Berücksichtigung einer nicht mehr ausgeübten Nebenbeschäftigung bei der Unterhaltsbemessung
Gründe:
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Höhe von Unterhaltszahlungen, zu denen er verurteilt
worden ist. Er macht insbesondere eine unzumutbare Belastung durch die Annahme einer Nebenerwerbsobliegenheit neben einer
vollschichtigen Berufstätigkeit geltend.
I. 1. Der 1958 geborene Beschwerdeführer und die Klägerin des Ausgangsverfahrens sind miteinander verheiratet. Seit September
2000 leben sie getrennt. Aus der Ehe sind zwei 1988 und 1990 geborene Kinder hervorgegangen, die bei der Mutter leben. Der
Beschwerdeführer ist hauptberuflich als Elektriker im Untertagebergbau beschäftigt und übte bis Ende 2000 sechs Jahre lang
eine Nebenbeschäftigung bei einer Reinigungsfirma aus, mit der er im Durchschnitt monatlich 378,49 DM netto verdiente. Die
Nebenbeschäftigung des Beschwerdeführers wurde zum 31. Dezember 2000 wegen rückgängiger Auftragslage beendet.
Während das Amtsgericht den Beschwerdeführer für die Zeit ab 2001 zu Trennungs- und Kindesunterhaltszahlungen ohne Zurechnung
fiktiver Einkünfte aus einer Nebentätigkeit verurteilte, verpflichtete ihn das Oberlandesgericht zu Trennungs- und Kindesunterhaltszahlungen
ab 2001 unter Berücksichtigung möglicher Einkünfte aus einem Nebenerwerb. Zwar sei die bisherige vom Beschwerdeführer ausgeübte
Nebentätigkeit vom Arbeitgeber zum Jahresende 2000 aus betrieblichen Gründen gekündigt worden. Dem Beschwerdeführer sei jedoch
abzüglich seiner Fahrtkosten ein Einkommen in der bisher durch die Nebentätigkeit erzielten Höhe zuzurechnen. Er unterliege
angesichts der knappen finanziellen Verhältnisse der erhöhten Unterhaltspflicht nach §
1603 Abs.
2 BGB und habe daher neben dem Haupterwerbseinkommen notfalls auch Einkünfte aus einer Nebenbeschäftigung für den Unterhalt einzusetzen.
Dem Beschwerdeführer sei zuzumuten, in dem bisherigen Umfang auch nach der Kündigung weiterhin einer Nebenbeschäftigung nachzugehen.
Gesundheitliche Einschränkungen von Gewicht, welche einer solchen Tätigkeit entgegen stehen könnten, seien nicht ersichtlich.
Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine Degeneration der Wirbelsäule sowie Arthropathien beider Knie berufe, könne dahin
gestellt bleiben, ob diese bestrittenen Beschwerden tatsächlich vorlägen. Angesichts des Umstandes, dass sie auch der Hauptbeschäftigung
nicht entgegen stünden, komme ihnen für die Nebenbeschäftigung ebenfalls keine Bedeutung zu. Mangels anders lautenden Vortrags
sei ferner davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei rechtzeitigem Bemühen gleich im zeitlichen Anschluss eine neue
Beschäftigung hätte finden können.
2. Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1,
Art.
3 Abs.
1, Art.
6 und Art.
20 Abs.
3 GG. Die von ihm geforderte Nebentätigkeit sei ihm im Hinblick auf seine geänderte Lebenssituation nach der Trennung, die Belastungen
durch seine Haupterwerbstätigkeit und die Arbeitsmarktlage nicht zuzumuten.
3. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der Bundesgerichtshof, eine Reihe von Verbänden und die Gegnerin des Ausgangsverfahrens
haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen das Urteil des Oberlandesgerichts wendet, in dem aus
dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93 b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art.
2 Abs.
1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG sind gegeben. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits
entschieden.
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art.
2 Abs.
1 GG, soweit er hierdurch ab 1. Januar 2001 zu Unterhaltszahlungen unter Berücksichtigung fiktiver Einkünfte aus einer Nebentätigkeit
verpflichtet worden ist.
a) Die Auferlegung von Unterhaltsleistungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art.
2 Abs.
1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein, die jedoch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist, zu der auch
das Unterhaltsrecht gehört, soweit dieses mit Art.
