Sozialhilfebedürftigkeit als Folge der Unterhaltspflicht
Tatbestand:
Die 1939 geborene Klägerin und der 1909 geborene Beklagte sind seit 1983 in kinderloser Ehe verheiratet. Der Beklagte wurde
pflegebedürftig und lebt seit Oktober 1986 in einem Heim. Die Kosten der Heimpflege betragen monatlich 2.687, 05 DM, während
seine monatliche Rente der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte sich nur auf 2. 530,06 DM beläuft. Für Fehlbeträge kommt
der Sozialhilfeträger auf, der dem Beklagten auch ein monatliches Taschengeld von 182, 25 DM zahlt. Im Frühjahr 1987 lehnte
es die Klägerin ab, den Beklagten wieder bei sich aufzunehmen; sie besuchte diesen im Heim auch nicht. Seit Oktober des Jahres
gehen beide Parteien davon aus, voneinander getrennt zu leben.
Bis November 1987 wurde der Lebensunterhalt der Klägerin aus der Rente des Beklagten bestritten. Nachdem der Beklagte den
Sozialhilfeträger von dem Getrenntleben der Parteien unterrichtet hatte, veranlaßte dieser aufgrund von § 104 SGB-X, daß die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die volle Rente des Beklagten direkt an ihn überwies. Die Klägerin beantragte daraufhin
ihrerseits Sozialhilfe, die ihr ab 10. Dezember 1987 in Höhe von monatlich 1. 034,40 DM bewilligt wurde.
Mit der Klage verlangt die Klägerin vom Beklagten die Zahlung von Trennungsunterhalt in Höhe von monatlich 1. 227, 89 DM ab
16. Januar 1988. Das Amtsgericht - Familiengericht - hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist veröffentlicht in FamRZ 1989, 1302. Mit der - zugelassenen - Revision verfolgt die Klägerin ihren Unterhaltsanspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, weil ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gemäß §
1361
BGB an der Leistungsunfähigkeit des Beklagten scheitert.
Der betagte Beklagte bedarf nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts auf Dauer der Pflege in einem Heim. Da seine Renteneinkünfte
voll von dem Träger der Sozialhilfe vereinnahmt werden, kann lediglich gefragt werden, ob es ihm unterhaltsrechtlich obliegt,
durch geeignete Schritte gegenüber dem Sozialhilfeträger oder der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wenigstens einen
Teil seiner Rente für den Unterhalt der Klägerin abzuzweigen. Träfe ihn eine solche Obliegenheit, wäre ihm ein entsprechendes
fiktives Einkommen zuzurechnen, das seine Leistungsfähigkeit jedenfalls teilweise begründen könnte. Zu den unterhaltsrechtlich
relevanten Einkünften gehören auch Beträge, die der Unterhaltsverpflichtete zumutbarerweise einziehen könnte, aber nicht einzieht
(vgl. etwa Senatsurteil vom 28. März 1984 - IVb ZR 53/82 - NJW 1984, 1614, 1615 m.w.N.). Die Revision macht dementsprechend geltend, der Beklagte habe nach den Vorschriften des BSHG einen Anspruch darauf, daß ihm von seinem Renteneinkommen ein Betrag belassen werde, der zur Befriedigung des Unterhaltsanspruchs
der Klägerin ausreiche. Es müsse ihm angelastet werden, daß er diesen Anspruch nicht realisiert habe.
