Unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Empfängers von Sozialleistungen; Voraussetzungen des anrechnungsfreien Hinzuverdienens
Gründe
I.
Das antragstellende Kind (…..1995) ist der Sohn der Antragsgegnerin (…..1967); es lebt seit Oktober 2009 beim Vater und wird
von diesem gesetzlich vertreten. Bis Februar 2009 befand sich das Kind im Haushalt der Antragsgegnerin, bevor es in ein Jugendheim
wechselte, polizeilich jedoch noch bei der Mutter gemeldet blieb. Ab Oktober 2009 ist der Antragsteller unter der väterlichen
Anschrift gemeldet.
Die Antragsgegnerin bezieht durchgehend Leistungen nach dem SGB II. Sie hat die Sonderschule besucht, diese jedoch nicht abgeschlossen.
Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist ebenfalls nicht vorhanden. Mit 20 Jahren hat die Antragsgegnerin ihr erstes Kind
bekommen (sie hat von 1986 bis 1999 mit dem Vater des Antragstellers zusammengelebt und mit diesem zwei weitere – ältere –
Kinder) und danach nicht mehr versicherungspflichtig gearbeitet. Aktuelle Arbeitsbemühungen wurden in geringem Umfang belegt
(insgesamt 20 Anfragen), die ausnahmslos auf den 16.12.2009 datieren (vgl. dazu den "Nachweis von Eigenbemühungen" Gerichtsakte
– GA – Bl. 42 f.).
Die Antragsgegnerin geht seit dem 01.03.2009 jeden Tag – auch an Wochenenden – für die Dauer von jeweils 3 bis 4 Stunden einer
Tätigkeit als Haushaltshilfe bei der (behinderten) Schwester ihres jetzigen Freundes nach. Sie bezieht dafür eine Entlohnung
von monatlich 150 € ("mehr darf ich von der ARGE nicht verdienen"); eine Meldung zur Minijob-Zentrale der Deutschen Rentenversicherung
ist erfolgt (siehe dazu GA Bl. 66.).
Das Amtsgericht hat die Antragsgegnerin zur Zahlung des Mindestunterhalts ab Wirksamwerden der Entscheidung verpflichtet.
Es hat die Antragsgegnerin für grundsätzlich leistungsunfähig erachtet, ist jedoch im Hinblick auf § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr.
7 SGB II davon ausgegangen, dass die Antragsgegnerin ohne Anrechnung auf die bezogenen Sozialleistungen titulierten Kindesunterhalt
hinzuverdienen könne. Letzteres sei ihr – ab Wirksamwerden der Entscheidung - möglich und zumutbar.
Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Antragsgegnerin ihren erstinstanzlichen Abweisungsantrag weiter. Die Möglichkeit anrechnungsfreien
Hinzuverdienstes bestehe lediglich dann, wenn eine Unterhaltsverpflichtung bereits bei Beginn des Bezuges der Sozialleistungen
tituliert gewesen sei.
Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Die – zulässige – Beschwerde hat Erfolg.
Anspruchsgrundlage für den beanspruchten Kindesunterhalt sind die §§
1601 ff.
BGB.
