Kinder- und Jugendhilfe- sowie Jugendförderungsrecht einschließlich Erstattungsstreitigkeiten nach Art. 7 und 8 des Aufnahmegesetzes:
Jugendhilfe; Kostenbeitrag; keine aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
Gründe:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheides des Antragsgegners vom 6. Februar 2007,
mit dem sie verpflichtet wurde, rückwirkend ab 1. April 2006 einen Kostenbeitrag gemäß § 92 Abs. 2 SGB VIII in Höhe von monatlich 77 Euro zu leisten; der Antragsgegner hat diesen Bescheid für "sofort vollziehbar erklärt" (Ziffer
4). Gegen den vorgenannten Bescheid erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 5. März 2007 Widerspruch, über den noch nicht
entschieden ist.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 17. September 2007, eingegangen beim Verwaltungsgericht Würzburg am 19. September
2007, ließ sie beantragen, im Wege des Antrags nach §
80 Abs.
5 VwGO festzustellen, dass ihr Widerspruch vom 5. März 2007 "hinsichtlich eines behaupteten Kostenbeitragsrückstandes von monatlich
77 Euro, ab dem 01.04.2006, aufschiebende Wirkung hat". Mit Beschluss des Einzelrichters vom 11. Oktober 2007 stellte das
Verwaltungsgericht Würzburg fest, dass dem Widerspruch der Antragstellerin vom 5. März 2007 gegen den Leistungsbescheid des
Antragsgegners vom 6. Februar 2007 aufschiebende Wirkung zukommt. Ziffer 4 des vorgenannten Bescheides wurde aufgehoben. Die
Kostenbeiträge nach §§ 91 ff. SGB VIII seien keine öffentlichen Abgaben und Kosten im Sinne von §
80 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 VwGO. Diese Vorschrift sei als Ausnahmeregelung eng auszulegen. Die Deckung des Finanzierungsbedarfs für die Erfüllung seiner
öffentlichen Aufgaben müsse zumindest ein Ziel des Antragsgegners sein, weil nur insofern der Wegfall der aufschiebenden Wirkung
gerechtfertigt sei. Kostenbeiträge nach §§ 91 ff. SGB VIII seien jedoch nach ihrem Zweck Zahlungen, die den Nachrang der Jugendhilfe wiederherstellen sollten. Sie seien an typischen
sozialrechtlichen Billigkeitsregelungen orientiert, die im Bereich des allgemeinen Abgabenrechts fremd seien. Dies gelte auch
seit der Neufassung der Kostenbeitragsregelungen in §§ 91 ff. SGB VIII. Diese habe keine substantielle Änderung der Rechtslage gebracht (Hinweis auf HessVGH, Beschluss vom 5.9.2006). Der Einzelrichter
schließe sich deshalb den zutreffenden und überzeugenden Ausführungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes an und folge
nicht der gegenteiligen Ansicht (vgl. NdsOVG vom 10.11.2006).
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners. Er trägt vor, § 92 SGB VIII sei neu gefasst worden. Nunmehr ergebe sich der Nachrang der Kinder- und Jugendhilfe abschließend aus § 10 SGB VIII und nicht aus den Vorschriften zur Kostenbeteiligung nach §§ 91 ff. SGB VIII. Die bisherige Aufteilung in drei verschiedene Formen der Heranziehung aus dem Einkommen sei zugunsten einer öffentlich-rechtlichen
Heranziehung durch Kostenbeitrag in allen Fällen aufgegeben worden. Der Kostenbeitrag habe in den Fällen, in denen er erhoben
werde, zumindest primär Finanzierungsfunktion. Eine besondere Lenkungs-, Zwangs- oder gar Straffunktion eines Kostenbeitrages
sei im konkreten Fall nicht ersichtlich und widerspräche auch der Intention einer Kostenbeteiligung. Dass in bestimmten Fällen
unter Berücksichtigung der Zwecke der Jugendhilfe von der Erhebung eines Kostenbeitrages abzusehen sei (z.B. Schwangerschaft)
oder wenn sonst Ziel und Zweck der Jugendhilfeleistung gefährdet würden oder sich aus der Heranziehung eine besondere Härte
ergäbe, ändere nichts daran, dass der Kostenbeitrag der Finanzierung der öffentlichen Jugendhilfe diene.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. Oktober 2007 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Überschrift in § 90 SGB VIII laute ausdrücklich "Pauschalierte Kostenbeteiligung". Zweck der Neuregelung sei gewesen, eine griffige pauschale Berechnung
zu ermöglichen, allerdings mit intensiver sozialer Abstufung. Eine grundsätzliche rechtliche Veränderung der bisherigen Rechtssituation
sei nicht erfolgt. Vorliegend werde die Mutter in Anspruch genommen. Der Gedanke der primären Finanzierung der Maßnahme könne
aber allenfalls gegenüber den durch die Leistung Begünstigten greifen, nicht aber gegenüber Dritten. Die Darlegungen des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofes seien "zwingend". Auch aus § 92 Abs. 4 SGB VIII ergebe sich, dass keine primäre "Finanzerstattung" vorliege. Dies ergebe sich auch aus den verschiedenen Nachrangregelungen
