Voraussetzungen des Vorrangs der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe gegenüber der Jugendhilfe bei einer sog. Mehrfachbehinderung
Gründe
I
Der klagende Landkreis begehrt als Jugendhilfeträger von dem beklagten Landschaftsverband als Sozialhilfeträger Erstattung
der Kosten, die er in der Zeit vom 2. Mai 2001 bis zum 27. Dezember 2004 für die vollstationäre Unterbringung eines seelisch
und geistig behinderten Hilfeempfängers in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung aufgewendet
hat.
Der am 27. Oktober 1983 geborene Hilfeempfänger wurde ab Februar 1992 im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in einer Wohngruppe
der Kinder-, Jugend- und Familiendienste des Diakonischen Werkes untergebracht.
Am 2. Mai 2001 zog der Hilfeempfänger in eine Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Er beantragte
durch das zu seinem Vormund bestellte Jugendamt der Stadt M. zunächst bei dem Beklagten, die Unterbringungskosten im Rahmen
der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe zu übernehmen. Dies lehnte der Beklagte ab, weil der Schwerpunkt der Betreuung
ungeachtet der geistigen Behinderung des Hilfeempfängers auch zukünftig im Bereich der seelischen Behinderung liege, für die
der Kläger als Jugendhilfeträger vorrangig leistungspflichtig sei. Mit Rücksicht darauf wandte sich der Hilfeempfänger durch
seinen zwischenzeitlich bestellten Betreuer an den Kläger, der die Gewährung von Jugendhilfe mit der Begründung verweigerte,
dass die stationäre Unterbringung wegen der geistigen Behinderung des Hilfeempfängers notwendig sei.
Mitte Oktober 2002 wurde der Kläger vom Verwaltungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Hilfeempfänger
Hilfeleistungen durch Übernahme der in der Vergangenheit angefallenen und zukünftig anfallenden Kosten seiner Betreuung zu
gewähren. Daraufhin bewilligte der Kläger mit Bescheid vom 13. Dezember 2002 vorläufige Leistungen nach §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I.
Der Kläger verlangte von dem Beklagten Kostenerstattung. Damit hatte er außergerichtlich und erstinstanzlich keinen Erfolg.
Das Oberverwaltungsgericht hat dem Begehren des Klägers stattgegeben und den Beklagten zur Kostenerstattung verpflichtet.
Anspruchsgrundlage sei § 102 Abs. 1 SGB X, da der Kläger seine Leistungen nach außen hin nur vorläufig erbracht habe. Zum einen bestehe - wie das Verwaltungsgericht
zu Recht angenommen habe - eine Leistungspflicht des Klägers nach den Bestimmungen über die jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe
wegen seelischer Behinderung sowie zur Gewährung von Erziehungshilfe. Zum anderen sei der Beklagte zur Leistung von Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen verpflichtet. Dabei könne offenbleiben, ob dieser Anspruch gerade wegen der geistigen Behinderung
bestehe. Nach der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 2 SGB VIII in der Fassung vom 8. Dezember 1998 - SGB VIII 1998 - sei der Beklagte als Sozialhilfeträger vorrangig leistungspflichtig. In den Fällen der Mehrfachbehinderung sei bei
der Prüfung der vor- und nachrangigen Leistungspflicht allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen und nicht
auf eine Hauptursache, Haupthilfe oder einen Schwerpunkt des Bedarfs oder Leistungszwecks abzustellen. Die Art der Leistung
werde auch von dem Phänotyp der Einrichtung, in der sie erbracht werde und bei der es sich hier um eine solche für geistig
behinderte Menschen handele, indiziert. Es sei nicht erforderlich, dass die geistige Behinderung bei isolierter Betrachtung,
also einem Hinwegdenken des erzieherischen Defizits und/oder der seelischen Behinderung, für die in Rede stehende Maßnahme
der stationären Unterbringung schon für sich genommen kausal gewesen sei. Ausreichend sei vielmehr, dass sich die Hilfemaßnahme
(auch) als Eingliederungshilfe für einen geistig Behinderten verstehen lasse. Das sei hier der Fall. Das Störungsbild des
Hilfeempfängers - neurotische Fehlhaltungen und Entwicklungsrückstände - werde auch mit einer geistigen Behinderung in kausalen
Zusammenhang gebracht. Die Erbringung der erforderlichen Leistungen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe für den
geistig behinderten Hilfeempfänger sei aufgrund der Umstände des Einzelfalls tatsächlich nur im Rahmen der vollstationären
Unterbringung möglich gewesen. Der Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe setze auch nicht voraus, dass bei
dem Hilfeempfänger eine wesentliche geistige Behinderung vorliege.
