Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger Schädigungsfolgen i.S.d.
Opferentschädigungsgesetzes (
OEG) festzustellen sind und ihm deswegen Leistungen nach dem
OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren sind.
Bei dem 2004 geborenen Kläger, der in einer Pflegefamilie lebt, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10. August 2009 einen
Grad der Behinderung (GdB) i.S.d. Schwerbehindertenrechts von 80 seit Geburt sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen
"G", "B" und "H" wegen eines fetalen Alkoholsyndroms festgestellt.
Im Februar 2010 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem
OEG wegen eines fetalen Alkoholsyndroms. Als Tatvorgang schuldigte er hierbei einen Alkohol- und Nikotinkonsum der Kindesmutter
während der Schwangerschaft an. Mit Bescheid vom 28. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November
2011 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Beweis für das Vorliegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs
i.S.v. §
1 OEG sei nicht erbracht. Selbst wenn man Alkohol- und Nikotinkonsum der Mutter während der Schwangerschaft unterstelle, sei die
Zielrichtung der Handlung unklar. Insbesondere sei nicht erwiesen, ob die Mutter das Kind habe vorsätzlich schädigen wollen.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Osnabrück erhoben. Damit hat er die Gewährung von Heilbehandlung und von Beschädigtengrundrente
nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 begehrt.
Zur Begründung hat er vorgetragen, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol und Nikotin in dem Wissen konsumiert
habe, dass dadurch Schädigungen an dem noch ungeborenen Kind eintreten würden. Es sei davon auszugehen, dass die Mutter durch
die Erstberatung in der gynäkologischen Praxis ausreichend über die Folgen von Alkohol- und Nikotinkonsum aufgeklärt gewesen
sei. Sie habe deshalb mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt, wenn sie gleichwohl Alkohol und Nikotin konsumiert habe.
Ihr Handeln stelle auch einen tätlichen Angriff dar. Damit sei der Tatbestand einer Körperverletzung i.S.v. §
223 StGB und der gefährlichen Körperverletzung von §
224 StGB verwirklicht. Auch das noch ungeborene Kind sei vom Gesetz geschützt.
Das Sozialgericht hat medizinische Unterlagen über den Kläger beigezogen und sich die Akte des Allgemeinen Sozialdienstes
des Landkreises J. vorlegen lassen. Sodann hat es die Klage mit Urteil vom 17. Juni 2015 als unbegründet abgewiesen. Die Voraussetzungen
der geltend gemachten Ansprüche gemäß §
1 OEG seien nicht nachgewiesen. Bereits der Alkoholkonsum der Mutter des Klägers sei nicht nachgewiesen. Jedenfalls handele es
sich dabei nicht um einen tätlichen Angriff. Auch fehle es an einem nur bedingten Vorsatz, weil es sich nicht um eine gegen
eine andere Person gerichtete feindliche Handlung gehandelt habe. Der Kläger sei zu dem Zeitpunkt der angeschuldigten Handlungen
seiner Mutter noch keine Person im Sinn des Gesetzes gewesen.
Gegen das ihm am 28. Juli 2015 zugestellte Urteil wendet sich die am 6. August 2015 bei dem Sozialgericht eingegangene Berufung
des Klägers, mit der er sein Anliegen weiter verfolgt. Er wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen und ergänzt
weiterführend, dass für die Annahme eines rechtswidrigen Angriffes die Rechtsfeindlichkeit des Handelns genüge. Die Rechtsfeindlichkeit
werde durch einen Angriff gegen die körperliche Integrität eines Anderen belegt. Seine Mutter habe während der Schwangerschaft
massiv Alkohol konsumiert.
Dabei habe sie Schädigungen des ungeborenen Kindes jedenfalls in Kauf genommen, so dass insoweit bedingter Vorsatz anzunehmen
sei. Bereits vor der Geburt des Klägers habe die Mutter gewusst, dass Alkohol- und Nikotinkonsum schädigen würde. Sie habe
vor dem Kläger bereits drei weitere Kinder geboren. Die schädigende Wirkung von Alkohol und Nikotin in der Schwangerschaft
sei im Übrigen allgemein bekannt. Es mache darüber hinaus auch keinen Unterschied, ob ein ungeborenes Kind durch einen Dritten
oder durch die Mutter geschädigt werde. Zu berücksichtigen sei im Übrigen auch der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung.
