Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens; Unangemessenheit der Verfahrensdauer; Ermittlungspflichten
des Richters; Entschädigungsanspruch bei Erledigung vor Ablauf der Sechsmonatsfrist
Tatbestand:
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S
12 R 3378/07 geführten Verfahrens.
Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Nachdem sie dem bis 2002 als Fußbodenleger tätigen Kläger im Dezember 2003 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei
Berufsunfähigkeit auf Dauer gewährt und der Kläger im Folgenden an einer sechsmonatigen Umschulung teilgenommen hatte, hob
die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg die Bewilligung der Rente mit Bescheid vom 06. Februar 2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 03. April 2007 wegen Änderung der Verhältnisse mit Wirkung ab dem 01. März 2007 auf.
Am 18. April 2007 erhob der seinerzeit anwaltlich vertretene Kläger hiergegen Klage vor dem Sozialgericht Berlin, die unter
dem Aktenzeichen S 12 R 3378/07 registriert wurde, und beantragte vor Fertigung einer Klagebegründung Akteneinsicht. Auf die unter dem 25. April 2007 erfolgte
Anforderung der Akten bei dem damaligen Beklagten gingen diese am 20. Juni 2007 bei Gericht ein und wurden umgehend der Bevollmächtigten
des Klägers übersandt. Am 13. Juli 2007 ging die sehr knapp gehaltene Klagebegründung ein, mit der pauschal geltend gemacht
wurde, dass der Kläger Berufsschutz genieße und eine Umschulung von einem halben Jahr nicht zu der Annahme führen könne, er
habe nunmehr einen neuen Beruf erlernt, der die Berufsunfähigkeit entfallen lasse.
Nach Eingang der umgehend angeforderten Klageerwiderung am 30. August 2007, wunschgemäßer Übersendung der Verwaltungsakten
an die damalige Beklagte Anfang September 2007 und Rücklauf der Akten am 01. November 2007 übersandte das Gericht dem Kläger
wenige Tage später verschiedene Vordrucke (Entbindung von der Geheimhaltungs- bzw. ärztlichen Schweigepflicht sowie Fragebogen
zur Person), die ausgefüllt am 30. November 2007 zurückgelangten. Am selben Tag erhielt das Gericht Kenntnis, dass die damalige
Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 12. Oktober 2007 für die Zeit vom 18. September bis zum 12. November 2007 Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt hatte. Mit am 28. Dezember 2007 gefertigter Verfügung vom 05. Dezember 2007 bat der Kammervorsitzende
unter Erteilung eines rechtlichen Hinweises die damalige Bevollmächtigte um Mitteilung, ob der Kläger die ihm bewilligten
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Anspruch genommen habe, und falls ja mit welchem Erfolg. Mitte Februar und Anfang
April 2008 erinnerte das Gericht an die Beantwortung. Am 11. April 2008 kündigte die damalige Bevollmächtigte des Klägers
die unverzügliche Beantwortung der Fragen an, drei Tage später teilte sie mit, dass die Leistung am 12. November 2007 ohne
Erfolg beendet worden sei. Ausweislich beigefügter Kopien hatte der Kläger am 18. September 2007 seine Arbeit bei der Forschungsgruppe
Wissenschaft im Management aufgenommen, das Ziel der Einarbeitung jedoch nicht erreicht.
Nach einem zwischenzeitlichen Wechsel im Kammervorsitz fertigte der neue Vorsitzende unter dem 28. Oktober 2008 einen Aktenvermerk.
Danach war eine Rücksprache mit der damaligen Bevollmächtigten des Klägers erfolgt und hatte diese erklärt, dass der Kläger
wieder arbeite und sie ihn überzeugen wolle, die Klage zurückzunehmen. Die Akte wurde dem Richter, der eine Monatsfrist gesetzt
hatte, am 06. Februar 2009 wieder vorgelegt, woraufhin dieser mit Verfügung vom 11. Februar 2009 unter Bezugnahme auf das
Telefonat nochmals schriftlich bat, die Erfolgsaussichten der Klage zu überprüfen. Nachdem bis dahin keine Reaktion erfolgt
war, verfügte der Vorsitzende den Rechtsstreit am 13. März 2009 in das so genannte "EöT(Erörterungstermin)-Fach".
Mit am 25. März 2009 eingegangenem Schriftsatz hielt der Kläger ausdrücklich an seiner Klage fest und machte geltend, dass
ihm die von der Beklagten vorgeschlagene Verweisungstätigkeit weder objektiv noch subjektiv zumutbar sei, da er als Facharbeiter
mit Vorgesetztenfunktion anzusehen sei. Nachdem die damalige Beklagte mit am 27. April 2009 eingegangenem Schriftsatz darauf
verwiesen hatte, dass der Kläger lediglich als Facharbeiter (ohne Vorgesetztenfunktion) habe eingestuft werden können, sodass
die Verweisungstätigkeit zumutbar sei, übersandte das Gericht diesen Schriftsatz am Folgetag verbunden mit dem Hinweis, dass
die Auffassung der Beklagten zutreffend sei, der damaligen Bevollmächtigten des Klägers zur Stellungnahme. Mitte Mai informierte
die damalige Beklagte das Gericht, dass sie dem Kläger Leistungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes in Aussicht gestellt
habe. Unter dem 19. Mai 2009 fragte der Vorsitzende daraufhin bei dem Kläger an, welches Interesse noch an der Klage bestehe,
und erinnerte unter dem 23. Juni 2009 an die Beantwortung der Anfrage. Ende Juli 2009 verfügte der Vorsitzende der 12. Kammer
die Sache in das Entscheidungsfach, nachdem seitens des Klägers keine Reaktion erfolgt war.
