Sozialhilferecht: Einkommensermittlung bei Weitergabe von Pflegegeld
Gründe:
I.
Der pflegebedürftige Antragsteller erhält ein Pflegegeld gemäß §
37 SGB XI in Höhe von 800,00 DM monatlich, welches der Antragsgegner bei der Antragstellerin - der Ehefrau des Antragstellers - als
Einkommen im Sinne von § 76 BSHG anrechnet. Der gegen diese Anrechnung von den Antragstellern beim Verwaltungsgericht Kassel gestellte Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung gemäß §
123 Abs.
1 Satz 2
VwGO hatte Erfolg. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet, denn das Verwaltungsgericht hat dem Antrag der Antragsteller
auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu Recht entsprochen. Die Antragsteller haben das Vorliegen sowohl eines Anordnungsgrundes
als auch eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht.
Das dem Antragsteller gemäß §§
15 Abs.
1 Nr.
2,
37 Abs.
1 SGB XI gewährte und von diesem an die Antragstellerin als Pflegeperson i. S. v. §
19 SGB XI weitergegebene Pflegegeld in Höhe von monatlich 800,00 DM darf bei der Bedarfsberechnung nicht als Einkommen der Antragstellerin
angerechnet werden. Während sich die Nichtanrechnung von Pflegegeld auf die Sozialhilfe beim Pflegebedürftigen selbst zweifelsfrei
aus §
13 Abs.
5 Satz 1
SGB XI ergibt, kommt der Pflegeperson diese Schutzvorschrift nicht unmittelbar zugute, weil §
13 SGB XI sich nur auf den in der Pflegeversicherung Versicherten bezieht und das an die Pflegeperson weitergegebene Pflegegeld dieser
nicht aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften gewährt wird (§ 77 Abs. 1 BSHG), sondern durch rechtsgeschäftliche Übertragung unter Privatpersonen zufließt. Für die ihr zugewandte Geldleistung gilt daher
zunächst der weitgefaßte Einkommensbegriff in § 76 Abs. 1 BSHG i. V. m. § 1 der Verordnung zu § 76 BSHG.
Danach gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und verschiedener Renten. Die Berücksichtigung der im Folgenden darzustellenden Gesichtspunkte muß jedoch zur Nichtanrechnung
des Pflegegeldes als Einkommen führen.
Die vom Antragsgegner offenbar auf Anraten eines kommunalen Spitzenverbandes vorgenommene Anrechnung des an die Antragstellerin
weitergegebenen Pflegegeldes als deren Einkommen läßt die Zweckbestimmung des Pflegegeldes außer acht. Diese wird in der amtlichen
Begründung zu §
33 (jetzt §
37 SGB XI) des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Bundesregierung wie folgt beschrieben: "... die Geldleistung
stärkt die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen, der mit der Geldleistung seine Pflegehilfen
selbst gestalten kann ... Das Pflegegeld soll kein Entgelt für die von der Pflegeperson oder den Pflegepersonen erbrachten
Pflegeleistungen darstellen. Es setzt vielmehr den Pflegebedürftigen in den Stand, Angehörigen und sonstigen Pflegepersonen
eine materielle Anerkennung für die mit großem Einsatz und Opferbereitschaft im häuslichen Bereich sichergestellte Pflege
zukommen zu lassen. Das Pflegegeld bietet somit einen Anreiz zur Erhaltung der Pflegebereitschaft der Angehörigen, Freunde
oder Nachbarn ..." (BT-Drucks. 12/5262 S. 112; 12/5617). Diese gesetzgeberischen Vorstellungen haben in den §§
3 und
19 SGB XI ihren Niederschlag gefunden. Die solchermaßen vorgenommene Charakterisierung des Pflegegeldes, bei der die Weitergabe an
die Pflegeperson zur Erhaltung der Pflegebereitschaft als bestimmungsgemäße Verwendung sowie die Unentgeltlichkeit der erbrachten
Pflegeleistungen im Vordergrund stehen, deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zweckbestimmung
des Pflegegelds nach § 69 BSHG in der bis zum 31. März 1995 geltenden Fassung (vgl. zum Beispiel Urteil vom 14. März 1991, BVerwGE 88, 86, 90 f. sowie Urteil vom 4. Juni 1992, BVerwGE 90, 217 ff.). Der Senat teilt nicht die von Schellhorn (NDV 1995, 54, 58) vertretene Auffassung, mit der Weitergabe des Pflegegeldes an die Pflegeperson sei dessen Zweckbindung aufgehoben, so
daß es bei dieser als Einkommen berücksichtigt werden könne, denn bei einer solchen Sichtweise würde das Erreichen des Ziels