Die Antragsgegnerin ist angesichts ihrer beruflichen Biografie nicht leistungsfähig, den geforderten und vom Amtsgericht titulierten
Mindestunterhalt zu zahlen, auch nicht anteilig. Sie müsste monatlich 1.905 € brutto verdienen, was einem Stundenlohn von
11,10 € entspricht, um monatlich netto bereinigt 1.234 € erzielen und mithin den titulierten Unterhalt von derzeit 334 € (=
426 – 92 €) zahlen zu können (vgl. Schürmann in FamRZ 2010, 423). Solche Einkünfte kann die Antragsgegnerin auch nicht annähernd erzielen, wie es auch das Amtsgericht erkannt hat. Nach
den Erfahrungen des Senats aus anderen Unterhaltsverfahren erscheint ein Stundenlohn von brutto mehr als 7,50 € für Frauen
mit vergleichbaren Voraussetzungen unrealistisch; in jüngster Zeit sind ihm bereits Fälle bekannt geworden, in denen nachweislich
6,00 € als Bruttostundenlohn gezahlt wurden. Angesichts der besonders ungünstigen persönlichen Voraussetzungen – unzulängliche
Schulausbildung, fehlende Berufsausbildung und -erfahrung – schätzt er den für die Antragsgegnerin erzielbaren Stundenlohn
auf allenfalls 6,50 € und das bereinigte Monatsnettoeinkommen auf etwa 800 €. Im Reinigungsgewerbe beläuft sich der tarifliche
Stundenlohn derzeit zwar auf brutto 8,55 €; in diesem Bereich, der für die Antragsgegnerin in Betracht kommen könnte, werden
aber ganz überwiegend Teilzeitkräfte beschäftigt. Auf die fehlenden bzw. nicht hinreichenden Erwerbsbemühungen kommt es bei
dieser Sachlage nicht entscheidend an, da diese nicht ursächlich für die fehlende Leistungsfähigkeit sind. Im Senatstermin
ist streitig geworden, ob die Antragsgegnerin mit einem Partner eheähnlich zusammenlebt. Diese Frage muss der Senat allerdings
nicht aufklären. Denn die Zurechnung eines Versorgungsentgelts für den Fall, dass die Antragsgegnerin ihrem jetzigen Freund
den Haushalt führen sollte, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. In der zur Haushaltsführung erforderlichen Zeit könnte
die Antragsgegnerin nämlich keine Erwerbseinkünfte erwirtschaften, so dass sich kein höheres monatliches Nettoeinkommen ergibt.
Bei einem Zusammenleben wäre zwar der Selbstbehalt von 900 € abzusenken (BGH NJW 2008, 1373 f. = FamRZ 2008, 594 f.). Der Antragsgegnerin müssen aber jedenfalls 800 € für ihren eigenen notwendigen Unterhalt verbleiben. Die Kostenersparnis
durch das Zusammenleben wirkt sich bei jedem Partner nur zur Hälfte aus und kann auf etwa 100 € geschätzt werden (BGH NJW
2010, 1665 f. = FamRZ 2010, 802 f. Rn. 28). Wie ausgeführt, können der Antragsgegnerin angesichts ihrer schlechten persönlichen Voraussetzungen aber nicht
mehr als 800 € zugerechnet werden.
Danach ist allein entscheidend, ob es der Antragsgegnerin gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II möglich ist, titulierten Kindesunterhalt
ohne Anrechnung des entsprechenden Einkommens auf die bezogenen Sozialleistungen hinzuzuverdienen, was angesichts des titulierten Betrages von 334 € schon durch
die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung möglich wäre. Dass die Antragsgegnerin eine solche Tätigkeit ausüben kann,
zeigt der Umstand, dass sie für die Schwester ihres Lebensgefährten Haushaltshilfeleistungen über 3 bis 4 Stunden täglich
erbringt; jedenfalls im Verhältnis zum Antragsteller obliegt es der Antragsgegnerin zur Sicherung des Mindestunterhalts auch,
solche Leistungen nicht quasi unentgeltlich zu erbringen, sondern vielmehr sich diese angemessen entlohnen zu lassen.
Das Amtsgericht hat seine Entscheidung nicht näher begründet. Soweit erkennbar, hat in der Rechtsprechung bislang das OLG
Brandenburg eine identische Auffassung bekundet (u.a. NJW 2008, 3366), früher auch das OLG Hamm (Beschluss vom 30.07.2007, 8 UF 90/07; zustimmend offenbar Wohlgemuth in Eschenbruch / Klinkhammer, Unterhaltsprozess, 5. Aufl., Rn. III 178). Scholz (in Wendl/Staudigl,
Unterhaltsrecht, 7. Aufl., § 8 Rn. 224) vertritt dagegen die Meinung, dass die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit durch
§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II nicht berührt werde; Reinken (FPR 2007, 352), Schürmann (ZFE 2008, 57) und Brühl in Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II, 3. Aufl., § 11 Rn. 55 gehen ebenfalls davon
aus, dass die genannte Vorschrift nicht zu einem Unterhaltsanspruch verhelfe, wenn eine unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit
des Verpflichteten – wie hier - nicht gegeben ist. Nach OLG Hamm (Urteil vom 28.04.2009, II-13 UF 2/09 NJW 2009, 3446 f.) ist die Möglichkeit anrechnungsfreien Hinzuverdienstes lediglich gegeben, wenn der Unterhaltsanspruch bereits bei Beginn
des Leistungsbezuges tituliert war.