Anfang November übersandte der Vorsitzende die Verwaltungsakten antragsgemäß an die damalige Beklagte, die einen Rentenantrag
des Klägers zu bescheiden hatte. Auf Wunsch der damaligen Bevollmächtigten des Klägers (Eingang am 19. November 2009) setzte
der Vorsitzende für den 17. Dezember 2009 einen Erörterungstermin an. In Vorbereitung dieses Termins wurde nunmehr seitens
des Klägers mehrfach - und dies erstmals inhaltlich konkreter - vorgetragen und geltend gemacht, Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion
gewesen zu sein. Weiter stellte er die Qualität der ihm gewährten Qualifikationsmaßnahme in Frage.
Der Erörterungstermin führte zu keinem Ergebnis. Im Folgenden wurden der damaligen Beklagten wieder die weiterhin von ihr
für die Bearbeitung des Rentenantrages benötigten Verwaltungsakten übersandt.
Nachdem die damalige Beklagte das Gericht von der zwischenzeitlichen Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen
ab dem 01. Februar 2010 informiert hatte (Eingang bei Gericht am 17. Februar 2010), bat das Gericht die Bevollmächtigte mit
Schreiben vom 03. März 2010 um Übersendung von der IHK erhaltener Auskünfte zur Qualität der Umschulung und erinnerte diese
am 23. April 2010 an die Erledigung. Nach Zwischennachricht vom 04. Mai 2010 gingen schließlich am 21. Mai 2010 Unterlagen
ein; mit richterlicher Verfügung vom selben Tage (ausgeführt am 03. Juni 2010) wurde die damalige Beklagte um Stellungnahme
gebeten. Mit am 16. Juni 2010 eingegangenem Schriftsatz hielt diese an ihrer Rechtsauffassung fest und beantragte weiterhin,
die Klage abzuweisen. Das Schreiben wurde der Bevollmächtigten des Klägers auf richterliche Verfügung vom 18. Juni 2010 vier
Tage später zur Stellungnahme übersandt. Nachdem hierauf keine Reaktion erfolgt und die Sache sodann am 12. September wieder
in das Entscheidungsfach verfügt worden war, teilte der Vorsitzende der Bevollmächtigten des Klägers auf eine Sachstandsanfrage
vom 24. Januar 2011 Mitte März 2011 mit, dass eine Entscheidung möglichst im Laufe des ersten Halbjahres 2011 getroffen werden
solle. Am 21. November 2011 terminierte er den Rechtsstreit schließlich auf den 05. Januar 2012.
Am 05. Januar 2012 fand die mündliche Verhandlung statt. Das Gericht hob mit Urteil vom selben Tage den angefochtenen Bescheid
auf. Die schriftlichen Urteilsgründe wurden den Beteiligten am 26. Januar 2012 zugestellt. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Am 01. Juni 2012 hat der Kläger beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer
erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass ihm die Dauer von viereinhalb Jahren für das gerichtliche Verfahren,
in dem keine Gutachten o.ä. eingeholt worden seien, unverständlich sei. Das Verfahren sei vom Gericht nicht in angemessener
Form gefördert worden, dies gelte namentlich für die Zeit, in der sich die Akte zum Schluss im so genannten Entscheidungsfach
befunden habe. Für ihn habe dies eine enorme psychische Belastung dargestellt. Er sei nach Entzug der Rente im Wesentlichen
von den Zuwendungen seiner Frau abhängig gewesen, die sich schließlich 2010 mit einem schweren Belastungssyndrom in psychische
Behandlung habe begeben müssen. Er hätte sich daher dazu entschlossen, vorzeitig Altersrente in Anspruch zu nehmen, was für
ihn nunmehr dauerhaft mit Abschlägen verbunden sei.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen unangemessener Dauer seines Verfahrens gegen die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg
vor dem Sozialgericht Berlin - S 12 R 3378/07 - eine angemessene Entschädigung in Höhe von mindestens 1.000,00 € zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, das Verfahren sei trotz seiner objektiven Länge von Besonderheiten geprägt, die die Dauer als im Einzelfall nicht
unangemessen erscheinen lasse. Die Verzögerungen seien maßgeblich auf das Verhalten der damaligen Bevollmächtigten des Klägers
zurückzuführen. So sei die Klage erstmals im Juli 2007 begründet worden. Bis zur Information des Gerichts im April 2008 vom
erfolglosen Abschluss der Qualifizierungsmaßnahme sei sodann eine sinnvolle Weiterbetreibung des Verfahrens nicht möglich
gewesen. Zwischen Ende Oktober 2008 und Ende März 2009 habe das Gericht die Klärung der Angelegenheit zwischen dem Kläger
und seiner damaligen Bevollmächtigten abwarten müssen. Erst danach habe es Veranlassung gehabt, dem Verfahren Fortgang zu
gewähren. Im Folgenden sei das Begehren erst ausführlich begründet und mit entsprechenden Nachweisen (teilweise) belegt worden,
nachdem der Vorsitzende einen Erörterungstermin anberaumt hätte. Aufgrund des gefertigten Protokolls über den Erörterungstermin
könne nur vermutet werden, dass die Beteiligten mündlich zu weiterem Vortrag aufgefordert worden seien. Nach Anforderung von
Stellungnahmen und Austausch verschiedener Schriftsätze sei die Sache ab Mitte September 2010 als entscheidungsreif angesehen
worden. Von da an sei es dann tatsächlich bis zur Terminierung im November 2011 zu einer der gerichtlichen Sphäre zuzurechnenden
Untätigkeit gekommen. Diese rechtfertige aber nicht die Annahme, es liege eine unangemessene Verfahrensdauer vor.
Weiter sei zu beachten, dass dem Kläger im Februar 2010 eine Altersrente gewährt worden sei, sodass sich die wirtschaftliche
Bedeutung des stattgebenden Urteils in seiner Wirkung auf den Zeitraum von März 2007 bis Februar 2010 beschränke.
Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Verzögerungsrüge nur zwei Tage vor der bereits anberaumten mündlichen Verhandlung,
die Entschädigungsklage hingegen noch vor Ablauf von sechs Monaten ab Einlegung der Verzögerungsrüge erhoben worden sei. Bei
der Erhebung der Verzögerungsrüge sei es ersichtlich nicht um eine Beschleunigung des Verfahrens gegangen, sondern allein
um die Wahrung eines Entschädigungsanspruchs.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen
haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
A. Die auf Gewährung einer Entschädigung gerichtete Klage ist zulässig.
I. Maßgebend für das vorliegende Klageverfahren sind die §§
198 ff.
GVG sowie die §§
183,
197a und
202 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG), jeweils in der Fassung des GRüGV vom 24. November 2011 (BGBl. I, S. 2302) und des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer
gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06. Dezember 2011 (BGBl. I, S. 2554). Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer handelt es sich nicht
um einen Amtshaftungsanspruch im Sinne des Art.
34 des
Grundgesetzes (
GG). Es ist daher nicht der ordentliche Rechtsweg, sondern vorliegend der zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet.
Denn die grundsätzlich in § 201 Abs. 1 Satz 1 vorgesehene Zuweisung der Entschädigungsklagen an das Oberlandesgericht, in
dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde, wird für sozialgerichtliche Verfahren in §
202 Satz 2
SGG modifiziert. Nach dieser Regelung sind die Vorschriften des 17. Titels des
GVG (§§
198-
201) mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle
des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der
Zivilprozessordnung das
SGG tritt. Für die Entscheidung über die Klage ist daher das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zuständig.
II. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft. Nach §
201 Abs.
2 Satz 1
GVG i.V.m. §
202 Satz 2
SGG sind die Vorschriften des
SGG über das Verfahren vor den Sozialgerichten im ersten Rechtszug heranzuziehen. Gemäß §
54 Abs.
5 SGG kann mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn
ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Der Kläger macht angesichts der Regelung des §
198 GVG nachvollziehbar geltend, auf die begehrte Entschädigungszahlung, die eine Leistung i.S.d. §
54 Abs.
5 SGG darstellt, einen Rechtsanspruch zu haben. Eine vorherige Verwaltungsentscheidung ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen (vgl.
§
198 Abs.
5 GVG). Vielmehr lässt die amtliche Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. 17/3802, S. 22 zu Abs. 5 Satz
1), nach der der Anspruch nach allgemeinen Grundsätzen auch vor einer Klageerhebung gegenüber dem jeweils haftenden Rechtsträger
geltend gemacht und außergerichtlich befriedigt werden kann, erkennen, dass es sich hierbei um eine Möglichkeit, nicht jedoch
eine Verpflichtung handelt.
III. Auch ist die Klage form- und fristgerecht erhoben. Die gemäß §
90 SGG für die Klage vorgeschriebene Schriftform ist eingehalten. Gleiches gilt für die Einlegungsfrist. Nach §
198 Abs.
5 Satz 2
GVG muss eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer spätestens sechs Monate
nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder nach einer anderen Erledigung des Verfahrens
erhoben werden. Vorliegend ist das Verfahren durch Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 05. Januar 2012 beendet worden. Ob
es für den Beginn der Sechs-Monats-Frist auf diesen Zeitpunkt oder - was eher anzunehmen sein dürfte - den der Zustellung
der Urteilsgründe am 26. Januar 2012 ankommt, kann hier dahinstehen. Denn mit der am 01. Juni 2012 erhobenen Klage ist die
Frist in beiden Fällen gewahrt.
B. Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger
Dauer des gegen die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen S 12 R 3378/07 geführten Gerichtsverfahrens. Der Beklagte ist insoweit passivlegitimiert (hierzu im Folgenden zu I.), und die Voraussetzungen
für die begehrte Entschädigung liegen vor (hierzu im Folgenden zu II.).
I. Zu Recht hat der Kläger seine Klage gegen das Land Berlin gerichtet. Nach §
200 Satz 1
GVG haftet für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind, das Land. Die Übertragung
der Vertretung des beklagten Bundeslandes Berlin auf die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin (§ 29 Abs. 1 Satz 1 der Anordnung
über die Vertretung des Landes Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz vom 22.10.2012,
Amtsblatt Berlin 2012, S. 1979) ist nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte diese Übertragung durch eine Verwaltungsanweisung
vorgenommen werden; ein Gesetz war nicht erforderlich (so BFH, Urteil vom 17.04.2013 - X K 3/12 - juris, Rn. 30 ff. für die vorher geltende Anordnung über die Vertretung des Landes Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung
für Justiz vom 20.09.2007, Amtsblatt Berlin 2007, 2641).
II. Auch liegen die Voraussetzungen für den geltend gemachten Entschädigungsanspruch vor.
Der Kläger macht eine unangemessene Dauer des am 18. April 2007 beim Sozialgericht Berlin eingeleiteten und letztlich durch
stattgebendes Urteil vom 05. Januar 2012 beendeten (Zustellung der Urteilsgründe am 26. Januar 2012) und damit insgesamt gut
vier Jahre und neun Monate bei Gericht anhängigen Verfahrens geltend. Insoweit rügt er im Wesentlichen eine Verzögerung mit
Blick auf die Zeit, in der das Verfahren zuletzt als entscheidungsreif angesehen, jedoch noch nicht terminiert war. Für diesen
Zeitraum begehrt er - wie er in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich klargestellt hat - eine Entschädigung allein für den
ihm entstandenen immateriellen Nachteil.
Nach §
198 Abs.
1 Satz 1
GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil
erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach
den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß §
198 Abs.
4 GVG ausreichend ist (§
198 Abs.
2 S. 2
GVG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer
des Verfahrens gerügt hat (§
198 Abs.
3 Satz 1
GVG). Dies gilt nach Art. 23 Satz 2 bis 5 GRüGV für anhängige Verfahren, die bei Inkrafttreten des GRüGV schon verzögert sind, mit der Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge
unverzüglich nach Inkrafttreten des GRüGV erhoben werden muss. Nur in diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch
nach §
198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum. Gemäß §
198 Abs.
5 Satz 1
GVG, der in Art. 23 Satz 5 GRüGV lediglich für bei Inkrafttreten des GRüGV bereits abgeschlossene Verfahren für nicht anwendbar erklärt wird,
kann eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach §
198 Abs.
1 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden.