Die Mutter hafte für während der Schwangerschaft eingetretene Schädigungen der Leibesfrucht nach §
823 BGB.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß, 1. das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 17.
Juni 2015 und den Bescheid des Beklagten vom 28. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2011
aufzuheben, 2. den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ein fetales Alkoholsyndrom als Schädigungsfolge im Sinne von §
1 OEG festzustellen und ihm deswegen Heilbehandlung und Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 80 nach den Vorschriften des
OEG i.V.m. dem BVG zu gewähren, hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom
17. Juni 2017 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte
und der Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Gemäß §
124 Abs.
2 SGG entscheidet der Senat im erklärten Einverständnis aller Beteiligten über die Streitsache durch Urteil ohne mündliche Verhandlung.
Der Sachverhalt ist - soweit für die Entscheidungsfindung erforderlich - geklärt und die Beteiligten haben Gelegenheit zur
Stellungnahme hierzu sowie zu ihren rechtlichen Einschätzungen der Voraussetzungen des streitigen Anspruchs gehabt. Eine mündliche
Verhandlung ist daher zur Wahrung der prozessualen Rechte der Beteiligten nicht erforderlich.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Klage mit seinem hier angefochtenen Urteil vom 17. Juni 2015 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des beklagten Landes
vom 28. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger
nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat aus §
1 OEG in Verbindung mit den Vorschriften des BVG keinen Anspruch gegen das beklagte Land, bei ihm Schädigungsfolgen festzustellen und Versorgungsleistungen zu gewähren.
Zur Begründung nimmt der Senat zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung von §
153 Abs.
2 SGG Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des SG in seinem Urteil. Das SG hat darin auch nach Auffassung des Senats zutreffend dargelegt, selbst wenn unterstellt würde, die leibliche Mutter des Klägers
habe sich so verhalten, wie dies nunmehr von dem Kläger dargestellt wird, könne hierin kein Verhalten gesehen werden, was
unter rechtlichen Gesichtspunkten als schädigendes Ereignis im Sinne des §
1 OEG angesehen werden könne (vgl. dazu auch SG Magdeburg, Urteil vom 10. Juli 2015, Az.: S 14 VE 18/11 - juris mit Anmerkung von
Dau in jurisPR-SozR 21/2015 Anm. 5; SG Düsseldorf, Urteil vom 8. Dezember 2015, Az.: S 1 VG 83/14; SG Aurich, Beschluss vom 20. August 2015. Az.: S 7 VE 12/10; differenzierend Heinz in ASR 2017, 134 ff).
Gemeinsame Voraussetzung für sowohl die Feststellung von Schädigungsfolgen als auch für die Gewährung von Heilbehandlung und
Beschädigtengrundrente ist gemäß §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG, dass der Kläger infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine
gesundheitliche Schädigung erlitten hätte. Diese Voraussetzung liegt nicht vor.
Für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge müssen der gesetzlich geschützte womöglich schädigende Umstand
- hier also der tätliche Angriff -, der dadurch verursachte Gesundheitsschaden - vom Gesetz als Schädigung bezeichnet - und
der darauf zurückzuführende - aktuelle - gesundheitliche Schaden, für den eine Entschädigung verlangt wird, im Sinn des sogenannten
Vollbeweises nachgewiesen sein.
Zudem muss ein ursächlicher Zusammenhang im Sinn der Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung (vgl. dazu vgl. Rohr/Strässer/Dahm,
Kommentar zum BVG, Anm. 10 zu § 1) einerseits zwischen dem geschützten Umstand und der Schädigung und andererseits zwischen der der Schädigung und der zu entschädigenden
Folge bestehen.
Gemäß §
1 Abs.
12 Satz 1
OEG i.V.m. § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG genügt für die Annahme einer solchen Verursachung die Wahrscheinlichkeit ursächlichen Zusammenhangs. Wahrscheinlichkeit in
diesem Sinn liegt vor, wenn nach aktuell geltender medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang
spricht.