in "§
94 Abs.
1 SGB VII" sowie aus "§
94 Abs.
2 SGB VII" und aus "§
94 Abs.
3 und §
94 Abs. 4".
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Die Antragstellerin und das Verwaltungsgericht gehen zu Unrecht
davon aus, dass der Widerspruch der Antragstellerin nach §
80 Abs.
1 Satz 1
VwGO aufschiebende Wirkung hat. Der Kostenbeitrag nach den §§ 91 ff. SGB VIII, der nach § 92 Abs. 2 SGB VIII durch Leistungsbescheid festgesetzt wird, ist als öffentliche Abgabe im Sinne des §
80 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 VwGO zu qualifizieren, bei dessen Anforderung die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage entfällt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vom 17.12.1992, BayVBl 1993, 311 = NVwZ 1993, 1112) soll nicht jeder Verwaltungsakt, der eine Geldleistung zum Gegenstand hat, sofort vollziehbar sein, sondern nur die hoheitlich
geltend gemachten öffentlich-rechtlichen Geldforderungen, die von allen erhoben werden, die einen normativ bestimmten Tatbestand
erfüllen und die zur Deckung des Finanzbedarfs des Hoheitsträgers für die Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben dienen (ebenso
BayVGH vom 16.3.2004, BayVBl 2005, 149). Nicht maßgeblich ist, ob die Begriffsmerkmale der Steuer, der Gebühr oder des Beitrages erfüllt sind. Muss ein Hoheitsträger
in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben finanzielle Mittel aufwenden, so kann er auch auf sonstige Abgaben angewiesen sein. Entscheidend
ist, ob diese Abgabe wie bei Steuern, Gebühren oder Beiträgen eine Finanzierungsfunktion erfüllt. Diese ist gegeben, wenn
sich der Hoheitsträger damit eine Einnahmequelle erschließt, die es ihm ermöglicht, seine Aufgaben voll oder jedenfalls teilweise
zu decken. Das Bundesverwaltungsgericht (vom 17.12.1992, a.a.O.) geht somit von einem weiten Begriff der öffentlichen Abgabe
aus. Das Verwaltungsgericht hat unter Hinweis auf Literatur (Kopp/Schenke,
VwGO, 15. Aufl. 2007, §
80 RdNr. 56) und Rechtsprechung (HessVGH vom 5.9.2006, NJW 2007, 241) den Begriff demgegenüber eng ausgelegt, da die §§ 91 ff. SGB VIII den Nachrang der Jugendhilfe wiederherstellen sollten und an typisch sozialrechtlichen Billigkeitsregelungen orientiert seien.
Ein Ziel der Heranziehung müsse die Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs darstellen (unter Hinweis auf HessVGH vom 5.9.2006,
a.a.O.).
Der Verwaltungsgerichtshof geht (ebenso NdsOVG vom 10.11.2006, JAmt 2007, 163) davon aus, dass die Kostenbeiträge nach §§
91 ff. SGB VIII eine Finanzierungsfunktion haben (ebenso Münder u.a., FK-SGB VIII, 5. Aufl. 2006, § 92 RdNr. 18), die nicht völlige Nebenfolge bei der Verfolgung anderer Zwecke ist (dazu BayVGH vom 3.6.1991, BayVBl 92, 54; Puttler in Sodan/Ziekow,
VwGO, 2. Aufl. 2006, §
80 RdNr. 58: zumindest gleichen Stellenwert; Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, Stand 2/2007, §
80 RdNr. 114). Weitere Voraussetzung ist, dass die öffentliche Hand nicht nur zur Aufgabenerfüllung auf die Geldleistung angewiesen
ist, sondern sich der Hoheitsträger auf deren Eingang - da rechtsnormativ und berechenbar festgelegt - verlassen darf (so
Schoch, a.a.O., § 80 RdNr. 13 a.E. unter Hinweis u.a. auf BayVGH vom 15.11.1993, BayVBl 1994, 371 = NVwZ-RR 1994, 471). Diese Voraussetzung erfüllt der Kostenbeitrag nach den §§ 91 ff. SGB VIII. Er hat ersichtlich Finanzierungsfunktion. Dafür spricht bereits die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/3676, S. 48), denn die
Vereinfachung der Berechnung der Kostenbeiträge soll zum einen den Verwaltungsaufwand deutlich senken und andererseits zur
Steigerung der Einnahmen aufgrund höherer Elternbeiträge führen (jährlich in Höhe von 100 Mio. Euro). Die Änderungen sollen
nachhaltig kostenmindernd wirken und das Leistungssystem stabilisieren (BT-Drs. 15/3076, S. 45). Die Heranziehung sollte systematisch
neu geregelt und im Hinblick auf die Kostenberechnung wesentlich vereinfacht werden, wozu auch die Heranziehung ausschließlich