Das Oberlandesgericht, das diese Frage geprüft hat, geht davon aus, daß sich der Beklagte "Freibeträge" gemäß § 81 Abs. 1
BSHG in Höhe von monatlich 1. 214 DM habe verschaffen können. Da er die Klägerin bis November 1987 überwiegend unterhalten habe,
verstoße der Sozialhilfeträger durch die volle Heranziehung seiner Rente gegen § 85 Nr. 3 Satz 2 BSHG. Ihm sei jedoch nicht zuzumuten, sich diese Freibeträge zu erstreiten, weil er dadurch nur selbst in erhöhtem Maße sozialhilfebedürftig
würde. Unterhaltsrechtlich könne es ihm nicht verwehrt werden, sein Renteneinkommen voll zur Deckung des eigenen notwendigen
Bedarfs zu verwenden, der diese Einkünfte noch übersteige. Es liege auch kein zwingender Grund dafür vor, nicht die unmittelbar
hilfsbedürftige Klägerin auf Sozialhilfe zu verweisen, sondern ihm selbst, der sonst zum wesentlichen Teil mit seiner Rente
für die Deckung seines Bedarfs aufkommen könne.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision stand.
Der Monatsbetrag, der dem Beklagten von seiner Rente nach den Vorschriften des BSHG hätte belassen werden können, ist bei genauer Betrachtung nicht einmal so hoch, wie das Oberlandesgericht annimmt. Für ihn,
der im Sinne von § 81 Abs. 1 Nr. 5
BSHG voraussichtlich auf Dauer in einem Heim gepflegt werden muß, gilt nicht die allgemeine Einkommensgrenze des § 79
BSHG, sondern ein fester Grundbetrag nach der Spezialvorschrift des § 81 Abs. 1
BSHG, der bis 30. Juni 1988 monatlich 1. 179 DM betrug und seit 1. Juli 1988 monatlich 1. 214 DM (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp
BSHG 13. Aufl. § 82 Rdn. 7). Wie die Revision nicht in Zweifel zieht, konnte der Sozialhilfeträger das über dieser Grenze liegende Renteneinkommen
des Beklagten voll für die Heimkosten heranziehen, da für "besondere Belastungen" im Sinne von § 84 Abs. 1 Satz 2 BSHG keine Anhaltspunkte vorliegen. Inwieweit das Einkommen unterhalb dieser Grenze herangezogen werden kann, bestimmt sich nach
§ 85
BSHG. Gemäß Nr. 3 Satz 1 der Vorschrift kann ein Betrag in Anspruch genommen werden, der der Ersparnis von Aufwendungen für den
häuslichen Lebensunterhalt entspricht. In der Praxis werden hierfür bis zu 80% des für den Untergebrachten maßgebenden Regelsatzes
angesetzt (vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp aaO. § 85 Rdn. 14; Krahmer ZfSH/SGB 1984, 353, 357). 80% des für den Beklagten maßgebenden Regelsatzes, der in Nordrhein-Westfalen ab 1. September 1988 monatlich 414 DM
betrug (vgl. Kalthoener/Büttner, Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts 4. Aufl. Rdn. 42 Fn. 38), machen 331, 20 DM aus. Etwa
in Höhe dieses Betrages konnte der Sozialhilfeträger somit ermessensfehlerfrei auch das Einkommen des Beklagten unterhalb
der Grenze des § 81 Abs. 1
BSHG heranziehen. Weiterhin steht einem Hilfeempfänger in der Lage des Beklagten ein Barbetrag für persönliche Bedürfnisse (Taschengeld)
zu (§§ 21 Abs. 3, 27 Abs. 3
BSHG), der dem Beklagten vorliegend in Höhe von monatlich 182,25 DM vom Sozialhilfeträger ausbezahlt wird. Wegen dieses Betrages
konnte nach den hier gegebenen Umständen gemäß § 29 Satz 2 BSHG ebenfalls auf die Rente des Beklagten unterhalb der Einkommensgrenze zurückgegriffen (vgl. Krahmer aaO. S. 358, 360). Es
verbleiben danach von dem Grundbetrag des § 81 Abs. 1
BSHG rund 700 DM. Eine weitere Schmälerung dieses Betrags kommt nur unter den Voraussetzungen des § 85 Nr. 3 Satz 2 BSHG in Betracht. Die Anwendung dieser Vorschrift scheidet aus, solange der Sozialhilfeempfänger "einen anderen überwiegend unterhält"
(vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp aaO. § 85 Rdn. 24; Knopp/Fichtner BSHG 6. Aufl. § 85 Rdn. 7; Krahmer aaO. S. 357; Jehle ZfSH 1965, 157, 158). Sie ist auf Alleinstehende zugeschnitten, die dauernder Pflege in
einem Heim bedürfen. Der dadurch sehr weitgehend ermöglichte Zugriff auf Einkünfte soll auch verhindern helfen, daß Betroffene
in zu starkem Maße aus der häuslichen Obhut in Heime abgedrängt werden (Krahmer aaO.).
Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts hat der Beklagte die Klägerin bis November 1987 im wesentlichen aus - seiner
Rente unterhalten.
Für die Anwendung des § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG kommt es nicht auf eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung zur Unterhaltsleistung an, sondern allein darauf, daß tatsächlich
Unterhalt geleistet worden ist und der Empfänger seinen Unterhaltsbedarf mehr als zur Hälfte aus diesen Leistungen bestritten
hat (vgl. Knopp/Fichtner aaO. § 85 Rdn. 7 i.V. mit § 79 Rdn. 12). Im vorliegenden Fall könnte nur zweifelhaft sein, ob noch
von den Voraussetzungen der Vorschrift hätte ausgegangen werden können, wenn der Beklagte bei der Unterrichtung des Sozialhilfeträgers
über das Getrenntleben der Parteien auch die Absicht geäußert hätte, Unterhaltsleistungen an die Klägerin künftig einzustellen
(vgl. den gesetzlichen Wortlaut "solange").
Das kann jedoch auf sich beruhen. Im Prozeß hat sich der Beklagte jedenfalls auf den Boden der ihm offenbar im Rahmen des
§ 8 Abs. 2
BSHG erteilten Rechtsauskunft der Sozialbehörde gestellt, wonach er nicht mehr in der Lage ist, Unterhaltsansprüche der Klägerin
zu befriedigen. Dadurch hat er sich auch dafür entschieden, seine Renteneinkünfte voll für die Kosten seiner Heimunterbringung
einzusetzen und Rechte aus § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG zugunsten der Klägerin nicht (mehr) geltend zu machen. Diese Entscheidung ist nach den hier gegebenen Umständen unterhaltsrechtlich
zu respektieren. Würde ihm nämlich der nach der genannten Vorschrift allenfalls durchsetzbare "Freibetrag" von monatlich rund
700 DM gewährt und setzte er ihn zur (teilweisen) Deckung des Unterhalts der Klägerin ein, müßte der Sozialhilfeträger den
gleichen Betrag aus öffentlichen Mitteln für die Heimkosten aufbringen. Der Beklagte würde also durch die Unterhaltsleistung
an die Klägerin selbst in erhöhtem Maße sozialhilfebedürftig. Ihn dazu zu zwingen wäre aber - insoweit teilt der Senat die
Auffassung des Bundessozialgerichts (vgl. FamRZ 1985, 379, 380) - mit dem
Grundgesetz nicht vereinbar, da seine Menschenwürde (Art.
1 Abs.
1
GG) und das Sozialstaatsgebot (Art.
20 Abs.
1
GG) angetastet würden. Jede Unterhaltspflicht findet dort ihre Grenze, wo dem Betroffenen nicht die Mittel für den eigenen notwendigen
Lebensbedarf verbleiben. Diese Opfergrenze, der sog. Selbstbehalt, wird allgemein etwas über dem Sozialhilfebedarf des in
Anspruch Genommenen angesetzt (vgl. Senatsurteil vom 28. März 1984 aaO.). Im Falle des Beklagten, der pflegebedürftig und
auf Dauer in einem Heim untergebracht ist, liegt der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt danach nicht unter den dafür erforderlichen
Kosten. Seine Renteneinkünfte erreichen insgesamt nicht einmal diese Kosten. Damit kann die Klägerin keinen Unterhalt von
ihm beanspruchen.