Davon ausnahmsweise sind nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß §
6 Abs.
3 OEG anzuwenden ist, hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers - hier also des
Klägers -, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach
den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden
des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang - beweisende Unterlagen nie existiert haben und lediglich - keine
Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, Az.: 9 RVg 3/89, BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung und damit aus eigenem Wissen
Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R, USK 2013-34).
Die vorgenannte Beweiserleichterung kommt im vorliegenden Fall aus zwei Gründen nicht in Betracht. Zum einen existiert jedenfalls
in der Person der leiblichen Mutter des Klägers eine Zeugin für Art und Umfang des Alkohol- und Nikotinkonsums während der
Schwangerschaft. Zum anderen kann der Kläger aus eigener Wahrnehmung zu dem vorgenannten Thema keine glaubhaften Angaben machen
(vgl. dazu auch Beschluss des Senats vom 12. Februar 2015, Az.: L 10 VE 59/13).
Der behauptete Alkoholkonsum der leiblichen Mutter des Klägers ist nicht im Wege des Vollbeweises nachgewiesen. Dies gilt
auch, soweit der Senat zugunsten des Klägers unterstellt, dass die der vorliegenden Entscheidung zugrunde zu legende herrschende
medizinische Lehrmeinung davon ausgeht, dass Alkoholgenuss während der Schwangerschaft die bei dem Kläger diagnostizierten
Gesundheitsstörungen hervorzurufen in der Lage ist. Damit ist allerdings nicht zugleich auszuschließen, dass womöglich andere
Einflüsse während der Schwangerschaft ebenfalls in der Lage sein könnten, derartige Gesundheitsstörungen hervorzurufen, so
dass der zwingende Rückschluss aus den bestehenden Gesundheitsstörungen auf Alkoholgenuss nicht zu ziehen ist.
Die leibliche Mutter des Klägers muss zu der Frage von Art und Umfang des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft nicht als
Zeugin gehört werden, weil die Anspruchsvoraussetzungen selbst für den Fall nicht gegeben sind, dass der Senat zugunsten des
Klägers einen Alkoholkonsum als gegeben unterstellt.
Auch ausgehend von dieser Annahme hat die Mutter des Klägers nicht rechtswidrig gehandelt, worauf das Sozialgericht bereits
zutreffend hingewiesen hat. Die leibliche Mutter hätte mit dem Konsum von Alkohol und Nikotin gegen keine Norm des geschriebenen
Rechts verstoßen, da es keine Norm gibt, die ihr ein solches Verhalten verbieten würde (so im Hinblick auf strafrechtliche
Normen auch SG Düsseldorf a.a.O. RdNr. 36; Heinz a.a.O. S. 135; vgl. auch Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder,
Strafgesetzbuch, 29. Aufl., §
223 RdNr. 1b; zusammenfassend auch Dau a.a.O. sub D.) Mit Rücksicht darauf, dass nach der Behauptung des Klägers der Alkoholkonsum
der Mutter die bei ihm diagnostizierten Gesundheitsstörungen verursacht hat, muss der Senat im Folgenden der Frage der rechtlichen
Bewertung des Nikotinkonsums nicht weiter nachgehen.
Der Senat verkennt insoweit nicht, dass die Mutter sich durch dieses legale Handeln möglicherweise Schadensersatzansprüchen
ihres Kindes ausgesetzt sieht (dazu im Überblick Heinz a.a.O. S. 134 f., Dau a.a.O. sub C.; Wagner in MüKo
BGB 7. Aufl., §
823 RdNr. 205; Hager in Staudinger,
BGB §
823 RdNr. B 49). Diese Frage ist allerdings von der hier zu erörternden Frage des Verbotenseins des Handelns zu unterscheiden.
Auch durch den von dem Kläger angesprochenen Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung ist der Senat nicht gehalten,
den möglichen Alkoholkonsum der Mutter des Klägers als durch staatliches Gesetz verboten anzusehen.