Der Senat folgt der Auffassung, dass § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II nicht zu einer Ausweitung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit
für den Fall zu titulierenden Unterhalts führt. Diese Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 9 des sog. Fortentwicklungsgesetzes vom 20.07.2006 (BGBl. 2006 Teil I Seite 1706 f.) eingeführt worden und soll nach der Gesetzesbegründung (BT-DrS 16/1410 S. 20) sicherstellen, dass nur für den eigenen
Lebensunterhalt einsatzfähiges Einkommen bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit berücksichtigt wird (vgl. §§ 9 und 11 Abs.
1 SGB II). Zu dem einsatzfähigen – "bereiten" – Einkommen gehört danach nicht der für die Erfüllung gesetzlicher Unterhaltspflichten
bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegte Betrag, und zwar
"wegen der jederzeitigen Pfändbarkeit". Der Hinweis auf die jederzeit mögliche Pfändung zeigt, dass der Gesetzgeber von einem
bereits vorhandenen und nicht einem erst noch zu schaffenden Unterhaltstitel ausging, weil nur unter dieser Voraussetzung
eine Pfändung zu jeder Zeit möglich ist. § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr.
7 SGB II hat allerdings nichts daran geändert, dass die Leistungsfähigkeit nach §
1603 BGB zu beurteilen ist, der die "gesetzliche Unterhaltsverpflichtung" für den Bereich des Verwandtenunterhalts begrenzt. Diese
Grenzen werden durch eine sozialrechtliche Vorschrift über die Anrechnungsfreiheit bestimmter Einkommensbestandteile nicht
erweitert. Andernfalls würde mittelbar eine zusätzliche Einstandspflicht des Leistungsträgers für Angehörige des Hilfebedürftigen
begründet, obwohl diese Angehörigen nicht im Haushalt des Hilfebedürftigen leben und nicht zu dessen Bedarfsgemeinschaft im
Sinne des § 7 Abs. 2 und 3 SGB II gehören (Scholz a.a.O.). Nach Auffassung des Senats war eine derartige Folge mit der Gesetzesänderung
nicht beabsichtigt (vgl. dazu auch Schürmann a.a.O. mit Hinweisen auf die verwaltungsrechtliche Praxis und Rechtsprechung
bei Verabschiedung des Fortentwicklungsgesetzes).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 243 FamFG.
Die Rechtsbeschwerde wird im Hinblick auf divergierende obergerichtliche Entscheidungen zur unterhaltsrechtlichen Bedeutung
des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II gem. § 70 Abs. 2 Nr. 2 FamFG zugelassen.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 71 und 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG binnen eines Monats nach der schriftlichen Bekanntgabe (Zustellung,
§§ 15 Abs. 2, 41 Abs. 1 Satz 2 FamFG) dieses Beschlusses bei dem Bundesgerichtshof (76133 Karlsruhe, Herrengasse 45 a) durch
einen dort zugelassenen Rechtsanwalt einzulegen und zu begründen. Sie erfordert eine von dem Verfahrensbevollmächtigten unterschriebene
Rechtsbeschwerdeschrift, die den angefochtenen Beschluss bezeichnen und die Erklärung enthalten muss, dass gegen diese Entscheidung
Rechtsbeschwerde eingelegt wird. Ihre Begründung muss die Anträge und die Angabe der Beschwerdegründe enthalten.