Faktische Einschränkung der Freizügigkeit Staatenloser durch örtliche Begrenzung des Sozialhilfeanspruchs
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob Staatenlosen, die über räumlich nicht beschränkte Aufenthaltsbefugnisse in
der Bundesrepublik Deutschland verfügen, laufende Sozialhilfe außerhalb des Bundeslandes, in dem die Aufenthaltsbefugnisse
erteilt worden sind, verweigert werden darf.
1. Die Beschwerdeführer sind Staatenlose aus dem Libanon. Die Asylverfahren der Beschwerdeführer zu 1) und 2) endeten mit
einer Rücknahme der Asylanträge. In der Folgezeit erhielten die Beschwerdeführer zu 1) und 2) aufgrund einer niedersächsischen
Bleiberechtsregelung zunächst eine Aufenthaltserlaubnis und einen Fremdenpaß. Unter dem 11. November 1996 wurden ihnen von
der Stadt Cuxhafen (Niedersachsen) räumlich nicht beschränkte - bis zum 20. November 1998 gültige - Aufenthaltsbefugnisse
erteilt. Nach ihren Angaben zogen die Beschwerdeführer am 26. Februar 1997 nach Berlin um und meldeten sich dort an. Zu den
Umzugsgründen ist in der Verfassungsbeschwerde lediglich angegeben, daß in Berlin nahe Verwandte wohnhaft seien. Mit Bescheid
vom 3. März 1997 lehnte das Bezirksamt Neukölln des Landes Berlin den Antrag der Beschwerdeführer zu 1) und 2) auf Gewährung
von Hilfe zum Lebensunterhalt unter Hinweis auf § 120 Abs. 5 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in der Fassung des Art. 2 des Gesetzes zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vom 30. Juni 1993
(BGBl I S. 1062) ab. Die Beschwerdeführer erhoben Widerspruch und suchten um vorläufigen Rechtsschutz nach. Das Verwaltungsgericht
Berlin lehnte die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung und Gewährung von Prozeßkostenhilfe ab. Ein Anordnungsanspruch
sei nicht glaubhaft gemacht. Dem Begehren stehe die Regelung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG entgegen, wonach Ausländern, die eine räumlich nicht beschränkte Aufenthaltsbefugnis besitzen, im Bundesgebiet außerhalb
des Bundeslandes, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist, nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe
geleistet werden darf. Die Vorschrift sei auch auf Staatenlose nach dem Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen
vom 28. September 1954 (BGBl 1976 II S. 473) anzuwenden. Das verstoße weder gegen Völkervertragsrecht noch gegen Verfassungsrecht. Das Oberverwaltungsgericht Berlin
lehnte die Anträge auf Zulassung der Beschwerde und Gewährung von Prozeßkostenhilfe unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung
ab.
2. Die Beschwerdeführer haben gegen die Gerichtsentscheidungen Verfassungsbeschwerde erhoben und einen Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung gestellt. Außerdem haben sie um die Gewährung von Prozeßkostenhilfe für die Durchführung des vorläufigen
Rechtsschutzverfahrens nachgesucht. Sie rügen eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art.
3 Abs.
1, Art.
6 Abs.
1 und Art.
20 Abs.
1 GG. Die Vorschrift des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG sei verfassungswidrig ausgelegt worden. Die wegen der räumlich nicht beschränkten Aufenthaltsbefugnisse bestehende Freizügigkeit
werde verfassungswidrig eingeschränkt. Eine angemessene Verteilung der Sozialhilfelasten auf die Bundesländer könne über die
Anwendung des § 107 BSHG erreicht werden, wonach der Sozialhilfeträger des bisherigen Aufenthaltsortes dem Sozialhilfeträger des neuen Aufenthaltsortes
gegenüber zur Kostenerstattung verpflichtet sei, wenn ein Sozialhilfeempfänger umziehe. Die Gerichtsentscheidungen widersprächen
außerdem den Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen. Eine Rückkehr nach Niedersachsen hätte
die Aufgabe in Berlin aufgebauter Beziehungen, den Abbruch des Schulbesuchs und die Aufgabe einer in Berlin gefundenen Arbeit
zur Folge.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt. So
ist entschieden, daß die Anwendung der Vorschriften über den vorläufigen Rechtsschutz verfassungsgerichtlich nur dann beanstandet
werden kann, wenn sie Fehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte
des jeweiligen Antragstellers und seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz beruhen (BVerfGE 79, 69 [74 f. ]). Das Bundesverfassungsgericht hat auch geklärt, unter welchen Voraussetzungen die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes
Art.
3 Abs.
1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot verletzen kann (BVerfGE 87, 273 [278 f. ]; st.Rspr.). Schließlich bedarf keiner weiteren Klärung, in welchen Grenzen Nichtdeutschen nach Art.