Ist der Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft nicht verboten, so kann die schwangere Frau in Ausübung ihrer Grundrechte
aus Artikel
2 Abs.
1 in Verbindung mit Artikel
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) autonom entscheiden, ob sie während der Schwangerschaft etwa Alkohol zu sich nimmt (so zutreffend auch Hager a.a.O. unter
Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG'es). Sie hat die grundrechtliche Freiheit, den Umgang mit ihrem Körper während der
Schwangerschaft im Rahmen der geltenden Gesetze selbst zu gestalten - auch wenn dies aus der Sicht anderer möglicherweise
unvernünftig oder sogar unethisch erscheint. Aus der Literatur ergibt sich auch, dass dies ca. 27 % der schwangeren Frauen
tun (Dau a.a.O. sub. A unter Bezugnahme auf eine Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung; vgl. auch die
vom LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 27. Januar 2017, AZ: L 13 VG 11/16, zitiert nach juris dort RdNr. 35, zitierten Presseartikel). Das akzeptiert letztlich auch die Rechtsprechung des BVerfG'es,
wenn sie einerseits postuliert, der Embryo bzw. Fötus könne gegen die Mutter ein Recht auf Leben geltend machen, was sich
aus seiner schon vorhandenen Menschenwürde ergebe, andererseits aber weiter ausführt, der Schutz des Lebens sei nicht in dem
Sinn absolut geboten, dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut, also auch der grundrechtlichen Position der Mutter, Vorrang
genösse (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993, Az.: 2 BvF 2/90 u.a,. BVerfGE 88,203 ff dort S. 251 einerseits und 253 andererseits).
Der Senat kann auch nicht davon ausgehen, dass das fehlende Verbot von Alkoholkonsum durch Schwangere auf entweder Unkenntnis
des Gesetzgebers oder einem Versehen beruht, so dass insoweit eine unbeabsichtigte Gesetzeslücke bestünde, die unter Ermittlung
des tatsächlichen oder mutmaßlichen Willens des Gesetzgebers nur so zu füllen wäre, dass Alkoholkonsum für Schwangere auch
ohne ausdrückliche Normierung verboten ist. Bereits ein Blick in §§
9 ff des zum 1. Januar 2018 in Kraft tretenden
Mutterschutzgesetzes macht deutlich, dass dem Gesetzgeber eine Vielzahl von Einflüssen bekannt ist, die sich nachteilig auf die Gesundheit der
Schwangeren und/oder des ungeborenen Kindes auswirken könnten. So wird es deshalb gemäß §
11 Abs.
1 Nr.
1 Buchst. a) des
Mutterschutzgesetzes in Verbindung mit Anlage I Nr. 3.7.1.4 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 verboten sein, eine Schwangere aus gewerblicher
Motivation der Einwirkung reproduktionstoxischer Stoffe auszusetzen, wozu nach Verständnis des Senats dann eben auch Alkohol
gehören wird. Hingegen hat der Gesetzgeber nicht zugleich verboten, dass die Schwangere sich selbst freiwillig den potentiell
schädigenden Einwirkungen aussetzt oder dass sie von Dritten ohne gewerbliche Motivation solchen Einwirkungen ausgesetzt wird.
Bereits 2008 hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung sich für Warnhinweise für Schwangere auf Alkoholflaschen eingesetzt(Deutsches
Ärzteblatt vom 22. Dezember 2008). Von einer unbeabsichtigten Lücke im Gesetz kann der Senat im Hinblick darauf nicht ausgehen.
Daneben weist Dau (a.a.O.; so auch SG Düsseldorf a.a.O. RdNr. 35) in seiner Anmerkung zur Entscheidung des SG Magdeburg (a.a.O.)
unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zutreffend darauf hin, dass zur Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne von §
1 Abs.
1 OEG noch die "feindselige Willensrichtung" der Täterin hinzutreten muss. Mit diesem, dem "Angriff" im Wortsinn immanenten Merkmal,
grenzt das Opferentschädigungsrecht sozial adäquates und gesellschaftlich noch toleriertes Verhalten von einem auf Rechtsbruch
gerichteten Handeln der Täterin ab, welches allein zur Entschädigung eines Opfers führen kann. Nach diesem Maßstab handeln
Schwangere, die Alkohol trinken, nicht "rechtsfeindlich". In der vorgeburtlichen Zeit durch Substanzkonsum ihrer Mütter geschädigte
und deshalb behindert geborene Kinder haben also auch mangels "Rechtsfeindlichkeit" der schädigenden Handlung keinen Anspruch
auf Feststellung von Schädigungsfolgen und Zuerkennung von Beschädigtenrente nach dem
