Abzweigung des Kindergeldes an Sozialhilfeträger bei Heimunterbringung des schwerbehinderten Kindes und Erbringung von Unterhaltsleistungen
durch die Eltern; Rechtsmäßgkeit der Abzweigung des Kindesgeldes an der Sozialhilfeträger für die Kosten der Heimunterbringung
des Kindes, wenn Eltern daneben Unterhaltsleistungen erbringen; Überleitungsbescheid
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Beklagte das Kindergeld an die Beigeladene abzweigen durfte.
Der am 11. März 1956 geborene Sohn des Klägers, S. ist schwerbehindert und lebt vollstationär in einer Behinderteneinrichtung
in St. Die Kosten der Heimunterbringung werden von der Beigeladenen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 39 Abs. 1, 40 Abs. 1 Nr. 7 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) getragen. Die Beigeladene hat im Jahr 2001 monatlich 3.495,75 EUR aufgewendet (Heimunterbringung 3.373,20 EUR, Barbetrag
122,55 EUR). Zur Deckung der Kosten hat sie die Erwerbsunfähigkeitsrente von S. in Höhe von 682,74 EUR, den Kostenbeitrag
nach § 43 Abs. 1 BSHG in Höhe von 22,31 EUR und das Kindergeld in Höhe von 138 EUR erhalten. Nach Auskunft der Beigeladenen zahlte sie die Eingliederungshilfe
bereits seit Januar 1977 in ähnlicher Höhe.
Mit Bescheid vom 21. Juli 2000 setzte die beklagte Familienkasse Kindergeld für S. ab Januar 1997 fest und entschied gleichzeitig,
das Kindergeld in voller Höhe an die Beigeladene auszuzahlen, die die Auszahlung nach §
74 Abs.
1 Einkommensteuergesetz (
EStG) beantragt habe. Der gegen die Abzweigung des Kindergeldes eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung
vom 3. November 2000). Der Beklagte führte in der Einspruchsentscheidung aus, die Voraussetzungen für die Abzweigung des Kindergeldes
an die Beigeladene lägen vor, denn diese habe die Kosten für die Heimunterbringung getragen und die Eltern seien nicht zur
Kostenerstattung herangezogen worden. Die Abzweigung sei damit auch ermessensgerecht.
Dagegen richtet sich die Klage. Der Kläger ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Abzweigung nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG lägen nicht vor, denn diese setzte eine Verletzung der Unterhaltspflicht des Klägers im Sinne von §
74 Abs.
1 S. 1
EStG voraus. Die Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem Sohn ruhe jedoch, denn nach § 91 Abs. 2 Satz 2 Alternative 2 BSHG in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung sei ein Übergang des Unterhaltsanspruches gegenüber den Eltern wegen unbilliger
Härte ausgeschlossen, so dass er nicht zu den Kosten der Eingliederungshilfe herangezogen werde. Auch lägen die Voraussetzungen
des §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG nicht vor, denn er erbringe für S. ebenso wie für seine gleichfalls behinderte Tochter M.- weitere erhebliche Aufwendungen,
die dieser zur Lebensführung benötige und die nicht durch die vom Beigeladenen erbrachten Leistungen abgedeckt seien. So habe
er für S. Einrichtungsgegenstände für sein Zimmer im Heim gekauft. Er stelle S. ferner in seinem Elternhaus in G. ein eigenes
Zimmer zur Verfügung. S. komme in der Regel dreimal jährlich nach Hause, um den Kontakt mit den Eltern aufrecht zu erhalten.
Die Fahrten würden vom Kläger im eigenen Pkw durchgeführt. Außerdem mache der Kläger mit S. jährlich einen einwöchigen Radurlaub.
Dies werde allein vom Kläger finanziert. Ferner fielen Kosten für den zweimaligen Besuch von Elterntagungen an. Die jährlichen
Kosten allein hierfür lägen bei deutlich über 1000 DM. Zwar könnten die Kosten nicht exakt belegt werden, da ihre steuerliche
Relevanz nicht bekannt gewesen sei. Es müsse jedoch deutfich sein, dass die Aufwendungen erheblich höher seien als die vom
Kläger begehrten Kindergeldbeträge. Bei Unterhaltsleistungen in dieser Höhe sei die Anwendung von §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG ausgeschlossen, so dass auch eine Abzweigung nach §
74 Abs.
1 S. 4
EStG nicht zulässig sei. Auf die vom Beklagten aufgeworfene Frage, ob die Leistungen des Klägers nur einen geringen Bruchteil
der Aufwendungen des Sozialhilfeträgers ausmachten, komme es nicht an.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Abzweigung des Kindergeldes vom 21. Juli 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. November
2000 aufzuheben und das Kindergeld für S. für den Zeitraum Januar 1997 bis Dezember 2001 an den Kläger auszuzahlen.
Der Beklagte beantragt
Klageabweisung und verweist zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet. Gegen die vom Beklagten vorgenommene Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 S. 4
EStG bestehen keine rechtlichen Bedenken.
