Sozialhilferecht: Keine Nachrangigkeit von Sozialhilfeansprüchen bei vorliegender Verpflichtungserklärung zur Haftung für
den Lebensunterhalt eines Ausländers
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig und überwiegend begründet. Der Antragsteller hat einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf
Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit ab Eingang des Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung beim
Verwaltungsgericht sowie die Dringlichkeit einer gerichtlichen Eilentscheidung glaubhaft gemacht (vgl. §
123 Abs.
3 VwGO i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO). Bis zum 31.10.1993 kann er allerdings nur das zum Lebensunterhalt Unerläßliche verlangen.
Soweit der Antrag die Zeit vor dem 03.08.1993 betrifft (vgl. Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers vom
17.08.1993, S. 31 der Verwaltungsgerichtsakten), fehlt es hingegen schon am Anordnungsgrund. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Senats (vgl. z. B. Beschluß v. 25.08.1993 - 6 S 1522/93 -) kommt es für die Dringlichkeit einer gerichtlichen Eilentscheidung immer auf einen Zeitpunkt nach Antragseingang beim
Gericht an; daher kann vorläufiger Rechtsschutz für zurückliegende Zeiträume nicht gewährt werden.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers dahin ausgelegt, daß dieser vorläufig laufende Hilfe zum Lebensunterhalt
ab 28.06.1993 bis drei Monate nach Eingang seines Antrages bei Gericht begehre. In der Beschwerdebegründung nennt der Antragsteller
hingegen ausdrücklich einen Zeitraum bis zur Entscheidung über seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom "29.07.1993" (richtig
muß es heißen: 30.07.1993). Es kann aber offenbleiben, ob das Verwaltungsgericht das Begehren des Antragstellers richtig ausgelegt
hat und ob der Antragsteller dementsprechend nunmehr Sozialhilfe für einen längeren Zeitraum begehrt als im Verfahren des
ersten Rechtszuges. Denn auch wenn dies der Fall wäre, würde es sich um eine bloße Erweiterung des Antrages im Sinne von §
173 VwGO i.V.m. §
264 Nr. 2
ZPO handeln, die nicht als Antragsänderung anzusehen wäre. Der Senat begrenzt jedoch in ständiger Rechtsprechung die durch einstweilige
Anordnung vorläufig zu gewährende Hilfe zum Lebensunterhalt auf ein halbes Jahr (vgl. z. B. Beschluß v. 20.09.1993 - 6 S 1727/93 -). Der durch einstweilige Anordnung zu regelnde Zeitraum endet daher am 27.12.1993, da der Antragsteller Sozialhilfe ab
28.06.1993 begehrt. Entsprechend dem Antrag des Antragstellers im Beschwerdeschriftsatz vom 22.09.1993 endet der Zeitraum
der vorläufigen Hilfegewährung jedoch bereits vor dem 27.12.1993, wenn die Widerspruchsbehörde schon zuvor über den Widerspruch
gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30.07.1993 entscheidet (vgl. §
88 VwGO).
In dem von dem Senat sonach zu beurteilenden Zeitraum hat sich die Rechtslage geändert. Seit 01.11.1993 gilt das Gesetz zur
Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber vom 30.06.1993 (BGBl. I, S. 1074). Durch Art. 1 dieses Gesetzes wurde das
Asylbewerberleistungsgesetz -
AsylbLG - geschaffen, und durch Art. 2 des Gesetzes wurde § 120 BSHG geändert. Demnach ist der Zeitraum bis zum 31.10.1993 nach der alten und der Zeitraum ab 01.11.1993 nach der neuen Rechtslage
zu beurteilen.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 BSHG alter und neuer Fassung ist Ausländern, die sich in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich aufhalten, unter anderem Hilfe
zum Lebensunterhalt zu gewähren. Wer sich jedoch in die Bundesrepublik Deutschland begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen,
hat nach beiden Gesetzesfassungen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Auf diesen Ausschlußtatbestand hat sich die Antragsgegnerin
nicht berufen, und für dessen Vorliegen bestehen auch keine Anhaltspunkte.
