Sozialhilferecht: Kriterien der Ermessensausübung in § 15a BSHG, Übernahme von Mietverbindlichkeiten
Gründe:
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Die Antragsgegnerin kann nicht im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet werden, zum Erhalt der jetzigen Unterkunft des Antragstellers die bis Februar 1990 aufgelaufenen Mietrückstände
aus Mitteln der Sozialhilfe darlehnsweise zu übernehmen. Einen dahingehenden Anspruch hat der Antragsteller nicht mit dem
für eine weitgehende Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, wobei dahinstehen
kann, ob er gegen den ablehnenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Februar 1990 rechtzeitig Widerspruch eingelegt hat.
Als Anspruchsgrundlage kommt § 15 a BSHG oder -- da der Antragsteller laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nicht bezieht -- § 11 Abs. 2 BSHG in Betracht, wobei die Ermessensermächtigung in § 15 a BSHG enger und für den Hilfesuchenden günstiger ist (vgl. OVG Hamburg, Beschluß v. 28.2.1990 -- OVG Bs IV 61/90). Voraussetzung für den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung wäre demnach neben dem Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen
("zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt" bzw. "in begründeten Fällen"), daß das der Antragsgegnerin in § 15 a und § 11 Abs. 2 BSHG eingeräumte Ermessen auf eine einzige fehlerfreie Entscheidung, die mit dem Anordnungsantrag begehrte Hilfeleistung, reduziert
wäre; ob die Ablehnung der Übernahme der Mietschulden im Bescheid vom 22. Februar 1990 frei von Ermessensfehlern ist oder
ob die Antragsgegnerin im Falle einer Klage zur Neubescheidung (§
113 Abs.
4 Satz 2
VwGO) zu verpflichten wäre, ist demgegenüber unerheblich (vgl. OVG Münster, Beschluß v. 9.5.1985, FEVS Bd. 35 S. 24, 30). Eine
derartige Ermessensreduzierung auf Null ist hier nicht dargetan.
Die Antragsgegnerin hat das ihr eröffnete Ermessen an Inhalt und Aufgabe der Sozialhilfe auszurichten, insbesondere an deren
Ziel, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG). Zu einem menschenwürdigen Leben gehört auch eine gesicherte Unterkunft. Insoweit steht hier jedoch noch nicht einmal fest,
daß der Antragsteller seine bisherige Unterkunft nicht mehr aus eigenen Kräften und Mitteln (§ 2 Abs. 1 BSHG) sichern kann. Es ist nicht auszuschließen, daß die ... Vermieterin von ihrem Räumungstitel (Vergleich vom 30.11.1989, SA
Bl. 33: Bl. 5 d.A.) keinen Gebrauch macht, wenn der Antragsteller ihr nachweist, daß er in eine Geldverwaltung durch seine
Bewährungshelferin eingewilligt hat, seine Einkünfte an diese ausgezahlt werden und die Zahlung der laufenden Miete auf diese
Weise sichergestellt ist, und wenn er die Tilgung der Rückstände in der vergleichsweise vereinbarten Höhe von monatlich 200,--
DM aufnimmt. Zu derartigen Raten ist der Antragsteller bei Änderung seiner bisherigen Einstellung durchaus imstande, zumal
ihm zuzumuten ist, seinen Lebensunterhalt bis zu einer Arbeitsaufnahme nach dem bevorstehenden Abschluß seiner Umschulung
zum Fleischer auf das Unerläßliche zu beschränken, nachdem er mehrere Monate lang über seine Verhältnisse gelebt hat, und
er auch während der laufenden Umschulung als gesunder und kräftiger junger Mann sich abends oder am Wochenende durch Arbeit
etwas hinzuverdienen kann.
Aber selbst wenn die Vermieterin eine Fortsetzung des Mietverhältnisses von der sofortigen Begleichung sämtlicher Rückstände
abhängig machen sollte und der Antragsteller die bisherige Wohnung über kurz oder lang (Räumungsfrist gemäß §
794 a ZPO ist in Betracht zu ziehen) räumen müßte, bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß er obdachlos wird. Er verfügt über eigenes
Einkommen, aus dem er seine notwendigen Unterkunftskosten bestreiten kann. Er kann sich eine neue Wohnung suchen. Daß er eine
solche angesichts der gegenwärtigen Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht finden kann, steht nicht fest, zumal auch eine kleinere
und einfachere Wohnung seinen Unterkunftsbedarf decken würde und er im Hinblick auf die bevorstehende Arbeitsaufnahme und
einen damit möglicherweise ohnehin verbundenen Ortswechsel -- sei es auch nur innerhalb des Großraum Hamburgs -- auch Übergangslösungen,
z.B. ein möbliertes Zimmer in Betracht ziehen kann. Die Aufgabe langgewachsener sozialer Bindungen ist mit einem Wohnungswechsel
für den Antragsteller nicht verbunden; auf Angehörige braucht er als Alleinstehender keine Rücksicht zu nehmen.
