Formerfordernisse bei Einlegung einer Verfassungsbeschwerde - Teilweise Verfassungswidrigkeit des § 45 Abs.- 5 S. 1 AVG
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Berechnung der Bezüge der Witwe eines vor seinem Tode berufsunfähigen Angestellten
im Sterbevierteljahr.
1. § 45 Abs. 5 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten (Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz
- AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 88) lautet:
(5) Für die ersten drei Monate wird der Witwe oder dem Witwer an Stelle der Rente nach den Absätzen 1 bis 4 die Rente ohne
Kinderzuschuß gewährt, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand, oder, wenn der Versicherte zu diesem Zeitpunkt
nicht rentenberechtigt war, die Rente des Versicherten ohne Kinderzuschuß, aus der die Rente nach den Absätzen 1 bis 3 zu
berechnen ist.
2. Die Beschwerdeführerin erhält Witwenrente aus der Angestelltenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes. Dieser hatte vor
seinem Tode Berufsunfähigkeitsrente bezogen, war daneben aber noch erwerbstätig gewesen. Die Bundesversicherungsanstalt für
Angestellte bewilligte der Beschwerdeführerin für das Sterbevierteljahr nach § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG nur Bezüge in Höhe der Berufsunfähigkeitsrente ihres Ehemannes. Die Beschwerdeführerin verlangte jedoch für die genannte
Zeit Bezüge in Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente ihres Ehemannes.
Die deshalb von der Beschwerdeführerin erhobene Klage wies das Sozialgericht durch rechtskräftiges Urteil ab. In den Urteilsgründen
wurde ausgeführt: Für das Sterbevierteljahr sei nach § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG auch im Falle der Berufsunfähigkeit von der dem Versicherten zuletzt gewährten Rente auszugehen, da das Gesetz die Umstellung
von den bisherigen auf die neuen Lebensverhältnisse erleichtern wolle und die bisherigen Lebensverhältnisse im wesentlichen
durch die Höhe der Rente bestimmt worden seien. Für die Anknüpfung an die bisherige Rente spreche im übrigen die Erwägung,
daß durch einfache und praktische Handhabung schnell und wirksam geholfen werden solle. Damit aber sei es unvereinbar, wenn
in Fällen der vorliegenden Art die Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente noch festgestellt werden müsse.
3. Gegen das Urteil des Sozialgerichts hat zunächst der Rechtsbeistand, der die Beschwerdeführerin im Verfahren vor dem Sozialgericht
vertreten hatte, mit schriftlicher Vollmacht der Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde erhoben. Noch innerhalb der Beschwerdefrist
ging ein Telegramm der Beschwerdeführerin beim Bundesverfassungsgericht ein. Aus diesem ergibt sich, daß die Beschwerdeführerin
Verfassungsbeschwerde gegen das sozialgerichtliche Urteil erhebt und wegen der Begründung auf den genannten Schriftsatz des
Rechtsbeistandes verweist.
Mit der Verfassungsbeschwerde wird eine Verletzung von Art.
3 Abs.
1 GG gerügt und ausgeführt, ein Anknüpfen der Bezüge im Sterbevierteljahr allein an die bisher gezahlte Rente führe zu einer Benachteiligung
der Witwe eines berufsunfähigen Rentners gegenüber Witwen, deren Ehemann eine Erwerbsunfähigkeits- oder eine Altersrente bezog
oder deren Ehemann noch im Erwerbsleben stand.
4. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat namens der Bundesregierung erklärt, diese erwäge, eine Gesetzesänderung
im Sinne der Verfassungsbeschwerde vorzuschlagen. Im übrigen bestünden gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde Bedenken.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das fristgerecht beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Telegramm erfüllt unter
den besonderen Umständen des vorliegenden Falles die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 23 Abs. 1 und des § 92 BVerfGG.
Eine Verfassungsbeschwerde kann auch durch Telegramm eingelegt werden (BVerfGE 4, 7 (12)). Entgegen der Auffassung des Bundesministers
für Arbeit und Sozialordnung ist die Verfassungsbeschwerde auch nicht deshalb unzulässig, weil das Telegramm keine Begründung
der Verfassungsbeschwerde enthält. In dem Telegramm wird auf die Begründungsschrift des Rechtsbeistandes verwiesen. Allerdings
hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, daß eine Verfassungsbeschwerde dann unzulässig ist, wenn sie nur durch
Bezugnahme auf die Verfassungsbeschwerde eines anderen Beschwerdeführers begründet wird (BVerfGE 8, 141 (143)). Die Beschwerdeführerin
verweist aber in ihrem Telegramm nicht auf ein anderes Verfahren, sondern auf ein in demselben Verfahren in ihrer Vollmacht
eingereichtes Schriftstück ihres Rechtsbeistandes. Dies ist ebenso zulässig wie die Bezugnahme auf eine beigefügte Revisionsbegründungsschrift,
in der die Grundrechtsverletzung hinreichend substantiiert ist (vgl. BVerfGE 28, 104 (111)).