2 Abs.
1 GG das Recht gewährleistet ist, Aufenthalt und Wohnsitz in Deutschland frei zu wählen (vgl. BVerfGE 35, 382 [399 ff. ]; BVerfG DVBl 1997, 895 f.).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Rechte der Beschwerdeführer
angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen nicht
Grundrechte der Beschwerdeführer.
Das Verwaltungsgericht hat die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unter anderem davon abhängig gemacht, daß die Beschwerdeführer
das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft machen. Das entspricht der ständigen Praxis der Verwaltungsgerichte und
ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfGE 79, 69 [74]). Soweit das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Erfolgsaussichten die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs
unter Hinweis auf § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG verneint hat, ist auch diese Rechtsanwendung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das hat das Bundesverfassungsgericht
bereits für vergleichbare Fälle entschieden (Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juni 1997 - 1 BvR 236/97 und 1 BvR 365/97 -).
a) Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sind nicht willkürlich.
Zwar hat die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG praktisch zur Folge, daß die Beschwerdeführer zu 1) und 2) und mit ihnen ihre Kinder trotz der räumlich unbeschränkten Aufenthaltsbefugnisse
ihren Lebensmittelpunkt in Niedersachsen aufrechterhalten müssen, weil ihnen nur dort die Sozialhilfe erhalten bleibt. Die
Regelung stellt damit für Sozialhilfeempfänger faktisch eine Hürde für den Umzug in ein anderes Bundesland auf, beläßt den
Beschwerdeführern aber die Freiheit des Umzugs innerhalb des Bundeslandes Niedersachsen und damit die Möglichkeit, besonderen
Lebensumständen und besonderen Lebensvorstellungen durch Verlagerung des Lebensmittelpunktes innerhalb eines Flächenstaates
hinreichend Rechnung zu tragen. Das Umzugshindernis besteht auch nur während der zweijährigen Geltungsdauer der Aufenthaltsbefugnisse.
Ziehen die Beschwerdeführer vor ihrem Ablauf in ein anderes Bundesland um, so sind die dortigen Behörden für ihre Verlängerung
und in der Folge auch für die Gewährung von Sozialhilfe zuständig. Bei dieser Sachlage ist es nicht willkürlich, wenn die
Gerichte in einem solchen Fall dem Zweck des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG den Vorrang eingeräumt haben, die hohen und langdauernden Sozialhilfelasten auf die Bundesländer angemessen zu verteilen
und aus diesem Grund eine Verlagerung von Sozialhilfelasten in andere Bundesländer durch Binnenwanderung zu verhindern (BRDrucks.
11/90 S. 91; BTDrucks. 11/6321 S. 90). Außerdem soll mißbräuchlicher (mehrfacher) Inanspruchnahme von Sozialhilfe entgegengewirkt
werden. Im Hinblick auf diesen Gesetzeszweck ist es ohne Bedeutung, ob der Sozialhilfeträger des neuen Aufenthaltsortes über
die Erstattungsregelung des § 107 BSHG eine gewisse finanzielle Entlastung erhalten kann. Das Verwaltungsgericht hat sich mit der Rechtslage unter Berücksichtigung
der Entwicklungen im Aufenthaltsrecht sowie der besonderen Rechtsstellung der Beschwerdeführer als Staatenlose eingehend auseinandergesetzt.
Soweit es dabei die Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen nicht als Sonderregelungen angesehen
hat, die eine Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG ausschließen, und die mit dem Verbleib in Niedersachsen verbundenen, oben beschriebenen Nachteile auch bei den Beschwerdeführern
als Staatenlosen für zumutbar gehalten hat, ist eine Auslegung gewählt, die weder auf sachfremden Erwägungen beruht noch offensichtlich
einschlägige Normen unberücksichtigt läßt oder kraß mißdeutet (vgl. BVerfGE 87, 273 [278 f. ]).
b) Die Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG auf die Beschwerdeführer verletzt auch nicht deren Grundrechte aus Art.
2 Abs.
1 GG. Das auch Nichtdeutschen zustehende Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das die freie Wahl des Aufenthaltsortes
und des Wohnsitzes in Deutschland einschließt (BVerfGE 35, 382 [399]), ist durch die verfassungsmäßige Ordnung begrenzt, zu der auch § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG gehört. Im Hinblick auf das öffentliche Interesse an einer angemessen Verteilung der Sozialhilfekosten unter den Bundesländern
und einer Vermeidung mißbräuchlicher Inanspruchnahme von Sozialhilfe sind die mit einer Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG für die Beschwerdeführer verbundenen Nachteile verhältnismäßig, zumal das mit den Aufenthaltsbefugnissen gewährte Recht,
sich in Deutschland frei zu bewegen, durch § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG nicht eingeschränkt wird.
Im übrigen wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer Begründung abgesehen.
3. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird damit gegenstandslos. Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist in entsprechender Anwendung der §§
114 ff.
ZPO abzulehnen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.