VGH Hessen, Beschluss vom 07.02.1995 - 9 TG 3113/94, FEVS 46, 104
Sozialhilferecht: Grenzen der Ermittlungsbefugnis des Sozialhilfeträgers
»Ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte ist das Verlangen, der Einholung von Bankauskünften zuzustimmen, eine überflüssige
Ermittlungstätigkeit des Sozialhilfeträgers und somit nicht "erforderlich" im Sinne von §
60 Abs.
1 Nr.
1 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (
SGB I).«
Fundstellen: DVBl 1995, 702, DÖV 1995, 786, ESVGH 45, 319, EzFamR aktuell 1995, 180, FEVS 46, 104, FamRZ 1995, 966, HessVGRspr 1996, 17, MDR 1995, 538, NVwZ-RR 1995, 401, RDV 1995, 175, ZfSH/SGB 1995, 258
Normenkette: BSHG § 2 Abs. 1 § 11 Abs. 1
,
,
SGB X § 20
Vorinstanzen: VG Darmstadt - Beschluß vom 18.10.1994 - 6 G 1791/94 (2)
Entscheidungstext anzeigen:
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen
Anordnung aufgegeben, der Antragstellerin ab 7. Oktober 1994 Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Die Antragstellerin hat
sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§
123 Abs.
3 der
Verwaltungsgerichtsordnung -
VwGO -, §
920 Abs.
2 der Zivilprozeßordnung -
ZPO -).
Zutreffend geht das Verwaltungsgericht in seinem angefochtenen Beschluß vom 18. Oktober 1994 davon aus, daß die Antragstellerin
gegenwärtig nicht imstande ist, ihren notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften sicherzustellen, so daß die Voraussetzungen
zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 2 Abs. 1 und § 11 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vorliegen. Dies ergibt sich insbesondere aus der Stellungnahme des Jugendamtes der Antragsgegnerin vom 28. September 1994
(Bl. 685 der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin). Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird insoweit auf die zutreffenden
Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug genommen (§
122 Abs.
2 Satz 3
VwGO).
Die Antragsgegnerin hat auch im Beschwerdeverfahren keine Umstände oder Anhaltspunkte benannt, die entgegen der Aussage ihres
Jugendamtes in der Stellungnahme vom 28. September 1994 Zweifel an der sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit der Antragstellerin
begründen könnten. Derartige Umstände oder Anhaltspunkte sind auch aus den vorliegenden Verwaltungsvorgängen nicht erkennbar.
Der beschließende Senat teilt insoweit auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, daß die Weigerung der Antragstellerin,
die ihr mit Schreiben vom 30. März 1994 übersandte "Ermächtigung und Beauftragung zur Auskunftserteilung über Vermögensverhältnisse
durch Geldinstitute" zu unterzeichnen, keine ausreichende Grundlage für die Vermutung darstellt, die Antragstellerin verfüge
über bisher nicht angegebenes Einkommen oder Vermögen. Die Weigerung der Antragstellerin, diese schriftliche Zustimmung zur
Einholung von Bankauskünften zu unterschreiben, rechtfertigt daher auch nicht die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 6.
Juli 1994 vorgenommene Einstellung der Hilfe zum Lebensunterhalt.
Nach dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie nach dem Vortrag der Antragsgegnerin besteht überhaupt kein Anlaß
zu der Vermutung, die Antragstellerin sei bei der Beantragung von Sozialhilfeleistungen ihrer Verpflichtung wahrheitsgemäße
Auskünfte zu erteilen, nicht nachgekommen. Allein die Tatsache der Beantragung von Sozialhilfe als solche reicht grundsätzlich
nicht aus, um den Angaben der Antragstellerin in ihrem schriftlichen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfeleistungen keinen
Glauben zu schenken. Diese Auffassung wurde offensichtlich auch von der Antragsgegnerin selbst bis zu ihrer Aufforderung an
die Antragstellerin vom 30. März 1994, ein schriftliches Einverständnis zur Einholung einer Bankauskunft abzugeben, vertreten.
Zur Überzeugung des Senats stehen aber auch für den Zeitraum danach die zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzung für den Erhalt
von Sozialhilfeleistungen erforderlichen Entscheidungsgrundlagen aufgrund der Angaben der Antragstellerin zu ihren persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnissen weiterhin fest. Zusätzlicher behördlicher Ermittlungen durch die Antragsgegnerin bedarf
es daher vorliegend nicht. Ein pauschaler Allgemeinverdacht gegenüber den von einem Hilfesuchenden abgegebenen Erklärungen
und Angaben, wie er nach der Formulierung der Aufforderung vom 30. März 1994 von der Antragsgegnerin offensichtlich angenommen
wird, ist nicht ausreichend, um dem Hilfesuchenden eine besondere Beweisführung aufzugeben. Ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte
ist das Verlangen, der Einholung von Bankauskünften zuzustimmen, aber eine überflüssige Ermittlungstätigkeit des Sozialhilfeträgers
und somit nicht "erforderlich" im Sinne von §
60 Abs.
1 Nr.
1 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (
SGB I) (vgl.: Freitag, Bochumer Kommentar zum Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -, Rz. 30 zu § 60; Sterzel, Das Bankgeheimnis
in der Sozialhilfe, Info also 1985, S. 5, m. w. N.).
Auch die Befugnis des Sozialhilfeträgers, im Rahmen des ihm nach § 20 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) eingeräumten Ermessens, über das Ausmaß der Ermittlungen zu entscheiden, bedeutet nicht, daß die Behörde auf der Grundlage
einer nicht näher begründeten pauschalen Verdächtigung grundsätzlich davon ausgehen darf, die von dem Hilfesuchenden abgegebene
Erklärung über seine Einkommensverhältnisse und Vermögensverhältnisse könnten unwahr sein, um sich auf diese Weise in betrügerischer
Absicht Sozialhilfe zu erschleichen. Der Umfang der Ermittlungspflicht ist nämlich nicht in das Belieben der Behörde gestellt.
Dies ergibt sich eindeutig aus der amtlichen Begründung zu § 20 SGB X, wonach "der Untersuchungsgrundsatz nicht bedeutet, jede Behauptung müßte bezweifelt werden und könne erst dann zugrunde
gelegt werden, wenn sie bewiesen sei. Die Aufklärungspflicht beschränkt sich insoweit auf die Behebung eigener Zweifel. Die
Behörde braucht daher, sofern sich nicht aus der Gesamtlage des Falles Bedenken aufdrängen, einem Tatumstand nicht durch eigene
Ermittlungen nachzugehen, wenn er von niemandem bestritten wird" (BT-Drs. 8/2034 zu § 20).