§ 120 Abs. 2 BSHG n. F. bestimmt weiter, daß Leistungsberechtigte nach §
1 AsylbLG keine Leistungen der Sozialhilfe erhalten. Es kann hier offenbleiben, ob der Antragsteller als geduldeter Ausländer Leistungsberechtigter
nach §
1 AsylbLG ist. Auch wenn dies der Fall sein sollte, wäre nämlich das BSHG abweichend von den §§
3 - 7
AsylbLG entsprechend auf ihn anzuwenden (vgl. §
2 Abs.
1 Nr.
2 AsylbLG). Unerheblich ist ferner, daß die Durchführung des
AsylbLG in Baden-Württemberg grundsätzlich den Landratsämtern und in den Stadtkreisen den Gemeinden als unteren Aufnahmebehörden
obliegt (vgl. §§
1 und
2 der Verordnung der Landesregierung über Zuständigkeiten und Kostenträgerschaft nach dem
AsylbLG - AsylbLGZuVO - vom 02.11.1993, GBl. 1993, S. 655). Die Antragsgegnerin ist damit zwar keine Aufnahmebehörde. Für den Antragszeitraum
hat dies aber deshalb keine rechtlichen Konsequenzen, weil § 5 AsylbLGZuVO eine Übergangsregelung trifft. Soweit am 01.11.1993
- wie hier - Aufgaben des örtlichen Trägers der Sozialhilfe kreisangehörigen Gemeinden übertragen sind, nehmen diese die den
Landratsämtern nach der AsylbLGZuVO obliegenden Aufgaben bis zum 31.12.1993 wahr, sofern nicht das Landratsamt diese Aufgaben
selbst wahrnimmt. Die Verlautbarung, mit der das Landratsamt die Übernahme dieser Aufgaben erklärt, ist öffentlich bekanntzumachen
(vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 AsylbLGZuVO). Hieran fehlt es bisher.
Der Antragsteller muß sich von der Antragsgegnerin während des gesamten Antragszeitraumes auch nicht den Grundsatz des Nachranges
der Sozialhilfe (vgl. § 2 Abs. 1 BSHG) entgegenhalten lassen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann er sich nicht dadurch selbst helfen, daß er
sich an Herrn I. K. wendet, der sich durch schriftliche Erklärung vom 11.06.1993 gegenüber der Ausländerbehörde München unwiderruflich
verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt des Antragstellers während der Dauer dessen Aufenthalts in der Bundesrepublik
Deutschland zu tragen (vgl. S. 2 der Behördenakten). Der Antragsteller trägt glaubhaft vor, er habe von Herrn I. K. bisher
tatsächlich keine Leistungen erhalten. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B. Urt. v. 29.04.1992 - 6 S 1886/90 -) steht es allerdings nicht im Belieben eines Hilfesuchenden, zwischen der Selbsthilfe und der Inanspruchnahme der Sozialhilfe
zu wählen. Zur Selbsthilfe gehört unter anderem auch die Verwirklichung von Forderungen, die dem Hilfesuchenden zustehen -
unter der Voraussetzung, daß sie in angemessener Zeit durchzusetzen sind, weil es für die Gewährung von Sozialhilfe auf die
tatsächliche Lage und für die Behebung der Notlage auf "bereite Mittel" ankommt. Eine solche Forderung hat der Antragsteller
gegen Herrn I. K. aber nicht. Aus der Verpflichtungserklärung vom 11.06.1993 kann der Antragsteller selbst keine Ansprüche
herleiten. Diese ist ihrem Wortlaut nach eine Verpflichtungserklärung nach § 84 Abs. 1 und 2 AuslG. Sie begründet einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch, der der Behörde zusteht, die die öffentlichen Mittel für
den Lebensunterhalt aufgewendet hat (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 AuslG). Ein Anspruch des Ausländers selbst, für den die Verpflichtungserklärung abgegeben wird, wird hierdurch aber nicht begründet.
Vielmehr muß die Behörde sich wegen der Erstattung der Sozialhilfemittel mit dem durch die Erklärung Verpflichteten auseinandersetzen,
notfalls auch mit Mitteln der Zwangsvollstreckung (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 2 AuslG).