Entgegen der Ansicht des Beklagten steht dem geltend gemachten Entschädigungsanspruch nicht entgegen, dass das Verfahren nicht
einmal einen Monat nach Erhebung der Verzögerungsrüge beendet war, die Verzögerungsrüge nur zwei Tage vor dem bereits anberaumten
Termin zur mündlichen Verhandlung erhoben worden ist und die Klage vor Ablauf von sechs Monaten ab Erhebung der Verzögerungsrüge
eingelegt worden ist (vgl. hierzu im Folgenden zu 1.)Auch ist das Verfahren als überlang anzusehen (vgl. hierzu im Folgenden
zu 2.).
1. Der Kläger hat am 03. Januar 2012 und damit unverzüglich ab Inkrafttreten des GRüGV Verzögerungsrüge erhoben (vgl. Urteile
des Senats vom 02.08.2013 - L 37 SF 274/12 EK AS, Rn. 43 ff. und - L 37 SF 252/12 EK AL, Rn. 28 ff., juris, wonach im Falle einer anwaltlichen Vertretung im Ausgangsverfahren die Verzögerungsrüge innerhalb
eines Monats ab Inkrafttreten des GRüGV am 03.12.2011 zu erheben ist). Weder ist dies angesichts der zum damaligen Zeitpunkt
bereits erfolgten Terminierung als rechtsmissbräuchlich anzusehen noch steht dem auf §
198 GVG gestützten Entschädigungsanspruch des Klägers entgegen, dass das Sozialgericht das Ausgangsverfahren innerhalb nicht einmal
eines Monats nach Erhebung dieser Verzögerungsrüge zum Abschluss gebracht hat und zwischen der Erhebung der Verzögerungsrüge
und der Einlegung der Klage nicht mindestens sechs Monate vergangen waren.
Zwar trifft es zu, dass nach §
198 Abs.
5 Satz 1
GVG eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach §
198 Abs.
1 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Indes hat der Bundesfinanzhof (BFH, Urteil
vom 17.04.2013 - X K 3/12 - juris, Rn. 46 ff.) bereits entschieden, dass die Erledigung vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist jedenfalls in den Fällen,
die eine bereits vor Inkrafttreten des GRüGV eingetretene Verzögerung betreffen, einem Entschädigungsanspruch nicht entgegenstehen
könne. Denn schon vor Inkrafttreten des GRüGV sei die Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verpflichtet gewesen, Rechtsschutz in angemessener Zeit zu gewähren und für Fälle der Verletzung des genannten Anspruchs
eine wirksame Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung zu stellen (Art. 13 EMRK). Würde eine vor Inkrafttreten des GRüGV eingetretene Verzögerung dadurch rückwirkend "geheilt", dass das Gericht das Verfahren
kurzfristig nach einer - erstmals ab dem Inkrafttreten des Gesetzes überhaupt möglichen - Verzögerungsrüge beende, stünde
dem Betroffenen hinsichtlich der eingetretenen Verzögerung weder ein wirksamer Rechtsbehelf noch ein Entschädigungsanspruch
zu. Dies wäre mit den aus der EMRK folgenden und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mehrfach festgestellten Pflichten Deutschlands unvereinbar. Im Übrigen habe der EGMR im Urteil vom 29. März 2006 (36813/97 - Scordino/Italien -, NJW 2007, 1259, Rn. 185) ausgeführt, dass in Ländern, in denen eine Konventionsverletzung wegen der Dauer des Verfahrens schon eingetreten
sei, ein nur auf Beschleunigung gerichteter Rechtsbehelf, so wünschenswert er für die Zukunft sei, zur Wiedergutmachung nicht
ausreiche, wenn das Verfahren offensichtlich schon übermäßig lang gedauert habe. In diesem Sinne sei die vom deutschen Gesetzgeber
nunmehr geschaffene Verzögerungsrüge ein "nur auf Beschleunigung gerichteter Rechtsbehelf", der allein aber zur Wiedergutmachung
einer in der Vergangenheit liegenden Verzögerung nicht ausreichen könne, wenn der neue Rechtsbehelf in der Vergangenheit noch
gar nicht zur Verfügung gestanden habe. Schließlich verweise der EGMR in seinen nach Inkrafttreten des GRüGV ergangenen Entscheidungen die Beschwerdeführer auch in solchen Verfahren, die bei
ihm bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes anhängig gewesen seien, auf den nationalen Rechtsbehelf der Entschädigungsklage.
Er führe aber zugleich aus, dass er diese Position in Zukunft überprüfen werde, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen
Gerichte abhängig sei, im Hinblick auf das GRüGV eine konsistente und den Erfordernissen der EMRK entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (so ausdrücklich Entscheidung des EGMR vom 29.05.2012, 53126/07 - Taron/Deutschland -, EuGRZ 2012, 514, Rn. 45). Vor diesem Hintergrund seien bei der Auslegung der durch das GRüGV in das deutsche Recht aufgenommenen Normen auch
die Erfordernisse eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu berücksichtigen. Mit diesem wäre es unvereinbar, wenn eine bereits
eingetretene Verzögerung durch nachträgliches staatliches Handeln ohne Zuerkennung einer Wiedergutmachung ungeschehen gemacht
werden könne. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der Senat jedenfalls für diejenigen Rechtsstreitigkeiten an, in denen
unverzüglich ab Inkrafttreten des GRüGV am 03. Dezember 2011 Verzögerungsrüge erhoben und das Verfahren sodann vor Ablauf
von sechs Monaten rechtskräftig abgeschlossen wurde. Entgegen der Ansicht des Beklagten stellt sich in diesen Fällen die Erhebung
der Verzögerungsrüge auch nicht als rechtsmissbräuchlich dar, weil sie (voraussichtlich) nur der Wahrung eines Entschädigungsanspruchs
dient. Schließlich besteht in diesen Fällen der zwischenzeitlichen rechtskräftigen Verfahrenserledigung auch keine Veranlassung,
auf den Ablauf von mindestens sechs Monaten ab Erhebung der Verzögerungsrüge bis zur Erhebung der Entschädigungsklage zu bestehen.
