Anspruch des Sozialleistungsträgers bei Heimunterbringung des schwerbehinderten Kindes und Erbringung von Eingliederungshilfe
auf Erstattung des Kindergeldes von der Familienkasse; Familienleistungsausgleich (Kindergeld für Gabriele A...)
Tatbestand:
Das behinderte Kind Gabriele A..., geboren im Juli 1959, ist vollstationär in einer Behinderteneinrichtung untergebracht.
Die Eltern des Kindes kümmern sich um ihr Kind, indem sie zwei Wochenenden im Monat mit ihm verbringen und teilweise Aufwendungen
in dieser Zeit für das Kind tragen. Die Kosten der Unterbringung in der Behinderteneinrichtung werden von der Klägerin, der
Stadt L... als Sozialleistungsträger, übernommen. Seit Juli 2000 wird von der Mutter des Kindes ein Kostenbeitrag über DM
25,59 erhoben, der mit der ihr gewährten ergänzenden Sozialhilfe verrechnet wird. Die Klägerin hat Aufwendungsersatz geltend
gemacht gegenüber dem betreuten Kind, sie hat sich die Rente des Kindes sowie den Lohn aus der Tätigkeit in der Werkstatt
für Behinderte abzüglich eines Selbstbehaltes auszahlen lassen.
Das Kind Gabriele A... erhält eine Rente in Höhe von monatlich etwa DM 466 (Bruttobetrag) sowie etwa DM 110 monatlich aus
der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte. Die Klägerin stellte im Januar 2000 einen als "Überleitungsanzeige" benannten
Antrag auf Leistungsbewilligung. Darin bat sie um Auszahlung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 Einkommensteuergesetz -
EStG -. Zur Begründung führte sie an, dass gemäß § 90 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - der Sozialhilfeträger den Anspruch eines Hilfeempfängers oder seiner Eltern gegen einen anderen, der nicht Leistungsträger
im Sinne des §
12 Erstes Sozialgesetzbuch -
SGB I - ist, bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf sich überleiten könne. Im Weiteren wird auf den Antrag Bezug genommen.
Die Beklagte stellte zunächst die Zahlungen des Kindergeldes an den kindergeldberechtigten Vater des Kindes, den Beigeladenen,
ab Januar 2000 ein. Sie wertete den Antrag der Klägerin als Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 EStG und lehnte mit Bescheid vom 19. Oktober 2000 den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie an, dass der Beigeladene
seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht in Form von Betreuungsleistungen nachkomme. Der hiergegen erhobene Einspruch blieb ohne
Erfolg. Mit der Einspruchsentscheidung lehnte die Beklagte auch einen Erstattungsanspruch ab mit dem Hinweis, ein Kostenfestsetzungsbescheid
gegenüber dem Beigeladenen sei nicht vorgelegt worden. Die Beklagte zahlte das Kindergeld an den Beigeladenen aus.
Die Klägerin hat Klage erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, sie habe gemäß § 90 BSHG einen Anspruch auf Kindergeld aus übergegangenem Recht. Zumindest aber sei sie, die Klägerin, nach §
74 Abs.
2 EStG n.F. in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch - SGB X - erstattungsberechtigt. Sie habe auch ausdrücklich die Erstattung des Kindergeldes begehrt. Die Voraussetzungen hierfür
seien erfüllt, da das Kind zu einem monatlichen Kostenbeitrag aus seiner Rente herangezogen werde.
Im Hinblick auf das Urteil des Finanzgerichts des Landes Brandenburg in Cottbus vom 19. Juni 2002 (6 K 981/01, EFG 2002, 1315) hob die Beklagte die ursprüngliche Einspruchsentscheidung auf und erließ mit Datum vom 25. Februar 2003 eine neue Einspruchsentscheidung,
in der sie ausführlich dazu Stellung nimmt, aus welchem Grund sie eine Abzweigung des Kindergeldes zu Gunsten der Klägerin
ablehne.
Die Klägerin beantragt,
ihr das Kindergeld für das Kind Gabriele A... ab Januar 2000 auszuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Es handelt sich hier um eine ohne Vorverfahren zulässige - nicht fristgebundene - allgemeine Leistungsklage im Sinne des §
40 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -, gerichtet auf Auszahlung von Kindergeld, da zwischen den Leistungsträgern kein Über- und Unterordnungsverhältnis besteht,
das zu einer Entscheidung durch Verwaltungsakt berechtigen würde (vgl. Bundesfinanzhof - BFH - Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, Sammlung nicht amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2002, 1156). Es kommt daher nicht darauf an, ob die Beklagte im Vorverfahren bereits über den Antrag der Klägerin entschieden hat. Entscheidend
ist ausschließlich, dass sie bis jetzt eine Erstattung verweigert hat.
Die Beklagte hat die Erstattung des Kindergeldes für das Kind Gabriele A... für den Zeitraum ab Januar 2000 zu Recht abgelehnt.
Das Kind Gabriele A... ist unstreitig als Kind im Sinne des §
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 EStG zu berücksichtigen. Die Klägerin hat jedoch keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten.
Ein Anspruch der Klägerin aus übergeleitetem Recht nach § 90 BSHG scheidet aus, da die Familienkasse Leistungsträger im Sinne von §
12 i.V.m. §
25 Abs.
1 und
3 SGB I ist. § 90 Abs. 1 BSHG betrifft nach seinem Wortlaut nur Ansprüche gegen einen anderen, der kein Leistungsträger im Sinne von §
12 SGB I ist. Die Familienkasse und der Sozialleistungsträger stehen demzufolge gleichrangig nebeneinander (vgl. FG des Landes Brandenburg
Urteil vom 19. Juni 2002 6 K 981/01, EFG 2002, 1315).
Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf einen Erstattungsanspruch aus §
74 Abs.
2 EStG in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X berufen. Denn § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X finden keine Anwendung, da diese Gleichartigkeit der Leistungen voraussetzen, es sich bei den Leistungen von Sozialleistungsträger
und Familienkasse jedoch nicht um gleichartige Leistungen aufgrund der Art. der Ansprüche handelt (FG Rheinland-Pfalz Urteil
vom 30. April 2002 - 2 K 1072/01, n.v.; Dienstanweisung, DA 74.3.1 Abs. 1, BStBl. I 2002, 365 (454)). Im Gegensatz zum Kindergeld, bei dem es sich um eine
allgemeine Leistung des Staates zum Ausgleich der wirtschaftlichen Belastung, die durch Kinder entsteht, handelt, ist es Aufgabe
der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern
(Dienstanweisung, DA 74.3.1 Abs. 3, BStBl. I 2002, 365 (454))
Ebenso kommt ein Erstattungsanspruch gemäß §
74 Abs.
2 EStG n.F. in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X nicht in Betracht. Danach ist Voraussetzung für eine Erstattung, dass gegenüber dem Kindergeldberechtigten oder dem Kind
selbst ein Kostenfestsetzungsbescheid erlassen oder Aufwendungsersatz geltend gemacht werden kann. Vorliegend fehlt es jedoch
an einem auf das Kindergeld bezogenen Kostenfestsetzungsbescheid oder Aufwendungsersatz.
Zwar hat die Klägerin gegenüber der Kindesmutter einen Kostenfestsetzungsbescheid erlassen, diese ist jedoch nicht kindergeldberechtigt.
Kindergeldberechtigt ist der Beigeladene. Selbst wenn dies unerheblich wäre, ist der festgesetzte Kostenbeitrag durch Aufrechnung
mit der ergänzenden Sozialhilfe gezahlt worden. Auch der Aufwendungsersatz in Höhe der Rente des Kindes, abzüglich eines Selbstbehaltes,
ist an die Klägerin ausgezahlt worden. Nicht ausreichend ist für einen Erstattungsanspruch im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X - wie die Klägerin meint - das bloße Geltendmachen irgendeines Aufwendungsersatzes bzw. die Erhebung eines Kostenfestsetzungsbescheides.
Beide müssen ausdrücklich das Kindergeld als Anspruch dem Grunde und der Höhe nach beinhalten.
Denn die Regelung des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X stellt dem Wortlaut nach weniger einen Erstattungsanspruch dar als vielmehr eine Form der Vollstreckung durch Forderungsübergang.
Der Träger der Sozialleistung, der ansonsten die Pfändung des Kindergeldanspruchs betreiben müsste, kann auf Grund des durch
Verwaltungsakt festgesetzten Kostenbeitrages oder des geltend gemachten Aufwendungsersatzes von der Familienkasse die Auszahlung
des Kindergeldes verlangen. Danach entspricht die Rechtsposition des Sozialleistungsträgers im Rahmen des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X derjenigen eines Pfändungspfandgläubigers, wobei der den Kostenbeitrag festsetzende Verwaltungsakt bzw. der geltend gemachte
Aufwendungsersatz den für die Pfändung erforderlichen Titel ersetzt. § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X stellt mithin eine verkürzte Zwangsvollstreckung dar; funktional handelt es sich demzufolge um die Pfändung einer Sozialleistung
(so auch FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 22. November 2002 - 4 K 1903/01, EFG 2003, 631; ebenso Bundessozialgericht - BSG-Urteil vom 22. Januar 1998 B 14/10 KG 24/96 R, SozR 31300 § 104 Nr. 13)
Wenn der Aufwendungsersatz wie im Streitfall nun nicht das Kindergeld beinhaltet, besteht für die Familienkasse daraus folgend
keine Leistungspflicht. Hinzukommt, dass der Aufwendungsersatz, der gegenüber der Rentenkasse in Höhe der Rente, abzüglich
des Selbstbehaltes, erhoben wurde mit Zahlung der Rente erfüllt ist, mithin für eine weitere Erstattung durch die Familienkasse
kein Raum mehr ist.
Im Übrigen ist nach Auffassung des erkennenden Senats die Formulierung des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X, wonach ein Kostenfestsetzungsbescheid erlassen oder Aufwendungsersatz geltend gemacht werden "kann" dahingehend zu verstehen,
dass für den Erstattungsanspruch der tatsächliche Erlass eines Kostenfestsetzungsbescheides oder das tatsächliche Geltendmachen
eines Aufwendungsersatzes zwingend erforderlich ist. Die nur rechtliche Möglichkeit des Erlasses oder der Geltendmachung reicht
hingegen nicht aus. Denn mit dieser Vorschrift soll der Zahlungsweg abgekürzt werden - die direkte Zahlung von der Familienkasse
an den Sozialleistungsträger ohne Einschaltung des Kindergeldberechtigten ermöglicht werden. Wenn nun der Sozialleistungsträger
tatsächlich keine Forderung geltend macht, kann er auch keine Zahlung von Dritten erhalten.
Darüber hinaus dient das Vorliegen eines entsprechenden Leistungsbescheides sowohl der Rechtssicherheit als auch einem effektiven
Rechtsschutz (so das BSG Urteil vom 10. Dezember 2002 B 9 VG 6/01 R, RegNr. 25978 (BSG-Intern)).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO. Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.