6 Abs.
1 GG in Einklang steht (vgl. BVerfGE 57, 361 [378]). Dabei darf die Auslegung und Anwendung verfassungsgemäßer unterhaltsrechtlicher Normen nicht zu verfassungswidrigen
Ergebnissen führen (vgl. BVerfGE 80, 286 [294]). Der ausgeurteilte Unterhalt darf den Unterhaltspflichtigen nicht unverhältnismäßig belasten (vgl. BVerfGE 57, 361 [388]; 80, 286 [293] unter Hinweis auf BVerfGE 35, 202 [221]). Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit
des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen
Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art.
2 Abs.
1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 [381]).
Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist §
1603 Abs.
1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne
Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß
§
1603 Abs.
2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt
gleichmäßig zu verwenden. Für den Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten bestimmt §
1581 BGB, dass der Verpflichtete, wenn er außerstande ist, ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts dem Berechtigten Unterhalt
zu gewähren, nur insoweit Unterhalt zu leisten braucht, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse sowie die Erwerbs- und Vermögensverhältnisse
der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspricht (vgl. BVerfG, FamRZ 2001, S. 1686 f.). Für den Unterhaltsanspruch des getrennt lebenden Ehegatten fehlt eine §
1581 BGB entsprechende Vorschrift. Es gelten aber die gleichen Grundsätze wie beim nachehelichen Unterhalt mit der Maßgabe, dass die
vor der Scheidung noch bestehende größere Verantwortung der Ehegatten füreinander zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, FamRZ
1986, S. 556 [557]).
Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs ist die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten (vgl. Staudinger/Engler/Kaiser,
BGB, Neubearbeitung 2000, §
1603 Rn. 2; Johannsen/Henrich, Eherecht, 3. Aufl., 1998, § 1581 Rn. 1; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe
des Unterhalts, 7. Aufl., 2000, Rn. 573). Das Unterhaltsrecht ermöglicht es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Rechnung zu tragen. Die Gerichte haben im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten
Unterhalt zu zahlen oder ob dieser die finanzielle Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen übersteigt. Soweit die Gerichte
dabei den Umfang der Erwerbsobliegenheit eines Unterhaltspflichtigen zu beurteilen haben, hat auch dies unter Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Eine über die tatsächliche Erwerbstätigkeit hinausgehende Obliegenheit des
Unterhaltspflichtigen zur Erzielung von Einkommen, das diesem insoweit bei der Unterhaltsberechnung fiktiv zugerechnet wird,
kann nur angenommen werden, wenn und soweit die Aufnahme einer weiteren oder anderen Erwerbstätigkeit dem Unterhaltspflichtigen
unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist und ihn nicht unverhältnismäßig belastet (vgl. BVerfGE 68,
256 [267]).
b) Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, bei einem unterhaltspflichtigen Arbeitnehmer, der über die tarifliche
Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit leistet oder einer Nebentätigkeit nachgeht und deshalb über reale Mehreinnahmen verfügt, der
Unterhaltsbemessung auch diese Einkünfte in der - widerlegbaren - Vermutung zugrunde zu legen, die tatsächlich ausgeübte zusätzliche
Arbeit sei dem Unterhaltspflichtigen auch zumutbar (vgl. BGH, FamRZ 1982, S. 152 [153]; 1991, S. 182 [184]). Wenn einem Unterhaltsberechtigten aber fiktive Nebenverdienste angerechnet werden sollen, ist
am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob die zeitliche und physische Belastung durch die ausgeübte und die zusätzliche
Arbeit dem Unterhaltspflichtigen unter Berücksichtigung auch der Bestimmungen, die die Rechtsordnung zum Schutz der Arbeitskraft
vorgibt, abverlangt werden kann.
So ist im Arbeitszeitgesetz das Maß der zeitlichen Belastung der Arbeitskraft angegeben, über das hinaus ein Arbeitnehmer auch zur Sicherung seiner Gesundheit
nicht zur Arbeit herangezogen werden soll (siehe §§ 3 und 6 ArbZG). Zusätzlich ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem betreffenden Unterhaltsverpflichteten unter Abwägung seiner von
ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten
zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben. Schließlich ist zu prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art
für den Betreffenden überhaupt auf dem Arbeitsmarkt gibt und der Aufnahme einer solchen Tätigkeit wiederum keine rechtlichen
Hindernisse entgegenstünden, wobei auch insoweit die Darlegungs- und Beweislast beim Unterhaltsverpflichteten liegt (vgl.