OEG. Zudem setzt §
1 Abs.
1 OEG voraus, dass sich die schädigende Handlung gegen "eine Person" wendet. Auch dies ist in der vorliegenden Konstellation nicht
der Fall. Insoweit verkennt der Senat nicht, dass ein übermäßiger Alkoholkonsum auch für die Schwangere selbst schädlich sein
könnte. Zweifellos handelt die Frau insoweit aber in Bezug auf die potentielle Selbstschädigung nicht rechtswidrig, so dass
im vorliegenden Zusammenhang allein der Frage weiter nachzugehen ist, ob ein Alkoholkonsum sich gegen die Person des Nasciturus
richten kann. Ein Nasciturus kann noch keine "Person" im Sinne des Gesetzes sein (dazu eingehend BSG, Urteil vom 24. Oktober 1962, Az.: 10 RV 583/59, BSGE 18, 55 zitiert nach juris dort RdNr. 15 ff). Dies ergibt sich schon aus dem Normtext von §
1 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB). Danach beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Vor der Geburt lassen sich die Mutter und
der Embryo personal noch nicht differenzieren. Das BSG weist darauf hin, dass das werdende Kind vor der Geburt mit der Mutter eine biologische Einheit bildet (Urteil vom 15. Oktober
1963, Az.: 11 RV 1292/61, BSGE 20, 41 ff zitiert nach juris dort RdNr. 20). Die Entstehung des Lebens ist insoweit ein Entwicklungsprozess, der nicht an einzelnen
Merkmalen festgemacht werden kann. Rechtlich ordnet §
1 BGB die Rechtsfähigkeit und damit die Personalität des Rechtssubjekts eben erst mit Vollendung der Geburt an.
Dies vermag zivilrechtlich möglicherweise nichts an entstehenden Schadensersatzansprüchen zu ändern, führt aber dazu, dass
die tatbestandlichen Voraussetzungen von §
1 Abs.
1 OEG nicht erfüllt werden. In den von dem BSG entschiedenen Fällen, in denen ungeborenen Kindern entschädigungsrechtlichen Ansprüche zugesprochen worden sind, lagen insoweit
andere Konstellationen vor, als sich die schädigenden Handlungen gegen eine Person, nämlich die spätere Mutter oder die Schwangere
richteten. Dieser kommt ohne Zweifel Personenqualität im Sinne von §
1 Abs.
1 OEG zu. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass ein wesentlicher Unterschied auch darin besteht, dass im Versorgungsrecht
nach dem BVG eine andere rechtliche Regelung getroffen ist. Dort besteht - im Unterschied zur Formulierung in §
1 OEG - ein Anspruch auf Versorgung nur für die Schädigung der eigenen Person (vgl. dazu die ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung
bei BSG, Urteil vom 24. Oktober 1962 a.a.O. und Urteil vom 15. Oktober 1963, a.a.O.; vgl. auch differenzierend zum Opferentschädigungsrecht
BSG Urteil vom 16. April 2002, Az.: B 9 VG 1/01 R, BSGE 89,199 ff zitiert nach juris dort RdNr. 19, 24; mit einleuchtenden Gründen kritisch zu dieser Entscheidung Schimmelpfeng-Schütte,
MedR 2003 S. 401 ff und Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, §
1 OEG RdNr. 15; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Januar 2017, Az.: L 13 VG 11/16 zitiert nach juris dort RdNr. 27).
Zu einem anderen Ergebnis führt in diesem Zusammenhang auch nicht die Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts,
soweit es sich für eine analoge Anwendung des §
1 OEG ausgesprochen hat. Alle drei insoweit ergangenen Urteile (vom 24. Oktober 1962, a.a.O.; vom 15. Oktober 1963, a.a.O., sowie
vom 16. April 2002, a.a.O.; dazu mit überzeugenden Gründen unter Hinweis auf das Verfassungsrecht kritisch Rademacker a.a.O.,
der zutreffend schon das Vorliegen einer für eine Analogie erforderlichen Regelungslücke bestreitet) unterscheiden sich von
der hier zu prüfenden Problematik insoweit grundsätzlich, als in den von dem BSG entschiedenen Fällen jeweils unzweifelhaft ein die Haftung des Staates auslösender schädigender Vorgang gegen eine Person
- nämlich die jeweilige Mutter des Anspruchstellers - vorgelegen hatte. Die Urteile des BSG betrafen deshalb allein die Frage, ob in einer solchen Lage zusätzlich auch noch ein zu entschädigender Schaden in einer
zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses noch nicht geborenen oder sogar noch nicht gezeugten anderen Person eintreten kann.