Es ist von der Antragsgegnerin auch weder vorgetragen noch für den Senat ersichtlich, daß der Antragsteller gegen Herrn K.
Unterhaltsansprüche hätte, die auf bürgerlichem Recht beruhen. Weitere Bedenken gegen das Bestehen eines Sozialhilfeanspruches
hat die Antragsgegnerin selbst nicht geltend gemacht. Auch der Senat hat hierfür keine Anhaltspunkte.
Bis zum 31.10.1993 hat der Antragsteller aber keinen Anordnungsanspruch auf Gewährung der ungekürzten Regelsatzhilfe glaubhaft
gemacht. Gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 BSHG a. F. ist auch zur Ausreise verpflichteten Ausländern, deren Aufenthalt - wie im Falle des Antragstellers - aus den in §
120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BSHG a. F. genannten Gründen geduldet wird, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Nach § 120 Abs. 2 Satz 4 BSHG a. F. kann die Hilfe auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche eingeschränkt werden mit der Folge, daß sich bei Vorliegen
der tatbestandlichen und persönlichen Voraussetzungen des § 120 Abs. 2 Satz 1 BSHG a. F. der Anspruch des Hilfeempfängers auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche reduziert und für den darüber hinaus bestehenden
Bedarf lediglich ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung besteht (einhellige Ansicht, vgl. z. B. Beschluß des Senats
vom 20.09.1993 a.a.O. m.w.N.). In einem Hauptsacheverfahren führt dies dann nur zu einem sogenannten Bescheidungsurteil nach
§
113 Abs.
5 Satz 2
VwGO. In einem Verfahren nach §
123 VwGO besteht bei dieser Sachlage ein Anordnungsanspruch auf vorläufige Leistung der ungekürzten Regelsatzhilfe, also auf mehr
als die im Hauptsacheverfahren erreichbare Neubescheidung, nicht schon dann, wenn die Behörde ermessensfehlerhaft gehandelt
hat. Es muß hier zusätzlich überwiegend wahrscheinlich sein, daß die Behörde die begehrte Leistung bei fehlerfreier Ermessensausübung
tatsächlich gewähren müßte oder würde (st. Rspr. des beschließenden Senats, vgl. Beschluß v. 20.09.1993 a.a.O.). Dies ist
hier nicht überwiegend wahrscheinlich, da nicht abzusehen ist, welches Ergebnis eine an der konkreten Bedarfslage des Antragstellers
ausgerichtete, auf § 120 Abs. 2 Satz 4 BSHG a. F. gestützte Ermessensentscheidung haben wird. Eine endgültige Klärung kann insoweit nur in einem Hauptsacheverfahren
erfolgen. Bei dieser Sachlage hält es der Senat für angemessen, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben,
dem Antragsteller vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 80 % des für den Antragsteller maßgeblichen Regelsatzes
für Haushaltsvorstände und Alleinstehende zu gewähren; Kürzungen in diesem Umfang hat der Senat in Fällen der vorliegenden
Art regelmäßig als unbedenklich angesehen (vgl. z. B. wiederum Beschluß v. 20.09.1993 a.a.O.).
§ 120 BSHG n. F. enthält hingegen keine solche Kürzungsmöglichkeit mehr. Insoweit verbleibt es ab 01.11.1993 bei einem Anspruch auf
ungekürzte Regelsatzhilfe.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er trägt vor, er habe noch keine Arbeit gefunden und sei
dringend auf Sozialhilfe angewiesen; derzeit erhalte er lediglich Spenden von Bekannten, die aber nicht ausreichten. Der Senat
hat keine Anhaltspunkte dafür, daß dieser Vortrag nicht zuträfe.
Die Verpflichtung zur Gewährung der Sozialhilfe in der Form eines rückforderbaren Darlehens entspricht dem Sicherungszweck
der einstweiligen Anordnung (st. Rspr. des Senats, vgl. z. B. Beschluß v. 12.05.1993 - 6 S 1009/93 -).