durch Kostenbeitrag dienen soll. Dabei geht die Gesetzesbegründung ausdrücklich auch vom Ausschluss der aufschiebenden Wirkung
nach §
80 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 VwGO aus (BT-Drs. 15/3676, S. 41). Diesen gesetzgeberischen Willen lässt das Verwaltungsgericht (unter Hinweis auf HessVGH vom
5.9.2006, a.a.O.) außer Acht, wenn es ausführt, durch die Neufassung der §§ 91 ff. SGB VIII (durch Gesetz vom 8.9.2005, BGBl I S. 2729/2736) sei insoweit keine Änderung eingetreten. Zwar wurde auch schon nach der
früheren Rechtslage (vor dem Gesetz vom 8.9.2005) der Kostenbeitrag durch Leistungsbescheid geltend gemacht (§ 93 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F.), mit der Neufassung wurde jedoch die Heranziehung - wie dargelegt - systematisch neu geregelt, wozu vor allem auch
die auf der Rechtsgrundlage des § 94 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII neu erlassene Kostenbeitragsverordnung (vom 1.10.2005, BGBl I S. 2907) dient. Danach werden für die Festsetzung der Kostenbeiträge nach Einkommensgruppen gestaffelte Pauschalbeträge festgelegt.
Dass daneben auch weiterhin individuelle Umstände berücksichtigt werden (§ 92 Abs. 4, § 92 Abs. 5, § 93 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII), steht dem nicht entgegen. Solche individuellen Umstände sind auch sonst im Abgabenrecht (z.B. Erschließungs- oder Straßenausbaubeitragsrecht)
zu berücksichtigen, dem Abgabenrecht somit nicht fremd (so auch NdsOVG vom 10.11.2006, a.a.O.), leicht erkennbare Merkmale
(so aber Kunkel in LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, RdNr. 58) somit eher die Ausnahme. Damit war die Finanzierungsfunktion ein wesentlicher Hauptzweck der Neuregelung
der §§ 91 ff. SGB VIII. Der Rückgriff auf die Rechtsprechung zur früheren Rechtslage (vgl. OVG Greifswald vom 3.3.1999, NVwZ-RR 2000, 63; OVG Hamburg vom 25.7.1990, FamRZ 1991, 358) hilft daher nicht weiter.
Maßgeblich ist neben der Finanzierungsfunktion die normative Festlegung des Kostenbeitrages durch die §§ 91 ff. SGB VIII i.V. mit den Regelungen der Kostenbeitragsverordnung und damit seine Berechenbarkeit (vgl. Münder u.a., a.a.O., § 92 RdNrn.
1, 18). Der Hoheitsträger - hier der Antragsgegner - darf sich auf den Eingang dieser Kostenbeiträge auch verlassen. Denn
Ziel der Neuregelung war auch, den Nachrang der öffentlichen Jugendhilfe im Hinblick auf die Heranziehung der leistungsbegünstigten
Personen zu den Kosten der Hilfen zu verschärfen und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit anzupassen (BT-Drs. 15/3676, S.
2). Es sollte ersichtlich eine stärkere Bindung der Kosten der Leistungen mit den Kostenbeiträgen erreicht werden (so Münder
u.a., a.a.O., § 92 RdNr. 18). Soweit dem entgegengehalten wird, die Gesetzesbegründung sei nicht in Gesetzeskraft erwachsen
und damit nicht rechtsverbindlich, da der Gesetzgeber in Kenntnis der streitigen Rechtsauffassungen keine Klarstellung vorgenommen
habe (so HessVGH vom 5.9.2006, a.a.O.), trägt dies nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs die gegenteilige Auffassung
nicht. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Kostenbeiträge eine Finanzierungsfunktion erfüllen, die der von Steuern, Gebühren
und Beiträgen vergleichbar ist, kann der in der Gesetzesbegründung eindeutig niedergelegte Zweck der Neuregelung nicht außer
Acht gelassen werden (ebenso wohl Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 92 RdNr. 11). Die Kostenbeiträge haben keine sonstige besondere Funktion im Sinne von Lenkungs-, Zwangs- oder Straffunktion
(ebenso NdsOVG vom 10.11.2006, a.a.O.). Sie dienen der Finanzierung der öffentlichen Jugendhilfe und sind deshalb Abgabe im
Sinne von §
80 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 VwGO. Der von der Antragstellerin erhobene Widerspruch hat somit keine aufschiebende Wirkung, ihr Antrag ist daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
154 Abs.
2, §
188 Satz 2
VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
152 Abs.
1 VwGO).