2. Zur Überzeugung des Gerichts ist das insgesamt vier Jahre und neun Monate dauernde Verfahren im Umfang von dreizehn Monaten
als überlang anzusehen.
Ob die Verfahrensdauer angemessen ist, richtet sich nicht nach starren Fristen. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber bewusst (vgl.
Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/3802, S. 18 zu § 198 Abs. 1) von der Einführung bestimmter
Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen, weil eine abstrakt-generelle Festlegung, wann ein Verfahren
unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist (vgl. Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren,
§ 198 Rn. 68 m.w.N.).
Maßgeblich sind nach §
198 Abs.
1 Satz 2
GVG vielmehr die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der
Verfahrensbeteiligten und Dritten. Lediglich beispielhaft und ohne abschließenden Charakter werden hier - in Anknüpfung an
die vom Bundesverfassungsgericht sowie vom EGMR im Zusammenhang mit der Frage überlanger gerichtlicher Verfahren entwickelten Maßstäbe - Umstände benannt, die für die Beurteilung
der Angemessenheit besonders bedeutsam sind. Maßgebend bei der Beurteilung der Verfahrensdauer ist danach - so ausdrücklich
die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks. 17/3802, S. 18 f. zu § 198 Abs. 1) - unter dem Aspekt einer
möglichen Mitverursachung zunächst die Frage, wie sich der Entschädigungskläger selbst im Ausgangsverfahren verhalten hat.
Außerdem sind insbesondere zu berücksichtigen die Schwierigkeit, der Umfang und die Komplexität des Falles sowie die Bedeutung
des Rechtsstreits. Hier ist nicht nur die Bedeutung für den auf Entschädigung klagenden Verfahrensbeteiligten aus der Sicht
eines verständigen Betroffenen von Belang, sondern auch die Bedeutung für die Allgemeinheit. Relevant ist ferner das Verhalten
sonstiger Verfahrensbeteiligter sowie das Verhalten Dritter. Hingegen kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen
Dauer eines Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen; vielmehr muss er alle
notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist beendet werden können. Deshalb kann
bei der Frage der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf die chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände
oder eine allgemein angespannte Personalsituation abgestellt werden.
Allerdings reichen die in §
198 Abs.
1 Satz 2
GVG benannten Umstände nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteile vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 und 2/12 KL -,
zitiert nach juris, jeweils Rn. 25 ff. und m.w.N.), der der Senat sich anschließt, zur Ausfüllung des Begriffs der unangemessenen
Verfahrensdauer in §
198 Abs.
1 Satz 1
GVG nicht aus. Vielmehr sind diese Umstände in einen allgemeinen Wertungsrahmen einzuordnen. So verdeutlicht bereits die Anknüpfung
des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs an den als Grundrecht nach Art.
19 Abs.
4 GG i.V.m. Art.
20 Abs.
3 GG sowie als Menschenrecht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK qualifizierten Anspruch auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit, dass es auf eine Beeinträchtigung
eines Grund- und Menschenrechts durch die Länge des Gerichtsverfahrens ankommt. Es wird damit von vornherein eine gewisse
Schwere der Belastung vorausgesetzt, sodass nicht jede Abweichung vom Optimum ausreicht, vielmehr eine deutliche Überschreitung
der äußersten Grenze des Angemessenen vorliegen muss. Weiter verbietet sich das Ziehen einer engen zeitlichen Grenze bei der
Bestimmung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer zum einen im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit der
Richter (Art.
97 Abs.
1 GG), zum anderen unter Berücksichtigung des Ziels einer inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidungen. Schließlich muss ein Rechtsuchender
damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Sachen zu behandeln hat, sodass
ihm eine gewisse Wartezeit zuzumuten ist.
Gemessen daran wurde im streitgegenständlichen Ausgangsverfahren die äußerste Grenze des Angemessenen überschritten.
Das Ausgangsverfahren, in dem der Kläger sich gegen die Aufhebung der ihm ursprünglich ab Dezember 2003 auf Dauer gewährten
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit mit Wirkung ab dem 01. März 2007 wandte, war von allenfalls
durchschnittlicher Schwierigkeit. Es war letztlich zu klären, ob die damalige Beklagte zu Recht davon ausgegangen war, dass
der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach Gewährung
einer sechsmonatigen Umschulung entfallen war. Dies erforderte im vorliegenden Fall zwar keine medizinischen Ermittlungen,
allerdings bedurfte es insbesondere einer Klärung der Wertigkeit der vom Kläger durchlaufenen Umschulungsmaßnahme.
