangehöriger. Er
stellte am 17.03.1987 einen Asylantrag. Die Stadt B bewilligte ihm ab 27.05.1987 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, zuletzt
mit Bescheid vom 19.10.1989. Ferner bewilligte sie ihm auch einmalige Beihilfen.
Am 14.08.1989 erlitt der Kläger einen Verkehrsunfall und wurde dabei schwer verletzt. Von der Haftpflichtversicherung des
Schädigers erhielt er unter anderem Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 16 000,-- DM ausbezahlt.
Die Stadt B stellte mit Bescheid vom 06.12.1989 die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt ein, da der Kläger einen Anspruch
auf Schmerzensgeld in erheblichem Umfang habe.
Am 08.02.1990 beantragte der Kläger bei der Stadt B, ihm ab sofort wieder Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Er machte
geltend, er sei ohne Einkommen. Das ihm gezahlte Schmerzensgeld sei kein Einkommen im Sinne des BSHG.
Mit Bescheid vom 27.03.1990 lehnte die Stadt B den Antrag ab. Sie führte zur Begründung aus, Schmerzensgeldzahlungen seien
kein Einkommen. Der Teil der Zahlungen, der über der Vermögensfreigrenze liege, sei jedoch verwertbares Vermögen und vom Kläger
daher zur Bestreitung seines Lebensunterhalts einzusetzen.
Am 04.04.1990 erhob der Kläger Widerspruch und brachte vor, Schmerzensgeldleistungen stellten kein einzusetzendes Vermögen
im Sinne von § 88 BSHG dar. Auch habe er das Schmerzensgeld inzwischen verbraucht. - Ein Widerspruchsbescheid erging nicht.
Am 04.10.1990 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Untätigkeitsklage erhoben und beantragt, die Stadt B zu verpflichten,
ihm unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27.03.1990 Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 08.02. bis 31.07.1990 zu gewähren.
Er hat ergänzend vorgetragen, Schmerzensgeldzahlungen stellten weder Einkommen noch verwertbares Vermögen dar.
Die Stadt B hat Klagabweisung beantragt und noch vorgetragen, der Einsatz des Schmerzensgeldes stelle keine Härte im Sinne
von § 88 Abs. 3 BSHG dar. Die einschlägige Vermögensfreigrenze werde erheblich überschritten; der Kläger habe auch keine Tatsachen für eine Härte
vorgetragen.
Durch Gerichtsbescheid vom 08.11.1991 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, die Stadt B
habe die Schmerzensgeldzahlungen zu Recht nicht als Einkommen, sondern als Vermögen angesehen. Auch nach Abzug des Schonvermögens
habe der Kläger mehr als ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts gehabt. Anhaltspunkte für eine Härte seien
weder ersichtlich noch dargelegt.
Gegen diesen ihm am 27.11.1991 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 11.12.1991 Berufung eingelegt. Nachdem das
Landratsamt Karlsruhe mit Schreiben vom 22.03.1993 mitgeteilt hatte, daß der Landkreis K seit 01.01.1993 örtlich und sachlich
zuständiger Sozialhilfeträger ist, hat der Kläger die Klage am 07.04.1993 gegen den Landkreis K gerichtet.
Der Kläger trägt ergänzend vor, die Auffassung des Verwaltungsgerichts führe dazu, daß Sozialhilfeempfänger durch das sie
schädigende Ereignis die Sozialhilfe verlieren würden, während Einkommensbezieher eine solche Schlechterstellung nicht hinzunehmen
hätten. Einen Grund für diese Ungleichbehandlung nenne das Verwaltungsgericht nicht.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 08.11.1991 - 2 K 2458/90 - zu ändern, den Bescheid der Stadt B vom 27.03.1990 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm Hilfe zum Lebensunterhalt
in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 08.02.1990 bis zum 31.07.1990 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er macht sinngemäß geltend, der angefochtene Gerichtsbescheid sei zutreffend.
Die Beteiligten haben auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
Dem Senat liegen neben den einschlägigen Sozialhilfeakten der Stadt B die Prozeßakten des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vor.
II.
Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (vgl. §§
101 Abs.
2,
125 Abs.
1 VwGO).
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte der zulässigen Untätigkeitsklage stattgeben müssen,
da der Kläger im maßgeblichen Zeitraum einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat. Der ablehnende Bescheid der Stadt
B ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Richtiger Anspruchsgegner und damit richtiger Beklagter ist der Landkreis K, gegen den sich die Klage nach sachdienlicher
Klagänderung nunmehr richtet (vgl. §
91 VwGO). Zwar kommt es bei laufenden Leistungen der Sozialhilfe nach ständiger Rechtsprechung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt
der letzten Verwaltungsentscheidung an, und zu diesem Zeitpunkt hatte der Landkreis K die Stadt B gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 BSHG i.V.m. § 4 Abs. 1 des Baden-Württembergischen Gesetzes zur Ausführung des BSHG - AG/BSHG - zur Durchführung der Aufgaben nach dem BSHG herangezogen; erst mit Ablauf des 31.12.1992 endete diese Heranziehung (vgl. Schriftsatz des beklagten Landkreises vom 22.03.1993).
Die Stadt B hatte den Bescheid vom 27.03.1990 auch im eigenen Namen erlassen. Trotz der Heranziehung der Stadt blieb der Landkreis
K aber dennoch weiter örtlich und sachlich zuständiger örtlicher Sozialhilfeträger, was sich auch an seinem Weisungsrecht
gegenüber der Stadt zeigt (ebenso Knopp/Fichtner, BSHG, 7. Aufl., § 96 RdNr. 4 und LPK- BSHG, 3. Aufl., § 96 RdNr. 4). Auch hatte der Landkreis während der Heranziehung der Stadt weiterhin die Kosten der Sozialhilfe zu tragen (vgl.
