Anspruch des Sozialleistungsträgers bei Heimunterbringung des schwerbehinderten Kindes und Erbringung von Eingliederungshilfe
auf Erstattung des Kindergeldes von der Familienkasse
Tatbestand:
Das behinderte Kind Yves A..., geb. im April 1971, ist vollstationär in einer Behinderteneinrichtung untergebracht. Die Eltern
des Kindes kümmern sich um ihr Kind, indem sie etwa drei Wochenenden im Monat, Feiertage und Ferien mit ihm verbringen und
wesentliche Aufwendungen in dieser Zeit für das Kind tragen. Die Kosten der Unterbringung in der Behinderteneinrichtung werden
von der Klägerin, der Stadt L... als Sozialleistungsträger, übernommen. Der Sozialleistungsträger hat Aufwendungsersatz geltend
gemacht gegenüber dem betreuten Kind, er hat sich die Rente des Kindes abzüglich eines Selbstbehaltes auszahlen lassen. Das
Kind Yves A... erhielt eine Rente in Höhe von monatlich etwa DM 466 (Bruttobetrag).
Die Klägerin stellte im Januar 2000, bei der Beklagten am 13. Januar 2000 eingegangen, einen als "Überleitungsanzeige" benannten
Antrag auf Leistungsbewilligung. Darin bat sie um Auszahlung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 Einkommensteuergesetz -
EStG -. Zur Begründung führte sie an, dass gemäß § 90 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - der Sozialhilfeträger den Anspruch eines Hilfeempfängers oder seiner Eltern gegen einen anderen, der nicht Leistungsträger
im Sinne des §
12 SGB I ist, bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf sich überleiten könne. Im Weiteren wird auf den Antrag Bezug genommen.
Die Beklagte wertete den Antrag der Klägerin als Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 EStG und lehnte mit Bescheid vom 5. Februar 2001 den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie an, dass die Eltern des
Kindes ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht in Form von Betreuungs- und Sachleistungen nachkämen. Der hiergegen erhobene Einspruch
blieb ohne Erfolg. Die Beklagte hat die Zahlung von Kindergeld an die Kindesmutter, die Beigeladene, bis zum Abschluss des
Verfahrens zurückgestellt.
Die Klägerin hat Klage erhoben. Sie betont ausdrücklich, dass sie einen Abzweigungsantrag nicht gestellt habe. Sie habe gemäß
§ 90 BSHG einen Anspruch auf Kindergeld aus übergegangenem Recht, jedenfalls habe sie einen Anspruch auf Erstattung des Kindergeldes.
Es handele sich hier um einen Forderungsübergang, der durch schriftliche Anzeige bewirkt werde. Ihren Anspruch habe sie mit
Verwaltungsakt geltend gemacht. Dieser sei nicht angegriffen worden - weder von der Beklagten noch von der Beigeladenen -
und mithin bestandskräftig. Zumindest aber sei sie, die Klägerin, nach §
74 Abs.
2 EStG n. F. in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch - SGB X - erstattungsberechtigt. Die Voraussetzungen hierfür seien erfüllt, da das Kind zu einem monatlichen Kostenbeitrag aus seiner
Rente herangezogen werde. Sie begrenze ihren Anspruch auf den Zeitraum bis Dezember 2001, da aufgrund einer Gesetzesänderung
ab dem 1. Januar 2002 gemäß § 91 Abs. 2 BSHG Eltern von behinderten oder pflegebedürftigen volljährigen Kindern bei deren vollstationärer Betreuungsbedürftigkeit in Höhe
von EUR 26 monatlich zum Unterhalt heranzuziehen seien. Dieser Unterhaltsbeitrag sei von der Beigeladenen gezahlt worden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
ihr Kindergeld für das Kind Yves A... für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2001 auszuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Es handelt sich hier um eine ohne Vorverfahren zulässige - nicht fristgebundene - allgemeine Leistungsklage im Sinne des §
40 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -, gerichtet auf Auszahlung von Kindergeld, da zwischen den Leistungsträgern kein Über- und Unterordnungsverhältnis besteht,
das zu einer Entscheidung durch Verwaltungsakt berechtigen würde (vgl. Bundesfinanzhof - BFH - Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, Sammlung nicht amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2002, 1156). Es kommt daher nicht darauf an, ob die Beklagte im Vorverfahren bereits über den Antrag der Klägerin entschieden hat. Entscheidend
ist ausschließlich, dass sie bis jetzt eine Erstattung verweigert hat.
Die Beklagte hat die Erstattung des Kindergeldes für das Kind Yves A... für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2001 zu
Recht abgelehnt.
Das Kind Yves A... ist unstreitig als Kind im Sinne des §
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 EStG zu berücksichtigen. Die Klägerin hat jedoch keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten.
Ein Anspruch der Klägerin aus übergeleitetem Recht nach § 90 BSHG scheidet aus, da die Familienkasse Leistungsträger im Sinne von §
12 i.V.m. §
25 Abs.
1 und
3 SGB I ist. § 90 Abs. 1 BSHG betrifft nach seinem Wortlaut nur Ansprüche gegen einen anderen, der kein Leistungsträger im Sinne von §
12 SGB I ist. Die Familienkasse und der Sozialleistungsträger stehen gleichrangig nebeneinander (vgl. FG des Landes Brandenburg Urteil
vom 19. Juni 2002 6 K 981/01, EFG 2002, 1315).
Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf einen Erstattungsanspruch aus §
74 Abs.
2 EStG n. F. in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X berufen. Denn § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X finden keine Anwendung, da diese Gleichartigkeit der Leistungen voraussetzen, es sich bei den Leistungen von Sozialleistungsträger
und Familienkasse jedoch nicht um gleichartige Leistungen aufgrund der Art. der Ansprüche handelt (Finanzgericht - FG - Rheinland-Pfalz
Urteil vom 30. April 2002 - 2 K 1072/01, n.v.; Dienstanweisung, DA 74.3.1 Abs. 1, Bundessteuerblatt - BStBl. - I 2002, 365 (454)). Im Gegensatz zum Kindergeld, bei
dem es sich um eine allgemeine Leistung des Staates zum Ausgleich der wirtschaftlichen Belastung, die durch Kinder entsteht,
handelt, ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung zu mildern und den behinderten Menschen in die
Gesellschaft einzugliedern (Dienstanweisung, DA 74.3.1 Abs. 3, BStBl. I 2002, 365 (454)).
Ebenso kommt ein Erstattungsanspruch gemäß §
74 Abs.
2 EStG n.F. in Verbindung mit § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X nicht in Betracht. Danach ist Voraussetzung für eine Erstattung, dass gegenüber dem Kindergeldberechtigten oder dem Kind
selbst ein Kostenfestsetzungsbescheid erlassen oder Aufwendungsersatz geltend gemacht werden kann. Vorliegend fehlt es jedoch
an einem auf das Kindergeld bezogenen Kostenfestsetzungsbescheid oder Aufwendungsersatz. Die Klägerin hat gegenüber der Beigeladenen
keinen Kostenfestsetzungsbescheid erlassen. Der Aufwendungsersatz in Höhe der Rente des Kindes ist abzüglich eines Selbstbehaltes
an die Klägerin ausgezahlt worden. Nicht ausreichend ist für einen Erstattungsanspruch im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X - wie die Klägerin meint - das bloße Geltendmachen irgendeines Aufwendungsersatzes bzw. die Erhebung eines Kostenfestsetzungsbescheides.
Beide müssen ausdrücklich das Kindergeld als Anspruch dem Grunde und der Höhe nach beinhalten.
Denn die Regelung des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X stellt dem Wortlaut nach weniger einen Erstattungsanspruch dar als vielmehr eine Form der Vollstreckung durch Forderungsübergang.
Der Träger der Sozialleistung, der ansonsten die Pfändung des Kindergeldanspruchs betreiben müsste, kann auf Grund des durch
Verwaltungsakt festgesetzten Kostenbeitrages oder des geltend gemachten Aufwendungsersatzes von der Familienkasse die Auszahlung
des Kindergeldes verlangen. Danach entspricht die Rechtsposition des Sozialleistungsträgers im Rahmen des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X derjenigen eines Pfändungspfandgläubigers, wobei der den Kostenbeitrag festsetzende Verwaltungsakt bzw. der geltend gemachte
Aufwendungsersatz den für die Pfändung erforderlichen Titel ersetzt. § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X stellt mithin eine verkürzte Zwangsvollstreckung dar; funktional handelt es sich demzufolge um die Pfändung einer Sozialleistung
(so auch FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 22. November 2002 - 4 K 1903/01, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2003, 631; ebenso Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 22. Januar 1998 B 14/10 KG 24/96 R, SozR 3-1300 § 104 Nr. 13).
Wenn der Aufwendungsersatz wie im Streitfall nun nicht das Kindergeld beinhaltet, besteht für die Familienkasse daraus folgend
keine Leistungspflicht. Hinzukommt, dass der Aufwendungsersatz, der gegenüber der Rentenkasse in Höhe der Rente, abzüglich
des Selbstbehaltes, erhoben wurde mit Zahlung der Rente erfüllt ist, mithin für eine weitere Erstattung durch die Familienkasse
kein Raum mehr ist.
Im Übrigen ist nach Auffassung des erkennenden Senats die Formulierung des § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X, wonach "ein Kostenfestsetzungsbescheid erlassen oder Aufwendungsersatz geltend gemacht werden kann" dahingehend zu verstehen,
dass für den Erstattungsanspruch der tatsächliche Erlass eines Kostenfestsetzungsbescheides oder das tatsächliche Geltendmachen
eines Aufwendungsersatzes zwingend erforderlich ist. Die nur rechtliche Möglichkeit des Erlasses oder der Geltendmachung reicht
hingegen nicht aus. Denn mit dieser Vorschrift soll der Zahlungsweg abgekürzt werden - die direkte Zahlung von der Familienkasse
an den Sozialleistungsträger ohne Einschaltung des Kindergeldberechtigten soll ermöglicht werden. Wenn nun der Sozialleistungsträger
tatsächlich keine Forderung geltend macht, kann er auch keine Zahlung von Dritten erhalten. Darüber hinaus dient das Vorliegen
eines entsprechenden Leistungsbescheides sowohl der Rechtssicherheit als auch einem effektiven Rechtsschutz (so das BSG Urteil
vom 10. Dezember 2002 B 9 VG 6/01 R, RegNr. 25978 (BSG-Intern)).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO. Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.