Auch war die Sache für den Kläger jedenfalls bis Anfang 2010 durchaus von Bedeutung, da es um die Frage ging, ob ihm die ihm
zuvor gewährte und dann wieder entzogene Rente weiterhin zu zahlen ist. Allerdings ist auch zu beachten, dass jedenfalls die
unmittelbare wirtschaftliche Bedeutung der Sache für den Kläger - und allein diese war für das Gericht erkennbar - mit der
Bewilligung der Altersrente zum 01. Februar 2010 sein Ende gefunden hatte. Denn da dem Kläger dadurch wieder laufende Leistungen
zur Verfügung standen, ging es in dem Rechtsstreit letztlich nur noch um die Frage, ob ihm die ursprünglich gewährte und dann
mit Wirkung ab dem 01. März 2007 entzogene Rente wegen Berufsunfähigkeit rückwirkend für die Zeit vom 01. März 2007 bis zum
31. Januar 2010 und damit für knapp drei Jahre nachzuzahlen war.
Im Hinblick auf den Ablauf des Verfahrens ist zu beachten, dass es tatsächlich zweimal zu längeren Bearbeitungspausen durch
das Gericht gekommen ist, umgekehrt aber gerade in den Jahren 2008 und 2009 Verzögerungsphasen in erheblichem Umfang auf die
Untätigkeit des Klägers bzw. seiner damaligen Bevollmächtigten zurückzuführen sind.
Nach Eingang der Klage beim Sozialgericht Berlin im April 2007 wurde das Verfahren zunächst von allen Beteiligten sachgerecht
betrieben. Angesichts des von der damaligen Bevollmächtigten des Klägers gestellten Antrages auf Akteneinsicht mussten zunächst
die Verwaltungsakten der damaligen Beklagten angefordert werden. Dies geschah binnen Wochenfrist. Nach Eingang wurden diese
Akten unmittelbar an die Bevollmächtigte übersandt. Deren sehr knappe und allgemein gehaltene, am 13. Juli 2007 bei Gericht
eingegangene Klagebegründung wurde der damaligen Beklagten vier Tage später zur Stellungnahme zugeleitet. Nach Eingang der
Erwiderung am 30. August 2007 konnte das Gericht zunächst nicht tiefer in die Bearbeitung des Verfahrens eintreten, weil die
Verwaltungsakten nochmals von der Beklagten benötigt und dieser daher umgehend zurückgeschickt wurde. Fünf Tage nach deren
Rücklauf am 01. November 2007 entschied sich der damalige Vorsitzende, medizinische Ermittlungen durch Übersendung von Vordrucken
zu den vom Kläger hierfür benötigten Angaben und Befreiungserklärungen vorzubereiten. Ob dies sinnvoll war, hat der Senat
ebenso wenig zu beurteilen wie er prüfen darf, ob die Rechtsauffassung(en) der den Rechtsstreit bearbeitenden Richter zutreffend
waren oder nicht und das Verfahren bei Ansatz einer anderen Rechtsauffassung möglicherweise schneller zum Abschluss zu bringen
gewesen wäre. Denn jedem Richter steht als Ausdruck seiner richterlichen Unabhängigkeit ein Gestaltungsspielraum zu, der -
solange nicht die Grenze des Vertretbaren überschritten wird - zu respektieren ist. Dies mag im Einzelfall durchaus auch einmal
damit einhergehen, dass ursprünglich für erforderlich erachtete Ermittlungen letztlich als nicht relevant angesehen werden.
Die Vorgehensweise des damaligen Kammervorsitzenden hält sich zweifelsohne im Rahmen des richterlichen Gestaltungsspielraums.
Denn für die Frage, ob der Kläger von der Beklagten auf eine ihm zumutbare Tätigkeit verwiesen wurde, konnte durchaus auch
sein körperliches Leistungsvermögen von Bedeutung sein.
Dass es nach Eingang der ausgefüllten Vordrucke bei Gericht - dem 30. November 2007 - nicht zur Einleitung von Ermittlungen
kam, ist ersichtlich darauf zurückzuführen, dass das Gericht am selben Tage von den dem Kläger kurz zuvor durch die damalige
Beklagte gewährten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfuhr. Verständlicherweise erkundigte sich der Vorsitzende daraufhin
erst einmal bei der Bevollmächtigten des Klägers, ob und ggf. mit welchem Erfolg die gewährten Leistungen in Anspruch genommen
worden waren. Dies geschah mit am 28. Dezember 2007 gefertigten Schreiben, auf das im Folgenden monatelang - und dies trotz
Mahnung - keine Reaktion erfolgte. Erst Mitte April 2008 - und damit nach etwa dreieinhalb Monaten - teilte die Bevollmächtigte
des Klägers dem Gericht schließlich mit, dass die Maßnahme ohne Erfolg beendet worden sei.
Im Folgenden ist es tatsächlich bis Ende Oktober 2008 und damit gut sechs Monate lang nicht zu einer erkennbaren weiteren
Bearbeitung der Sache durch das Gericht gekommen. Indes sieht der Senat dies lediglich im Umfang von zwei Monaten als entschädigungsrelevant
an. Denn schon im Allgemeinen muss es einem Gericht immer mal wieder freistehen, über die Sach- und Rechtslage nachzudenken
und das weitere Vorgehen zu erwägen. Im Besonderen hat dies dann zu gelten, wenn es zwischenzeitlich zu einem Wechsel im Kammervorsitz
gekommen ist. Dem neuen Vorsitzenden muss dann eine gewisse Zeit zugestanden werden, um sich in dieses wie in weitere Verfahren
einzuarbeiten. Bei dem im April 2008 gerade ein Jahr anhängigen Verfahren musste sich das Gericht auch unter Berücksichtigung
des Streitgegenstandes nicht gedrängt sehen, die Sache - und dies letztlich regelmäßig zu Lasten anderer Verfahren - ganz
besonders zu fördern.