der Pflegegeldgewährung, die Pflegebereitschaft der Pflegeperson zu erhalten und zu fördern, wesentlich erschwert, wenn nicht
verhindert. Dem Bundesverwaltungsgericht ist daher beizupflichten, wenn dieses im Urteil vom 4. Juni 1992 (a. a. O. S. 220)
ausführt: "Diese sozialpolitische Zweckbestimmung des Pflegegeldes würde vereitelt, wenn einer nahestehenden Pflegeperson,
der der Pflegebedürftige das Pflegegeld bestimmungsgemäß zur Deckung ihrer Aufwendungen und als Anerkennung für ihre Hilfeleistungen
zugewendet hat, ... zugemutet würde, diese Mittel ... zur Deckung ihres allgemeinen Unterhaltsbedarfs einzusetzen. Das Pflegegeld
würde entgegen der eindeutigen Zielsetzung des Gesetzes wie Entgelt behandelt, das es bei bestimmungsgemäßer Verwendung und
Zuwendung an die nahestehende Person ... gerade nicht ist. Es könnte die ihm zugedachte Funktion, dem Pflegebedürftigen ein
zusätzliches Mittel zur Erhaltung der unentgeltlichen Pflegebereitschaft einer nahestehenden Person oder eines Nachbarn in
die Hand zu geben, nicht mehr erfüllen." Hieran hat sich auch nach dem Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes und der
damit einhergehenden Änderungen des Bundessozialhilfegesetzes nichts geändert, wie sich schon an der Kontrollüberlegung zeigt,
daß bei der vom Antragsgegner vertretenen Sichtweise die Anrechnung des weitergegebenen Pflegegeldes als Einkommen der Pflegeperson
davon abhinge, ob das Pflegegeld nach §
37 SGB XI oder - zum Beispiel bei nicht in der Pflegeversicherung versicherten Pflegebedürftigen - nach § 69a BSHG gewährt wird. Während in letzterem Falle nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Anrechnung vorzunehmen
ist, wäre dies bei der Pflegegeldgewährung nach dem
SGB XI der Fall. Da die Zweckbestimmung für die Gewährung des Pflegegeldes bei beiden Vorschriften identisch ist, könnte eine solche
Ungleichbehandlung vor Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz keinen Bestand haben.
Dem läßt sich nicht entgegenhalten (so aber Schellhorn a. a. O. S. 58 f.), daß die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
durch die Einführung der Freilassungsregelung in § 76 Abs. 2a BSHG weitgehend an Bedeutung verloren habe, denn von dieser Regelung werden nur Erwerbstätige erfaßt, nicht jedoch zum Beispiel
die Antragstellerin, die gemäß §
19 SGB XI die Pflege gerade nicht erwerbsmäßig betreibt und wegen der Pflegebedürftigkeit des Antragstellers auch keiner sonstigen
Erwerbstätigkeit nachgehen kann.
Im übrigen führte die Anrechnung des weitergegebenen Pflegegeldes als Einkommen der Pflegeperson zwangsläufig zu einer Kürzung
des Einkommens des Pflegebedürftigen jedenfalls dann, wenn der Pflegebedürftige und die Pflegeperson bei der Bedarfsberechnung
einer Einsatzgemeinschaft i. S. v. § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG zuzuordnen sind, wie dies bei den Antragstellern als nicht getrennt lebenden Eheleuten der Fall ist. Wird das weitergegebene
Pflegegeld als Einkommen der Antragstellerin angerechnet, ist es bei der Bedarfsermittlung als der Einsatzgemeinschaft zur
Verfügung stehendes Einkommen anzusehen, dient also auch der Bedarfsdeckung des pflegebedürftigen Antragstellers. Ein solches
Ergebnis ist jedoch mit §
13 Abs.
5 Satz 1
SGB XI nicht zu vereinbaren, wonach die Leistungen der Pflegeversicherung als Einkommen bei Sozialleistungen, deren Gewährung von
anderen Einkommen abhängig ist, unberücksichtigt bleiben. Daß trotz der etwas mißverständlichen Formulierung "anderen" die
Nichtanrechnung von Leistungen der Pflegeversicherung auf einkommensabhängige Sozialleistungen wie zum Beispiel die Sozialhilfe
vom Gesetzgeber bezweckt war, ist den Gesetzesmaterialien zweifelsfrei zu entnehmen (vgl. den gleichlautenden § 11a Abs. 4
Satz 1 des o. a. Gesetzentwurfs (BT-Drucks. a. a. O. S. 13, 94)).
Nach alledem bleibt die Beschwerde des Antragsgegners erfolglos.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
154 Abs.
2,
188 Satz 2
VwGO.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§
152 Abs.
1 VwGO).