Beschwerde gegen eine Ordnungsgeldfestsetzung
Reichweite einer behördlichen Ermittlungspflicht
Voraussetzungen für ein wirksames Vernehmungsersuchen
Gründe
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen ein Ordnungsgeld i. H. v. 200 Euro.
Die Stadt G ersuchte am 14. Juli 2022 das Sozialgericht nach § 22 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) um Vernehmung der Beschwerdeführerin, da diese in einer Schwerbehindertenangelegenheit einen Befundbericht ohne gutachterliche
Äußerung trotz zweifacher Erinnerung nicht vorgelegt hatte. Mit Verfügung vom 20. Juli 2022 kündigte das Sozialgericht die
Vernehmung der Beschwerdeführerin in einem noch festzusetzenden Termin an und gab ihr zugleich Gelegenheit, zwecks Vermeidung
einer Vernehmung den angeforderten Befundbericht binnen zwei Wochen zu erstatten. Mit Verfügung vom 15. August 2022, der Beschwerdeführerin
am 18. August 2022 zugestellt, wurde Erörterungstermin für den 9. September 2022 unter Anordnung des persönlichen Erscheinens
der Beschwerdeführerin bestimmt. Im Termin vom 9. September 2022 erschien bei Aufruf der Sache niemand. Daraufhin verhängte
das Sozialgericht im Termin und am 21. September 2022 durch Beschluss ein Ordnungsgeld i. H. v. 200 Euro und führte zur Begründung
aus, dass die Beschwerdeführerin wiederholt der Aufforderung, den Befundbericht vorzulegen, nicht gefolgt sei. Unerheblich
sei, dass sich die Vorlage des Befundberichts mit der Ladung zum Termin überschnitten habe. Dies habe die Beschwerdeführerin
nicht davon entbunden, das Gericht rechtzeitig zu informieren.
Hiergegen richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde. Zur Begründung führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie die
Zusendung des Gutachtens als ausreichend angesehen habe. Dies sei bei Prüfung der Auferlegung einer Ordnungsstrafe zu berücksichtigen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft und insbesondere nicht nach §
172 Abs.
3 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) ausgeschlossen.
Die Beschwerde ist auch begründet, weil der Beschluss des Sozialgerichts jedenfalls ermessensfehlerhaft ist. Bleibt ein Beteiligter,
dessen persönliches Erscheinen – wie im Fall der Beschwerdeführerin - nach §
111 Abs.
1 Satz 1
SGG angeordnet worden ist, im Termin aus, so kann gegen ihn ein Ordnungsgeld wie gegen einen im Vernehmungstermin nicht erschienenen
Zeugen festgesetzt werden (§
202 Satz 1
SGG i. V. m. §
141 Abs.
3 Satz 1
Zivilprozessordnung [ZPO]). Da das Sozialgericht die Beschwerdeführerin ausdrücklich als Beteiligte zu einem Erörterungstermin geladen hatte,
finden diese Vorschriften Anwendung. Der Senat lässt offen, ob nicht dem Zweck des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB X entsprechend eine Ladung als Zeugin hätte erfolgen müssen. Aufgrund dieser Vorgehensweise kann jedenfalls §
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §
380 Abs.
1 ZPO, wonach einem ordnungsgemäß geladenen Zeugen, der nicht erscheint, die durch sein Ausbleiben verursachten Kosten und zugleich
ein Ordnungsgeld aufzuerlegen sind, keine Anwendung finden. Die Auferlegung eines Ordnungsgeldes nach der vom Sozialgericht
gewählten Vorgehensweise setzt mithin zum einen voraus, dass der Beteiligte unter Anordnung des persönlichen Erscheinens und
Hinweis auf die Folgen seines Ausbleibens (§
111 Abs.
1 Satz 2
SGG) ordnungsgemäß geladen worden ist, zum anderen, dass er ohne rechtzeitige genügende Entschuldigung (§
381 Abs.
1 Satz 1
ZPO) zum Termin nicht erschienen ist (§
141 Abs.
3 Satz 2
ZPO). Wegen Ausbleibens im Termin kommt daher die Festsetzung eines Ordnungsgeldes grds. in Betracht. Allerdings hat das Sozialgericht
zwei entscheidende Gesichtspunkte in seine Ermessenserwägungen nicht eingestellt.