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG verstößt in dem in der Entscheidungsformel genannten Umfange gegen Art.
3 Abs.
1 GG.
1. Die angegriffene Vorschrift, die 1957 in das Sozialversicherungsrecht eingefügt wurde und sich an den damals geltenden
§ 122 des Bundesbeamtengesetzes anlehnte, bezweckt, dem hinterbliebenen Ehegatten die mit der letzten Krankheit des Verstorbenen
und dem Todesfall verbundenen Aufwendungen zu einem Teil abzunehmen und ihm die Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse
finanziell zu erleichtern (vgl. BSG, SozR, Nr. 4 zu § 1268
RVO). Deshalb soll im sog. Sterbevierteljahr die volle Versichertenrente weitergezahlt werden, wenn dem Versicherten vor seinem
Tode Rente zustand; bezog der Versicherte noch keine Rente, soll der überlebende Ehegatte im genannten Zeitraum statt der
auf 60 vom Hundert der Vollrente bemessenen Hinterbliebenenrente die Vollrente erhalten. Demnach hat die Witwe eines Versicherten,
dem eine Berufsunfähigkeitsrente zustand, für drei Monate einen Anspruch auf Zahlung dieser Rente. Da die Berufsunfähigkeitsrente
wegen des geringeren Steigerungssatzes (1 vom Hundert) bei sonst gleichen Voraussetzungen niedriger ist als die Erwerbsunfähigkeitsrente,
bei welcher der Steigerungssatz 1,5 vom Hundert beträgt (vgl. § 30 Abs. 1 und 2 AVG), erhält die Witwe eines berufsunfähigen Rentners im Sterbevierteljahr weniger als die Witwe eines erwerbsunfähigen Rentners,
auch wenn die übrigen Voraussetzungen nicht voneinander abweichen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Witwe eines berufsunfähigen Rentners schlechter gestellt ist als die Witwe eines Nichtrentners
oder eines Altersruhegeldempfängers und ob insoweit eine verschiedene Behandlung sachlich gerechtfertigt ist. Jedenfalls wird
die Witwe eines Versicherten, der eine Berufsunfähigkeitsrente bezog und noch erwerbstätig war, schlechter behandelt als die
Witwe eines erwerbsunfähigen Versicherten. Allerdings liegt eine Ungleichbehandlung in der Art und Weise der Berechnung der
Bezüge nicht vor; denn bei beiden Witwen wird an die bisherige Rente des Versicherten angeknüpft. Jedoch ist eine verschiedene
Behandlung zu erkennen, wenn man auf den Sinn der gesetzlichen Regelung abstellt, die mit dem Todesfall verbundenen Aufwendungen
teilweise auszugleichen. Im Regelfall bringt der Tod eines berufsunfähigen Rentners keine geringeren Aufwendungen mit sich
als der Tod eines erwerbsunfähigen Rentners. Trotzdem erhält die Witwe des Berufsunfähigen wegen des bereits erwähnten niedrigeren
Steigerungssatzes nur zwei Drittel der Bezüge, die der Witwe eines Erwerbsunfähigen bei sonst gleichen Voraussetzungen zustehen.
Eine weitere Ungleichbehandlung ergibt sich, wenn man berücksichtigt, daß § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG die Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse erleichtern soll. An die Witwe des Erwerbsunfähigen wird dessen Erwerbsunfähigkeitsrente
weitergezahlt, die in aller Regel allein den Lebenszuschnitt des Ehepaares bestimmte; es kann davon ausgegangen werden, daß
der Erwerbsunfähige keine nennenswerten Verdienstmöglichkeiten mehr hat (vgl. § 24 Abs. 2 AVG). Der Lebenszuschnitt der Familie eines Berufsunfähigen wird dagegen vielfach nur zu einem - allerdings überwiegenden - Teil
von der Rente bestimmt sein, da ihm noch ein Teil seiner Arbeitskraft verblieben ist (vgl. § 23 Abs. 2 AVG) und er auf dem Arbeitsmarkt eine entsprechende Beschäftigung finden wird. Das Gesetz selbst geht davon aus, daß der Berufsunfähige
zu seiner Rente noch etwas hinzuverdient, da er nur zwei Drittel der Erwerbsunfähigkeitsrente erhält. Demnach erhält das Gesetz
für die Witwe des erwerbsunfähigen Versicherten den bisherigen Lebensstandard im Sterbevierteljahr voll aufrecht, während
die Witwe eines berufsunfähigen Versicherten bereits für diese Zeit einen Abstieg hinnehmen muß, weil der letzte Arbeitsverdienst
des Berufsunfähigen nicht berücksichtigt wird.
2. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, eine vor dem Tode des Berufsunfähigen liegende Erwerbstätigkeit unberücksichtigt
zu lassen und damit seine Witwe gegenüber der Witwe eines Erwerbsunfähigen schlechter zu stellen.
a) Die Ungleichbehandlung läßt sich nicht damit begründen, die Bezüge der Witwe eines Berufsunfähigen dürften im Sterbevierteljahr
deshalb geringer sein, weil der Ehemann der bevorzugten Witwe mehr Versicherungsbeiträge geleistet habe. Diese Erwägung mag
beim Vergleich der Witwe eines Berufsunfähigen mit der eines Altersruhegeldempfängers von Bedeutung sein. Im Vergleich eines
Berufsunfähigen mit einem Erwerbsunfähigen gilt jedoch das Gegenteil. Unter sonst gleichen Voraussetzungen hat ein Berufsunfähiger,
der während der Berufsunfähigkeit noch erwerbstätig war, mehr Beiträge gezahlt und geringere Leistungen erhalten als der Erwerbsunfähige.
b) Die gesetzliche Regelung ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Witwe eines bis zu seinem Tode noch erwerbstätigen
Berufsunfähigen weniger bedürftig sei als die Witwe eines Erwerbsunfähigen. Es mag auf sich beruhen, ob der erwerbsfähige
Berufsunfähige eher als der Erwerbsunfähige in der Lage ist, für den Todesfall eine Rücklage zu bilden. § 45 Abs. 5 AVG knüpft an den früheren Lebenszuschnitt an, und es würde dem Sinn dieser Vorschrift geradezu zuwiderlaufen, früher höhere
Einkünfte dazu zu verwenden, die Vergünstigungen des Gesetzes für teilweise entbehrlich zu halten.
c) Es kann auch nicht im Rahmen einer verallgemeinernden Betrachtungsweise geltend gemacht werden, der Berufsunfähige arbeite
in der Regel nicht mehr und der Gesetzgeber habe sich an dieser Regel orientieren dürfen. Denn das Gesetz geht selbst davon
aus, daß beim Berufsunfähigen ein Teil der Erwerbsfähigkeit noch vorhanden ist (vgl. § 23 Abs. 2 AVG). Es bemißt dementsprechend die Rente des Berufsunfähigen um ein Drittel niedriger als die Rente des Erwerbsunfähigen.
d) Es läßt sich auch nicht sagen, die angestrebte Verbesserung der Bezüge für das Sterbevierteljahr sei der Höhe nach so geringfügig,
daß der Gesetzgeber eine besondere Regelung nicht habe zu treffen brauchen, weil ihm bei der Gewährung von Bezügen, die über
die Regelleistungen hinausgehen, ein besonders weiter Ermessensspielraum zustehe. Der Unterschied zwischen der vollen Versichertenrente
und der um ein Drittel gekürzten Vollrente (Berufsunfähigkeitsrente) macht innerhalb des Sterbevierteljahres eine ganze Monatsrente
aus. Ein solcher Betrag kann bei der Witwe eines Berufsunfähigen nicht vernachlässigt werden.
e) Schließlich können auch praktische Überlegungen die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Zwar wird der Witwe zunächst
nur die Berufsunfähigkeitsrente ausgezahlt werden können. Das hindert aber nicht die Nachzahlung eines Restbetrages; seine
Ermittlung ist nicht mit nennenswerten Schwierigkeiten verbunden, da sich die Höhe der vollen Rente leicht aus der Berufsunfähigkeitsrente
errechnen läßt.
3. Nach alledem steht die Witwe eines erwerbstätigen Berufsunfähigen im Sterbevierteljahr nur deswegen schlechter als die
Witwe eines Erwerbsunfähigen, weil ihr Ehemann noch teilweise arbeitsfähig war und gearbeitet hat, wobei er von seinem letzten
Verdienst sogar noch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hat. Es erscheint als willkürlich, eine Benachteiligung der
Witwe an diesen Sachverhalt zu knüpfen. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG, die einen Verstoß gegen Art.
3 Abs.
1 GG vermeide, ist nicht möglich, da nach dem eindeutigen Willen des Gesetzes im Sterbevierteljahr die letzte gezahlte oder zumindest
beantragte (vgl. BSGE 29, 116) Rente (weiter-)gewährt werden soll. Demnach ist § 45 Abs. 5 Satz 1 AVG insoweit verfassungswidrig, als eine Erwerbstätigkeit des Berufsunfähigen unberücksichtigt bleibt, während die Witwe eines
Erwerbsunfähigen im Sterbevierteljahr die volle Erwerbsunfähigkeitsrente erhält.
Da dem Gesetzgeber zur Herstellung der Gleichheit mehrere Wege zu Gebote stehen, muß sich das Bundesverfassungsgericht auf
die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beschränken. Das Sozialgericht wird seine neue Entscheidung erst treffen können,
wenn der Gesetzgeber die Gleichheit in der ihm geeignet erscheinenden Weise hergestellt hat.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG. Erstattungspflichtig ist die Bundesrepublik Deutschland, da deren Gesetzgebungsorgane die verfassungswidrige Vorschrift
erlassen haben.