Soweit es ab Ende Oktober 2008 zu einer Verfahrensverzögerung gekommen ist, ist dies nicht dem Beklagten anzulasten. Es ist
den Akten nicht zu entnehmen, ob es Ende Oktober 2008 letztlich auf Initiative des Gerichts oder der Bevollmächtigten des
Klägers zu einem Telefonat gekommen ist. Fest steht danach jedoch, dass die Bevollmächtigte des Klägers dem Kammervorsitzenden
damals erklärte, der Kläger arbeite wieder und sie wolle ihn überzeugen, die Klage zurückzunehmen. In dieser Situation war
durch das Gericht nichts zu veranlassen, sondern die Nachricht über das Ergebnis der Abstimmung des Klägers mit seiner Bevollmächtigten
abzuwarten. Nachdem diese bis Februar 2009 nicht bei Gericht eingegangen war, bat der Vorsitzende unter dem 13. Februar 2009
noch einmal schriftlich um Nachricht. Von da an vergingen noch einmal gut vier Wochen, bevor dem Gericht schließlich mit am
25. März 2009 eingegangenem Schriftsatz mitgeteilt worden war, dass das Verfahren fortgesetzt werde. Diese fünf Monate der
Verzögerung zwischen Ende Oktober 2008 und Ende März 2009 sind allein dem Kläger, nicht aber dem Beklagten anzulasten.
Nachdem die Bevollmächtigte des Klägers in dem Schriftsatz vom 25. März 2009 erstmals geltend gemacht hatte, dass der Kläger
nicht nur als Facharbeiter, sondern als Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion einzustufen sei, musste der damaligen Beklagten
erneut Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, was der Vorsitzende noch am selben Tage verfügte. Am 27. April 2009 ging
die erbetene Stellungnahme ein, mit der die Beklagte darauf verwies, dass keinerlei Unterlagen über die Ausübung einer Tätigkeit
als Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion vorlägen. Nachdem nunmehr dieser Schriftsatz zwei Tage später der Bevollmächtigten
des Klägers zur Stellungnahme übersandt worden war, ging Mitte Mai 2009 die Nachricht ein, dass dem Kläger nunmehr Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt worden seien. Auf die daraufhin am 19. Mai 2009 an die Bevollmächtigte des Klägers gerichtete
Bitte um Stellungnahme und die damit verbundene Anfrage, welches Interesse noch an der Fortsetzung der Klage bestehe, erfolgte
- und dies trotz Erinnerung unter dem 23. Juni 2009 - seitens des Klägers wieder keinerlei Reaktion, woraufhin der Vorsitzende
die Sache schließlich Ende Juli 2009 als entscheidungsreif einstufte.
Zu einer Terminierung kam es dann zunächst nicht, weil die damalige Beklagte angesichts eines zwischenzeitlich vom Kläger
gestellten Rentenantrages die Verwaltungsakten zur Bearbeitung benötigte. Auf die am 19. November 2009 geäußerte Bitte der
Bevollmächtigten des Klägers, noch im selben Jahr einen Erörterungstermin anzuberaumen, hat der Kammervorsitzende jedoch die
Verwaltungsakten umgehend zurückgefordert und für den 17. Dezember 2009 einen Erörterungstermin anberaumt. Erstmals jetzt
wurde nun seitens des Klägers in vier Schriftsätzen intensiver zur Sache vorgetragen. So wurden jetzt seine Qualifikation
als Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion angeblich belegende Unterlagen zu den Akten gereicht. Zwei Tage vor dem Termin wurde
durch die Bevollmächtigte des Klägers zum Inhalt der sechs Monate dauernden, letztlich zum Entzug der Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit bei Berufsunfähigkeit führenden Maßnahme vorgetragen und geltend gemacht, dass von einem Bürosachbearbeiter
weitergehende Kenntnisse und Fähigkeiten gefordert würden als dem Kläger vermittelt worden seien. Aussagekräftige Belege hierzu
wurden hingegen nicht übersandt. Stattdessen verwies die Bevollmächtigte des Klägers darauf, dass "sich dies ja feststellen
lassen müsste", nahm Bezug auf ein Telefonat mit einem Mitarbeiter der IHK und überreichte einen knappen Ausdruck über im
Internet durch die Bundesagentur zur Verfügung gestellte Informationen. Schließlich ergänzte sie ihren Vortrag noch am Tag
vor der Sitzung.
Was letztlich im Rahmen des Erörterungstermins zwischen den damaligen Verfahrensbeteiligten besprochen wurde, ist nicht ersichtlich.
Fest steht nach Aktenlage jedoch, dass umgehend danach die Verwaltungsakten wieder der damaligen Beklagten zur Bearbeitung
des Rentenantrages zur Verfügung gestellt wurden und am 17. Februar 2010 verbunden mit der Nachricht, dass dem Kläger ab dem
01. Februar 2010 eine Altersrente gewährt worden sei, zurückgelangten. Unter dem 03. März 2010 bat der Kammervorsitzende die
Bevollmächtigte des Klägers, die von der IHK erhaltenen Auskünfte zur Qualität der Umschulung in Kopie einzureichen. Auch
jetzt erfolgte wieder keine zügige Reaktion. Vielmehr ging erst - und dies nach zwischenzeitlicher Mahnung im April 2010 durch
das Gericht - am 21. Mai 2010 die gewünschte Auskunft ein. Dieser ist zu entnehmen, dass sich die damalige Bevollmächtigte
des Klägers überhaupt erst mit Schreiben vom 04. Mai 2010 an die IHK gewandt hatte. Auch diese Verzögerung ist allein dem
Bereich des Klägers zuzuordnen.
Im Weiteren wurde das Verfahren durch das Gericht zunächst sachgerecht betrieben. Noch am 21. Mai 2010 verfügte der Kammervorsitzende
die Weiterleitung der übersandten Unterlagen und die Einholung einer Stellungnahme bei der damaligen Beklagten, die am 16.
Juni 2010 bei Gericht einging. Die daraufhin unter dem 22. Juni 2010 von der Bevollmächtigten des Klägers erbetene Stellungnahme
erfolgte nicht, woraufhin der Vorsitzende die Sache im September 2010 als entscheidungsreif in das Sitzungsfach verfügte.