In Betracht zu ziehen ist hier aber auch die Aufgabe der Sozialhilfe, den Hilfesuchenden zur Selbsthilfe zu befähigen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 BSHG) und seine Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu stärken (vgl. OVG Münster, a.a.O. S. 32 f.; OVG Berlin Beschluß
v. 28.4.1980, FEVS Bd. 29 S. 226, 228). Jedenfalls von daher ist es sachgerecht, auf die Entstehung der Mietschulden einzugehen,
wie es die Antragsgegnerin getan hat. Der Antragsteller stellt sich in dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
als jemanden hin, der mit Geld nicht umgehen kann, dem das Geld "zwischen den Fingern zerrinnt". Das mag in gewissem Umfang
richtig sein, auch ist dem Antragsteller zugute zu halten, daß sich in der langen Haft ein Nachholbedarf an Lebensqualität
aufgestaut hat. Gleichwohl ist dies nur die eine Seite. Untypisch für jemanden, der mit Geld nicht umgehen kann, ist die vorherige
Erklärung, eine ganz bestimmte regelmäßige Verbindlichkeit in Zukunft nicht zu erfüllen, wovon beim Antragsteller hinsichtlich
der Miete (und der Energiekosten) dem Aktenvermerk vom 24. Juli 1989 (SA Bl. 15 R) zufolge auszugehen ist. Dieser Vermerk
legt nahe, daß der Antragsteller von vornherein entschlossen war, die laufende Miete nicht zu zahlen, und zwar, weil er davon
ausging, die Antragsgegnerin werde die Rückstände eines Tages wohl oder übel übernehmen müssen. Würde die Antragsgegnerin
dieser Erwartung entsprechen, so würden Eigenverantwortlichkeit des Antragstellers und seine Fähigkeit zur Selbsthilfe nicht
gestärkt, sondern geschwächt. Er würde auch in Zukunft davon ausgehen, daß es letztendlich dumm sei, einen beträchtlichen
Teil seines Einkommens für die Kosten der Unterkunft einzusetzen. Die begehrte einstweilige Anordnung liefe so gesehen nachgerade
auf eine nachträgliche Prämierung des verantwortungslosen Verhaltens des Antragstellers hinaus. Das Gewicht dieser Überlegung
wird noch dadurch verstärkt, daß dem Antragsteller dem Vermerk vom 5. Dezember 1989 (SA Bl. 26) zufolge deutlich gemacht worden
ist, daß seine Mietschulden von der Antragsgegnerin nicht übernommen würden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Antragsteller seine
Verhältnisse zur Vermieterin gerade durch den Vergleich vom 30. November 1989 geordnet und die Möglichkeit eingeräumt erhalten,
seine Mietschulden in monatlichen Raten von 200,-- DM abzutragen. Gleichwohl hat er sein Verhalten nicht geändert. Die jetzt
über die Bewährungshelferin eingerichtete "freiwillige Geldverwaltung" ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sie
bietet aber noch keine sichere Gewähr, daß der Antragsteller sein Anspruchsdenken aufgegeben hat und entschlossen ist, seine
Unterkunftskosten künftig aus eigenen Kräften und Mitteln zu bestreiten.
Zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen bei dieser Sachlage auch nicht die nachfolgenden zugunsten des Antragstellers
sprechen den Umstände, mögen sie auch geeignet sein, die vom Verwaltungsgericht gefundene Lösung ebenfalls als ermessensgerecht
erscheinen zu lassen. Zum einen erscheint zweifelhaft, ob die Antragsgegnerin ihre sozialhilferechtlichen Möglichkeiten (§§
3 Abs. 1, 6 Abs. 1, 8 Abs. 2, 11 Abs. 2, 72 BSHG) ausgeschöpft hat, als sie dem Antragsteller am 24. Juli 1989 mitteilte, das Sozialamt sei keine Vermögensverwaltungsstelle
und er möge, falls er sein Geld nicht einteilen könne, sich mit einer solchen in Verbindung setzen (SA Bl. 15). Die Antragsgegnerin
hat es der Sachakte zufolge praktisch sehenden Auges hingenommen, daß der Antragsteller die Miete nicht gezahlt und auch den
Vergleich nicht erfüllt hat.
Unter Einschaltung der Bewährungshelferin hätte die jetzt vom Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluß vorgezeichnete
Lösung möglicherweise bereits früher realisiert werden können. Obwohl der Antragsteller nicht behauptet, daß seine Situation
auch darauf zurückzuführen sei, ist zum anderen zu beanstanden, daß die Antragsgegnerin bei der Hilfe für den vom Antragsteller
benötigten Hausrat im Juni 1989 anläßlich des Wohnungsbezugs nach seiner Haftentlassung einen Eigenanteil von rund 1.000,--
DM angesetzt hat (vgl. SA Bl. 8 R, 11 R). Die Berücksichtigung des sechsfachen Betrages des den Regelbedarf übersteigenden
Einkommensteils dürfte nicht nach § 21 Abs. 2 Satz 2 BSHG ermessensgerecht gewesen sein, weil der Bedarf des Antragstellers mit dem Einzug in die Wohnung entstand und eine sukzessive
Befriedigung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nicht gestattete.
Ein Rechtsanspruch auf die begehrte Übernahme der Mietschulden ergibt sich auch nicht aus § 72 BSHG. Insoweit ist bereits nicht zu erkennen, daß der Antragsteller zu den Personen gehört, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten
der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft entgegenstehen. Schwierigkeiten im Umgang mit Geld begründen noch nicht die Zugehörigkeit
zu diesem Personenkreis. Zwar "können" bei aus der Freiheitsentziehung in ungesichert Lebensverhältnisse Entlassenen derartige
besondere Lebensverhältnisse bestehen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, § 5 der VO zu § 72). Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß
dies beim Antragsteller derzeit -- die Haftentlassung liegt rund ein Jahr zurück, er nimmt an einer Umschulung teil und hat
alsbald nach der Haftentlassung eine eigene Wohnung bezogen -- der Fall ist und die Tatsache der Haft zu den gegenwärtigen
Schwierigkeiten mit der Unterkunft geführt hat und es ihm auch künftig erschweren wird, eine neue Unterkunft zu finden. Darüberhinaus
hat der Antragsteller durch die "freiwillige Geldverwaltung" gezeigt, daß er aus eigenen Kräften fähig ist, die Überwindung
etwaiger Schwierigkeiten im Sinne von § 72 BSHG zumindest einzuleiten.