BGH, FamRZ 1998, S. 357 [359]; BVerfGE 68, 256 [270]).
c) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes hat das Oberlandesgericht bei der angegriffenen Entscheidung das Grundrecht des Beschwerdeführers
aus Art.
2 Abs.
1 GG auf Schutz vor einer unverhältnismäßigen Belastung durch Unterhaltsleistungen verkannt. Es hat die Zumutbarkeit einer Nebenbeschäftigung
zwar geprüft, ohne jedoch dabei die Belastungsgrenze, die Art.
2 Abs.
1 GG der Unterhaltsverpflichtung setzt, im zu entscheidenden Fall zu berücksichtigen.
Zwar hatte der Beschwerdeführer durch die Ausübung der Nebentätigkeit vor der Trennung ein Indiz für deren Zumutbarkeit gesetzt.
Der Verlust dieser Tätigkeit hätte das Oberlandesgericht jedoch veranlassen müssen, die beim Beschwerdeführer vorliegenden
und von ihm angeführten besonderen Arbeits- und Lebensumstände in seine Prüfung der Frage einzubeziehen, ob dem Beschwerdeführer
eine weitere Erwerbstätigkeit neben seiner schon vollschichtigen Arbeit ab Januar 2001 zumutbar gewesen ist. Dies hat das
Gericht verabsäumt. Es hat allein aus der erhöhten Unterhaltspflicht des Beschwerdeführers nach §
1603 Abs.
2 BGB auf die Zumutbarkeit einer Nebenbeschäftigung geschlossen und in den vom Beschwerdeführer vorgetragenen gesundheitlichen
Einschränkungen keinen Grund gesehen, der dem entgegenstünde. Dabei hat es wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen,
die im konkreten Fall bei der Zumutbarkeitsprüfung hätten Berücksichtigung finden müssen.
So ist der Beschwerdeführer nicht nur einer vollschichtigen Tätigkeit nachgegangen. Seinen Hauptberuf hat er im Untertagebau
im Schichtdienst ausgeübt. Schon dadurch ist der Beschwerdeführer einer besonderen Belastung ausgesetzt gewesen, die für die
Frage der Zumutbarkeit einer darüber hinausgehenden Beschäftigung von Relevanz ist. Hinzu ist der beträchtliche Anfahrtsweg
des Beschwerdeführers zu seinem Arbeitsplatz gekommen, den das Oberlandesgericht zwar durch Ansatz entsprechender Fahrtkosten,
nicht aber als zusätzlichen zeitlichen Belastungsfaktor für die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt hat.
Auch bei den vom Beschwerdeführer vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wäre zu prüfen gewesen, ob sie zwar der
Ausübung seiner vollschichtigen Haupterwerbstätigkeit nicht entgegengestanden haben, aber wegen der besonderen Belastungen,
die mit dieser verbunden sind, nicht dazu hätten führen können, dass die Erwartung einer zusätzlichen Nebentätigkeit als unverhältnismäßig
anzusehen ist. Schließlich hat das Gericht unberücksichtigt gelassen, dass der Beschwerdeführer nach der Trennung von seiner
Ehefrau nunmehr seinen Haushalt hat alleine versorgen müssen, und ihm hat Zeit verbleiben müssen, mit seinen nun von ihm getrennt
lebenden Kindern weiterhin Umgang pflegen zu können (vgl. OLG Köln, FamRZ 1984, S. 1108 [1109]; OLG Düsseldorf, FamRZ 1984, S. 1092).
All diese Umstände hat das Oberlandesgericht bei seiner Prüfung übergangen und dadurch dem Grundrecht des Beschwerdeführers
aus Art.
2 Abs.
1 GG nicht hinreichend Rechnung getragen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei einer umfassenden Abwägung der Umstände des Falles unter
Beachtung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art.
2 Abs.
1 GG zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre und das fiktive Einkommen in Höhe von 325,- DM ab Januar
2001 nicht berücksichtigt hätte.
2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandwerts auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.