Soweit erden Rechtsstreit im Folgenden erst mit Verfügung vom 21. November 2011 auf den 05. Januar 2012 terminierte, stellt
dies hingegen eine in den Verantwortungsbereich des Gerichts fallende Verzögerung dar. Als entschädigungsrelevant ist diese
Verzögerung hingegen - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht bereits ab Verfügung der Sache in das Entscheidungsfach im
September 2010, sondern zur Überzeugung des Senats erst ab Ende des Jahres 2010 - d.h. im Umfang von elf Monaten - anzusehen.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass jedem Richter - gerade unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit - zugebilligt
werden muss, im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraums die Verhandlungstermine nach eigenem Ermessen
zusammenzustellen. Denn insofern können neben dem Aspekt der jeweiligen Verfahrensdauer und fachlichen wie thematischen Erwägungen
namentlich auch Überlegungen der Prozessökonomie sowie Bemühungen, den übrigen Verfahrensbeteiligten das Erscheinen für nur
einen einzigen Termin zu ersparen, eine Rolle spielen. Indes ist auch zu berücksichtigen, dass das Verfahren zum Zeitpunkt
der (erneuten) Einstufung als entscheidungsreif im September 2010 bereits seit etwa dreieinhalb Jahren anhängig war und mit
zunehmender Dauer des Verfahrens die an die Angemessenheit zu stellenden Anforderungen steigen (vgl. hierzu BVerfG, Beschlüsse
vom 20.07.2000 - 1 BvR 352/00 - juris, Rn. 11 sowie vom 02.12.2011 - 1 BvR 314/11 -, juris, Rn. 7). Gemessen daran wäre vorliegend zur Überzeugung des Senats eine Terminierung bis zum Ende des Jahres 2010
vorzunehmen gewesen. Gründe, die es rechtfertigen könnten, stattdessen erst Ende November 2011 einen Termin für Januar 2012
anzuberaumen, sind nicht ersichtlich, insbesondere auch vom Beklagten nicht vorgetragen.
Eine Addition der aufgezeigten, dem Beklagten zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen führt zur Annahme einer Überlänge von
dreizehn Monaten. Eine abschließende Gesamtwürdigung des Ablaufs des Verfahrens unter Beachtung seiner Bedeutung und Schwierigkeit
rechtfertigt keine abweichende Einschätzung.
Durch diese überlange Verfahrensdauer hat der Kläger einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies folgt bereits
aus §
198 Abs.
2 Satz 1
GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert
hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet erscheinen lassen, sind nicht erkennbar und auch von
dem Beklagten nicht vorgebracht worden.
Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß §
198 Absatz
4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist zur Überzeugung
des Senats nicht ausreichend (§
198 Abs.
2 Satz 2
GVG). Unter Würdigung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 und Art. 41 EMRK, nach der eine derartige Kompensation eines Nichtvermögensschadens nur ausnahmsweise in Betracht kommt, besteht vorliegend
kein Anlass, von der gesetzlich als Normalfall vorgesehenen Zahlung einer Entschädigung abzusehen. Entsprechende Gründe hat
auch der Beklagte nicht geltend gemacht.
Ausgehend von der im Umfang von dreizehn Monaten überlangen Dauer des gerichtlichen Verfahrens beläuft sich die dem Kläger
zustehende angemessene Entschädigung gemäß §
198 Abs.
2 S. 3
GVG auf 1.300,00 €. Aus dem gemäß §
198 Abs.
2 S. 3
GVG vorgegebenen Richtwert von 1.200,00 € für jedes Jahr der Verzögerung errechnet sich eine Entschädigung von 100,00 € pro Monat.
Soweit teilweise eine monatsweise Betrachtung im Hinblick auf den auf das Jahr abstellenden Gesetzeswortlaut nicht für möglich
erachtet wird (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29.11.2012 - L 10 SF 5/12 ÜG - juris, Rn. 246 ff.), folgt der Senat dem nicht (so auch BSG, Urteile vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 und 2/12 KL - juris, jeweils Rn. 49 ff. m.w.N.). Abgesehen davon, dass im Gesetz nicht
auf das vollendete oder angefangene Jahr, sondern pauschal auf jedes Jahr abgestellt wird, heißt es in der Begründung des
Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks. 17/3802, S. 20 zu § 198 Abs. 2 Satz 3 und 4) ausdrücklich, dass der Pauschalsatz
an die Bemessungsgröße von einem Jahr, d.h. zwölf Monaten, anknüpfe und für Zeiträume unter einem Jahr eine zeitanteilige
Berechnung erfolge. Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, auch in den Fällen, in denen die unangemessene Dauer ein
Jahr überschreitet, der monatsweisen Betrachtung zu folgen.
Soweit das Gericht nach §
198 Abs.
2 S. 4
GVG einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen kann, sieht der Senat hierfür keinen Anlass. Anhaltspunkte, die den Ansatz
des gesetzlich vorgesehenen Pauschalbetrages unbillig und daher eine abweichende Festsetzung notwendig erscheinen lassen könnten,
sind weder ersichtlich noch von den Beteiligten vorgetragen. Ebenso wenig hatte der Senat schließlich Veranlassung, von der
in §
198 Abs.
4 Satz 3
GVG vorgesehenen Möglichkeit, in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung die Unangemessenheit der Verfahrensdauer auszusprechen,
Gebrauch zu machen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
155 Abs.
1 VwGO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils nach §
201 Abs.
2 Satz 1
GVG i.V.m. §§
708 Nr.
11,
709 Satz 1
ZPO war im Hinblick auf die Regelungen der §§
202,
198 Abs.
1 SGG nicht auszusprechen.
Anlass, die Revision nach §§
160 Abs.
2,
202 Satz 2
SGG,
201 Abs.
2 Satz 3
GVG zuzulassen, bestand nicht.
Die Streitwertentscheidung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1 und § 52 Abs. 1 und Abs. 3GKG. Der Senat hat sich dabei an der vom
Kläger angenommenen Verzögerung ab der letzten Verfügung des Ausgangsverfahrens in das so genannte Entscheidungs-Fach im September
2010 bis zur Terminierung des Verfahrens im November 2011 orientiert.