(1) Der Antrag der Stadt G vom 14. Juli 2022, die Beschwerdeführerin als Zeugin zu vernehmen, wäre abzulehnen gewesen, weil
die hierfür erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Bereits daher war die Verhängung eines Ordnungsgeldes
ermessensfehlerhaft.
Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann eine Behörde je nach dem gegebenen Rechtsweg das für den Wohnsitz oder Aufenthaltsort des Zeugen oder des Sachverständigen
zuständige Sozial- oder Verwaltungsgericht um Vernehmung ersuchen, wenn ein Zeuge oder Sachverständiger in den Fällen des
§ 21 Abs. 3 SGB X ohne Vorliegen eines der in §§
376,
383 bis
385 und
408 ZPO bezeichneten Gründe die Aussage oder die Erstattung eines Gutachtens verweigert. Nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB X hat die Behörde im Ersuchen den Gegenstand der Vernehmung darzulegen sowie Namen und Anschrift der Beteiligten anzugeben.
Eine Behörde hat im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB X) ferner vor einem Ersuchen auf Zeugenvernehmung durch das Gericht sämtliche ihr zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des
Sachverhalts - also zur Erlangung der Aussage oder Äußerung – zu unternehmen. Das Vernehmungsersuchen stellt sich mithin als
Ultima Ratio dar (vgl. Siefert in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 22, Rn. 3 ff.; Luthe in: jurisPK-SGB X, § 22, Rn. 9; Vogelsang in: Hauck/Noftz, SGB X, § 22, Rn. 9). Die ein Vernehmungsersuchen rechtfertigende Aussageverweigerung i. S. d. § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegt vor, wenn der Zeuge einer an ihn gerichteten Aufforderung zur Aussage oder Auskunft nicht Folge leistet. Eine Weigerung
ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn die Behörde den Zeugen zu einer mündlichen Vernehmung geladen hat, dieser jedoch nicht
erschienen ist. Nicht ausreichend für ein wirksames Vernehmungsersuchen ist allerdings die schlichte Nichterstattung einer
von der Behörde erbetenen schriftlichen Aussage. Auch wenn Zeugen ihrer Zeugnispflicht nicht nachkommen, lässt § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Einschaltung eines Gerichts nicht uneingeschränkt zu. Vorausgesetzt wird vielmehr – ebenso wie in der in Bezug genommenen
Vorschrift des § 21 Abs. 3 Satz 1 SGB X – die Verweigerung der Aussage. Die Pflicht zur Aussage kann jedoch nur dann verletzt sein, wenn der Zeuge zur mündlichen
Vernehmung ordnungsgemäß geladen worden ist. Die Verletzung der aus § 100 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X folgenden Pflicht zur Erstattung einer schriftlichen Auskunft genügt hierfür indes gerade nicht. Denn der Gesetzgeber wollte
§ 22 Abs. 1 SGB X ersichtlich auf wenige Fälle beschränken und im Sinne einer „ultima ratio“ sicherstellen, dass die Sozialverwaltungsbehörde
zunächst alle ihr möglichen und zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternimmt, bevor sie gerichtliche
Hilfe in Anspruch nimmt. Hierzu gehört auch und gerade, einen Arzt, der die von ihm geforderte schriftliche Auskunft nicht
erteilt, zunächst zur mündlichen Vernehmung zu laden, bevor das Gericht um Amtshilfe angegangen wird (SG Neuruppin, Beschluss
vom 28. April 2016 – S 35 SF 53/16 RH –, juris). Der Gegenauffassung (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. November 2020 – L 1 SF 3593/20 RH –, juris), wonach aus der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (§ 9 SGB X) folge, dass die Verweigerung einer Aussage sowohl die im Rahmen einer mündlichen Vernehmung durch die Behörde erfolgte Aussageverweigerung