§ 6 Satz 1 AG/BSHG). Dies rechtfertigt es, ihn nunmehr, da die Heranziehung der Stadt B beendet ist, als richtigen Beklagten
anzusehen; der Landkreis K ist im übrigen ebenfalls der Auffassung, er sei richtiger Beklagter.
Der Anspruch des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt im maßgeblichen Zeitraum entfällt nicht dadurch, daß ihm ein Betrag
von 16 000,-- DM zur Verfügung stand, den er als Schmerzensgeld aufgrund von Verletzungen bei einem Verkehrsunfall erhalten
hatte. Da das Schmerzensgeld ihm nicht als Rente, sondern als Kapitalabfindung ausbezahlt worden war, ist es nicht als Einkommen,
sondern als Vermögen anzusehen (vgl. Beschluß des Senats vom 06.02.1992 - 6 S 3185/91 - im Beschwerdeverfahren des Klägers wegen Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Urt. des Senats vom 31.10.1988 - 6 S 2411/88 - sowie Urteil des OVG Lüneburg vom 25.10.1974 - IV A 14/74 -, FEVS 24, 276). Dieses Vermögen brauchte der Kläger nicht einzusetzen, da der Einsatz für ihn eine Härte im Sinne von §
88 Abs. 3 Satz 1 BSHG bedeutet hätte. Das Schmerzensgeld schließt mithin einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG nicht aus.
Mit der Ausnahmevorschrift des § 88 Abs. 3 BSHG sollen die atypischen Fälle erfaßt werden, bei denen der Zweck der Vorschriften über das Schonvermögen, eine wesentliche
Beeinträchtigung der vorhandenen Lebensgrundlagen, insbesondere einen wirtschaftlichen Ausverkauf des Sozialhilfeempfängers
und damit eine Lähmung seines Selbsthilfewillens zu vermeiden, aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles ebenfalls
erfüllt wird, ohne daß das Vermögen in einen der durch § 88 Abs. 2 BSHG geschützten, typischen Sachverhalte eingeordnet werden könnte (vgl. Urt. des Senats vom 27.08.1990 - 6 S 1772/88 - m.w.N. und Knopp/Fichtner a.a.O. § 88 RdNr. 17). Das Atypische kann dabei auch in der Bestimmung des Vermögensgegenstandes
liegen. So verhält es sich beim Schmerzensgeld. Dieses ist zweckgebundenes Vermögen. Der Verletzte soll dadurch zum einen
in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und andere Annehmlichkeiten anstelle derer zu verschaffen, deren Genuß ihm
durch die Verletzung unmöglich gemacht wurde; ihm soll also Ausgleich für entgangene Lebensfreude ermöglicht werden. Zum anderen
hat das Schmerzensgeld auch Genugtuungsfunktion (vgl. zu beiden Funktionen Palandt,
BGB, 52. Aufl., § 847 RdNr. 4 m.w.N.). Es hat damit keinen Versorgungscharakter und soll nicht zur Deckung des Lebensunterhalts dienen, sondern
dem Verletzten gerade Annehmlichkeiten über den Grundbedarf hinaus verschaffen (ebenso Link, ZfSH/SGB 1991, 306). Aus diesem Grund bestimmt auch § 77 Abs. 2 BSHG, daß eine Entschädigung, die nach § 847
BGB geleistet wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Dies muß regelmäßig ebenso für kapitalisiertes Schmerzensgeld
gelten, das nicht als Einkommen, sondern als Vermögen anzusehen ist, zumal da es häufig vom Zufall abhängt, ob vom Schädiger
eine Kapitalabfindung oder eine laufende Rente geschuldet werden. Der Funktion nach ist auch der Kapitalbetrag auf die Dauer
der Beeinträchtigung zu verteilen, und auch er soll laufenden Ausgleich bieten (vgl. OLG Köln, Beschluß vom 29.09.1987 - 4 UF 125/87 -, FamRZ 1988, 95).
Die Auffassung, der Einsatz von Schmerzensgeld, das als Vermögen anzusehen ist, bedeute für den Hilfesuchenden regelmäßig
eine Härte im Sinne von § 88 Abs. 3 Satz 1 BSHG, wird ganz überwiegend auch von der Literatur und Rechtsprechung - auch zu §
115 Abs.
2 ZPO - vertreten (vgl. z. B. OVG Lüneburg, Urt. vom 25.10.1974 a.a.O.; OLG Köln, Beschluß vom 29.09.1987 a.a.O.; Link a.a.O.;
Knopp/Fichtner a.a.O. § 86 RdNr. 3a; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 13. Aufl., § 88 RdNr. 70; LPK-BSHG, 3. Aufl., §
88 RdNr. 46; Baumbach-Lauterbach/Albers/Hartmann,
ZPO, 51. Aufl., §
114 RdNr. 68). Auch die Sozialhilferichtlinien von Baden-Württemberg (RdNr. 88.37) nennen Schadensersatzansprüche als Beispiel
einer Härte im Sinne von § 88 Abs. 3 BSHG.
Der Senat kann die Frage offenlassen, ob von dem genannten Grundsatz dann eine Ausnahme zu machen ist, wenn das an den Verletzten
gezahlte Schmerzensgeld besonders hoch (vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, Urt. vom 25.10.1974 a.a.O.). Um ein besonders hohes
Schmerzensgeld handelt es sich bei einem Betrag von 16 000,-- DM nämlich offensichtlich nicht.
Der Beklagte hat keine weiteren Gründe vorgetragen, die einem Anspruch des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt entgegenstehen
könnten. Auch für den Senat sind in bezug auf den maßgeblichen Zeitraum solche Gründe nicht ersichtlich.