Nur insoweit hat das BSG die Frage bejaht und eine ausfüllensbedürftige Lücke des Gesetzes gesehen. Zu der hier zu entscheidenden Frage, ob ein Nasciturus
Subjekt eines tätlichen Angriffs im Sinn von §
1 OEG sein kann, hat das BSG in diesem Zusammenhang aber ebenso wenig eine Aussage getroffen, wie in dem Urteil vom 18. Oktober 1995 (Az.: 9 RVg 7/93, SozR 3-3800 § 1 Nr. 7). Weil das - hier unterstellte - Verhalten der Mutter (der Alkoholkonsum) aber - wie gezeigt - weder
rechtswidrig noch rechtsfeindlich war, könnte selbst bei einer analogen Anwendung von §
1 OEG im Sinne der zitierten BSG-Rechtsprechung kein anderes Ergebnis erzielt werden.
Vorsorglich ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich der Senat gegenwärtig auch nicht die Überzeugung bilden kann, dass
der unterstellte Alkoholkonsum der Mutter des Klägers vorsätzlich im Sinn von §
1 Abs.
1 OEG gewesen ist. Der - auch nur bedingte - Vorsatz hätte sich dabei nicht allein auf den Konsum von Alkohol beziehen müssen,
er hätte vielmehr ein möglicherweise schädigendes Potential der Handlung gegenüber einer anderen Person umfassen müssen. Selbst
soweit man insoweit anders als im Hinblick auf die Angriffshandlung ein schädigendes Potential gegenüber einem Nasciturus
ausreichen lassen würde, bestünden jedenfalls Zweifel an einem Vorsatz der Mutter des Klägers. Diese müsste bei dem Alkoholkonsum
von der Existenz des Nasciturus gewusst haben, was gerade in der Anfangsphase einer Schwangerschaft nicht selbstverständlich
ist. Lässt sich aber zwischen der Alkoholmenge und dem Ausmaß der eintretenden Schädigung kein linearer Zusammenhang begründen
(vgl. www.fetales-alkoholsyndrom.de/definitin einleitung.html) und ist andererseits bekannt, dass bereits bis zum Ende der
siebten Woche nach der Befruchtung Schädigungen in allen wesentlichen Entwicklungsbereichen durch Einwirkungen teratogener
Stoffe bedingt sein können (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Alkohol in der Schwangerschaft - Ein kritisches
Resümee, Seite 47), so ist durchaus vorstellbar, dass die Schäden des Klägers durch einen vergleichsweise geringen und in
der Zeit vor Kenntnis von der Schwangerschaft erfolgten Alkoholkonsum verursacht worden sind und entweder seine Mutter in
der Zeit danach abstinent gelebt hat oder ein fortgeführter Alkoholkonsum ohne weitere für den Kläger nachteilige Folgen geblieben
ist. Im Übrigen sind die Zusammenhänge auch nicht so einfach, wie von dem Kläger dargestellt. Es ist nicht so, dass Alkoholkonsum
unausweichlich zu Schädigungen des Ungeborenen führt. Nach der bereits genannten Literatur (Dau a.a.O. sub. A) ist davon auszugehen,
dass in Deutschland etwa 27 % der Schwangeren Alkohol konsumieren. Bei etwa 792.000 lebendgeborenen Kindern in Deutschland
im Jahr 2016 (www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/Gebur ten.html) bedeutet dies, dass
nahezu in Bezug auf 214.000 lebendgeborene Kinder die Schwangeren Alkohol konsumiert haben. Für Deutschland wird eine Inzidenz
des fetalen Alkoholsyndroms von 2,8 pro 1000 Neugeborenen geschätzt (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Alkohol
in der Schwangerschaft - Ein kritisches Resümee, Seite 40); demnach müssten also jährlich etwa 2.200 Neugeborene mit voll
ausgeprägtem Syndrom geboren werden, was in Bezug auf die Alkohol konsumierenden Schwangeren lediglich ein statistisches Risiko
in der Größenordnung von rund 1 zu 100 bedeutet. Vor diesem Hintergrund könnte die Mutter des Klägers auch bei dem möglichen
Alkoholkonsum die nicht gänzlich unbegründete Hoffnung gehabt haben, gleichwohl ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, was
für die Beurteilung ihres etwaigen Vorsatzes von Bedeutung wäre. Nicht einschätzen kann der Senat in diesem Zusammenhang,
welchen Einfluss auf ihre Motivationslage der Umstand gehabt haben könnte, dass sie vor dem Kläger bereits drei Kinder geboren
hatte. Womöglich könnte ihr Trinkverhalten während der vorangegangenen Schwangerschaften und der - der Mutter des Klägers
bekannte - Gesundheitszustand der Kinder ihre Hoffnung auf einen auch im Fall des Klägers unschädlichen Alkoholkonsum bestärkt
haben.