als auch das Ignorieren einer Bitte um schriftliche Äußerung erfasse, überzeugt nicht. Denn ein wirksames Vernehmungsersuchen
setzt nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB X voraus, dass der Zeuge die Aussage verweigert hat. In der bloßen Nichterstattung einer schriftlichen Äußerung liegt indessen
schon begrifflich keine Aussageverweigerung. Systematisch ist auch die Vorschrift des § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X zu beachten. Hiernach kann die Behörde Zeugen vernehmen oder die schriftliche Äußerung von Zeugen einholen. Dies macht deutlich,
dass der Gesetzgeber streng zwischen der Vernehmung des Zeugen auf der einen Seite und seiner bloßen schriftlichen Äußerung
auf der anderen Seite differenziert. Lediglich bei der Verweigerung der Aussage im Rahmen einer Vernehmung kann die Behörde
das Sozialgericht ersuchen, seinerseits die Vernehmung durchzuführen und dabei die Aussage des Zeugen herbeizuführen. Eine
sonstige schriftliche Äußerung des Zeugen hingegen besitzt eine andere rechtliche Qualität, ihr Unterbleiben stellt nicht
das Verweigern einer Aussage dar (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Juli 2016 – L 13 SF 141/16 B –, juris).
Die Stadt G hätte nach alledem die Beschwerdeführerin als sachverständige Zeugin zunächst zur Vernehmung laden müssen. Dies
hat sie versäumt, sondern sich darauf beschränkt, bei der Beschwerdeführerin einen Befundbericht anzufordern, zweimal schriftlich
erinnert und das streitige Vernehmungsersuchen an das Sozialgericht Altenburg gestellt. Gleichzeitig wurde im Hinblick auf
die etwaige Verletzung von Berufspflichten die Ärztekammer eingeschaltet.
(2) Darüber hinaus war die Ordnungsgeldfestsetzung auch deshalb ermessenfehlerhaft, weil es nicht Zweck der Festsetzung von
Ordnungsgeld gegen einen ordnungsgemäß geladenen, nicht erschienenen Beteiligten ist, eine vermeintliche Missachtung des Gerichts
zu ahnden, sondern die Aufklärung des Sachverhalts zu fördern (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28. Juli
2015 – L 3 BK 2/13 B –, juris). Die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen einen trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienenen Beteiligten
kann daher nur festgesetzt werden, wenn das unentschuldigte Ausbleiben der Partei die Sachaufklärung erschwert und dadurch
den Prozess verzögert. Insoweit sind die Ausführungen des Sozialgerichts ermessensfehlerhaft, dass die Beschwerdeführerin
den Befundbericht trotz Erinnerung durch die Stadt Gera nicht vorgelegt und auch das Sozialgericht vor dem Termin über dessen
zwischenzeitliche Vorlage nicht informiert hat. Durch die zwischenzeitliche Vorlage des Befundberichtes konnte jedenfalls
eine Verzögerung nicht mehr eintreten.
Der Senat kann daher offenlassen, ob die vom Sozialgericht gewählte Vorgehensweise einer Ladung als Beteiligte zu einem Erörterungstermin
statt der gebotenen Ladung als Zeugin ebenfalls der Verhängung eines Ordnungsgeldes entgegensteht.
Die Kostenentscheidung erfolgt entsprechend §
193 SGG. Weil es im vorliegenden Fall offensichtlich unbillig wäre, der Stadt Gera die Kosten der Beschwerdeführerin für das Beschwerdeverfahren
aufzuerlegen, und da ausschließlich die Ordnungsgeldfestsetzung Anlass für das Beschwerdeverfahren war, sind diese auf die
Staatskasse zu übernehmen.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.