1. Nach §
74 Abs.
1 S. 4
EStG kann die Auszahlung von Kindergeld auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt. Damit soll sichergestellt
werden, dass öffentliche oder private Einrichtungen, die im Hinblick auf die Unterhaltspflicht an die Stelle des Kindergeldberechtigten
treten, durch die Auszahlung des Kindergeldes einen gewissen finanziellen Ausgleich erhalten können (Seewald/Felix, Kindergeld,
EStG §
74 Rz. 22). Unstreitig hat die Beigeladene dem Sohn S. Unterhalt gewährt.
a) In der Rechtsprechung der Finanzgerichte ist es umstritten, ob die Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG - neben dem Tatbestand der Unterhaltsgewährung durch den Dritten - zusätzlich voraussetzt, dass der Kindergeldberechtigte
nach §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG dem Kind gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt bzw. der Kindergeldberechtigte gemäß §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG mangels Leistungsfähigkeit nach §
1603 Abs.
1 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) nicht unterhaltspflichtig ist (so z.B. FG Nürnberg, Urteil vom 5. Juni 2003 IV 433/2002, EFG 2003, 1396, Revision beim BFH unter Az. VIII R 58/03 anhängig; FG Hamburg, Urteil vom 6. Mai 2002 I 498/98, DStRE 2003, 22; ebenso Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs - DA FamEStG; BStBl. I 2002, 365 - unter DA 74.1.1
Abs. 1) oder ob die Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 Sätze 1 bis 3
EStG für die Abzweigung nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG nicht vorliegen müssen und es lediglich auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung durch den Dritten ankommt (so FG München,
Urteile vom 28. Januar 2003 12 K 1690/02, EFG 2003, 1023 und 12 K 2112/02, EFG 2003, 1715, Revision beim BFH unter Az. VIII R 21/03 anhängig). Im Streitfall kommt es auf diese Frage jedoch nicht entscheidend an; denn auch wenn man davon ausgeht, §
74 Abs.
1 S. 4
EStG setze voraus, dass einer der Tatbestände des §
74 Abs.
1 S. 1 bis 3
EStG vorliegt, wäre die Entscheidung des Beklagten rechtmäßig. Der Tatbestand des §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG liegt auch dann vor, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht teilweise nicht nachkommt (Seewald/ Felix, Kindergeld,
EStG §
74 Rz. 22). Der Kläger ist seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem Sohn S. wenn überhaupt, dann nur in einem verhältnismäßig
geringen Umfang nachgekommen, denn der Unterhaltsanspruch des Sohnes umfasst nach §
1610 Abs.
2 BGB seinen gesamten Lebensbedarf. Dazu zählen auch Mehraufwendungen zum Ausgleich gesundheitlicher Fehlentwicklungen einschließlich
der Kosten der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (vgl. Palandt/Diederichsen,
BGB, 63. Auflage, §
1610 Rz. 11). Diese nach bürgerlichem Recht vom Kläger zu tragenden Unterhaltsaufwendungen hat zum ganz überwiegenden Teil die
Beigeladene erbracht, ohne auf den Kläger Rückgriff zu nehmen. Die vom Kläger vertretene Auffassung, die Unterhaltsansprüche
von S. gegenüber ihm würden wegen der Regelung in § 91 Abs. 2 Satz 2 Alternative 2 BSHG ruhen, trifft nicht zu. Die Härteregelung des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG schließt einen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch nicht aus, sondern setzt diesen denklogisch voraus (vgl. Bundesgerichtshof
- BGH - Urteil vom 23. Juli 2003 XII ZR 339/00, FamRZ 2003, 1468). Die Norm hat daher keine Auswirkung auf die bestehende Unterhaltsverpflichtung der Eltern. Da der Kläger seiner Unterhaltsverpflichtung
gegenüber seinem Sohn somit nicht nachgekommen ist, ist der Tatbestand des §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG, der keine schuldhafte Verletzung der Unterhaltspflicht voraussetzt, erfüllt.
Ebenso fehl geht der Hinweis des Klägers, er habe Unterhalt mindestens in Höhe des Kindergeldes geleistet, so dass §
74 Abs.
1 Satz 3 Alternative 2
EStG nicht erfüllt sei. §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG ist eine Sonderregelung, die nur zur Anwendung kommt, wenn der Kindergeldberechtigte nach §
1603 Abs.
1 BGB wegen fehlender Leistungsfähigkeit zivilrechtlich nicht zum vollen Unterhalt verpflichtet ist und er nur aus diesem Grund
keinen vollen Unterhalt leistet (Seewald/Felix, Kindergeld,
EStG §
74 Rz. 22). Es wird im Streitfall weder behauptet noch ist es aus den Akten ersichtlich, dass sich der Kläger deshalb nicht
an den Heimkosten beteiligt, weil er dazu finanziell nicht in der Lage und deshalb zivilrechtlich insoweit nicht unterhaltspflichtig
wäre. Damit ist nicht §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG, sondern §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG in Verbindung mit §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG einschlägig, der eine dem §
74 Abs.
1 Satz 3 Alternative 2
EStG entsprechende Einschränkung nicht enthält.
b) Die Entscheidung des Beklagten, das Kindergeld an den Beigeladenen abzuzweigen, ist auch nicht ermessensfehlerhaft. Auch
wenn man es als richtig unterstellt, dass dem Kläger Aufwendungen für seinen Sohn S. entstanden sind - was er der Höhe nach
weder beziffern noch belegen kann -, so steht es jedenfalls fest, dass diese nur einen kleinen Teil der Kosten darstellen,
die die Beigeladene aufwendet. Unter diesen Umständen stünde eine Belassung des Kindergeldes beim Kläger einer Doppelvergünstigung
gleich, die mit der Zielsetzung staatlicher Unterstützungsleistungen nicht zu vereinbaren ist. In diesem Fall ist von einer
Ermessensreduzierung der Familienkasse auf Null auszugehen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).