Die Anhörung der Mutter des Klägers auch zu dieser Fragestellung ist jedoch wegen der zuvor dargestellten rechtlichen Erwägungen
entbehrlich.
Zur Vermeidung von Missverständnissen ist darauf hinzuweisen, dass der Senat keinesfalls die Problematik alkoholbedingter
vorgeburtlicher Schädigungen nach Anzahl oder Auswirkungen bagatellisieren will. Ohne Wenn und Aber ist jedes einzelne mit
einem auch nur Teilbild des fetalen Alkoholsyndroms geborenes Kind eines zuviel.
Und zur Verhinderung dessen uneingeschränkt zu begrüßen wäre ein vollständiger Verzicht aller Schwangeren auf Alkoholkonsum.
Der unterstellte Alkoholkonsum der leiblichen Mutter des Klägers kann auch nicht durch Anwendung von §
1 Abs.
2 Nr.
1 OEG zu einem Anspruch des Klägers führen. Danach steht einem tätlichen Angriff im Sinne des Abs. 1 die vorsätzliche Beibringung
von Gift gleich. Das Bestehen eines Anspruchs nach dieser Norm setzt also ebenso wie desjenigen nach §
1 Abs.
1 OEG eine Vorsätzlichkeit, eine Rechtswidrigkeit mit Rechtsfeindlichkeit und das Betroffensein einer Person voraus. Sämtliche
tatbestandlichen Voraussetzungen werden aber auch im Hinblick auf eine mögliche Handlung nach §
1 Abs.
2 Nr.
1 OEG - wie gezeigt - nicht erfüllt (anderer Ansicht Heinz a.a.O. S. 137, der allerdings insoweit wenig überzeugend unter Bezugnahme
auf zivilrechtliche Kategorien umstandslos von der Rechtswidrigkeit des Handelns der Mutter ausgeht).
Eine besondere Härte im Sinn von §
1 Abs.
12 Satz 1
OEG i.V.m. § 89 BVG resultiert aus der vorliegend vorgenommenen Auslegung der maßgeblichen Vorschriften nicht, so dass eine Verurteilung des
Beklagten zu einer Ermessensentscheidung nicht in Betracht kommt. Die Versagung der Leistungen an den Kläger beruhen nicht
allein darauf, dass ihm in seiner vorgeburtlichen Phase die Personeneigenschaft abgesprochen wird - was man möglicherweise
als nicht mit der Zielrichtung des
OEG zu vereinbarende Härte sehen könnte. Es fehlt, wie dargestellt, auch an der Rechtswidrigkeit des Handelns seiner Mutter.
Das aber ist dem System der staatlichen Opferfürsorge immanent, dass es nur für die Folgen verbotenen, nicht aber für die
Folgen erlaubten Handelns einstehen muss.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §
193 SGG.
Anlass die Revision in Anwendung von §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen besteht nicht. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass die Revision hier aus grundsätzlichen Erwägungen zuzulassen
ist. Die aufgeworfenen Rechtsfragen lassen sich vielmehr - wie gezeigt - anhand der bereits ergangenen höchstrichterlichen
Rechtsprechung klären.