Mit der Revision verfolgt der Beklagte sein Klageabweisungsbegehren weiter. Er rügt insbesondere eine Verletzung des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren.
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Der angefochtene Beschluss verletzt zwar Bundesrecht (§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO), soweit das Oberverwaltungsgericht einen Kostenerstattungsanspruch auf der Grundlage des § 102 Abs. 1 SGB X unter Hinweis darauf bejaht, dass der Kläger die Kosten der stationären Unterbringung und Betreuung des Hilfeempfängers nach
außen hin erkennbar nur vorläufig erbracht habe (1.). Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts stellt sich aber im Ergebnis
als richtig dar (§
144 Abs.
4 VwGO). Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 SGB X zu (2.).
1. Der Kläger kann von dem Beklagten die Erstattung der geltend gemachten Kosten nicht nach § 102 Abs. 1 SGB X i.V.m. §
43 Abs.
1 SGB I beanspruchen.
Nach § 102 Abs. 1 SGB X ist, wenn ein Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat, der zur Leistung
verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig. Der Kläger hat jedoch Sozialleistungen nicht vorläufig im Sinne des §
102 Abs. 1 SGB X erbracht, weil die Voraussetzungen des §
43 Abs.
1 SGB I - der allein als Grundlage der gesetzlichen Vorleistungspflicht in Betracht kommt - nicht vorlagen.
Nach §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I kann, wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung
verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen. Nach Satz 2 Halbs. 1
hat der zuerst angegangene Leistungsträger Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt.
1.1 Eine vorläufige Leistungsverpflichtung des Klägers im Sinne des §
43 Abs.
1 SGB I ergibt sich - entgegen der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts - nicht daraus, dass dieser die Unterbringungskosten
im Leistungsverhältnis zum Hilfeempfänger ausweislich des Bescheides vom 13. Dezember 2002 (formal) als vorläufige Leistung
nach §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I übernommen hat.
Der Erstattungsanspruch aus § 102 Abs. 1 SGB X i.V.m. §
43 Abs.
1 SGB I ist rechtlich unabhängig von dem Leistungsanspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger.
Ein an den Berechtigten gerichteter bestandskräftiger (stattgebender) Leistungsbescheid entfaltet keine Tatbestands- oder
Bindungswirkung für das Erstattungsrechtsverhältnis zwischen den Kostenträgern. Vielmehr ist im Erstattungsverfahren selbstständig
zu prüfen, ob der Leistungsträger, der Kostenerstattung begehrt, nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften materiellrechtlich
eine vorläufige Leistung im Sinne des §
43 Abs.
1 SGB I erbracht hat (stRspr, z.B. Urteil vom 13. März 2003 - BVerwG 5 C 6.02 - BVerwGE 118, 52 <57 f.> = Buchholz 435.12 § 102 SGB X Nr. 3 S. 4 m.w.N.).
1.2 Nach der somit maßgeblichen materiellen Rechtslage lagen die Voraussetzungen einer vorläufigen Leistung des Klägers im
Sinne des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I nicht vor. Für eine derartige Leistung muss ein Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen Leistungsträger bestehen, zwischen
mehreren Leistungsträgern aber streitig sein, wer zur Leistung verpflichtet ist. Die Vorschrift setzt damit einen negativen
Kompetenzkonflikt voraus, der nicht besteht, wenn beide Leistungsträger gegenüber dem Hilfeempfänger gleichermaßen nicht nur
vorläufig zur Leistung verpflichtet sind (Urteil vom 2. März 2006 - BVerwG 5 C 15.05 - BVerwGE 125, 95 = Buchholz 436.511 § 41 KJHG/SGB VIII Nr. 2 jeweils Rn.16). Das ist hier aber der Fall.
Bei konkurrierenden Leistungsansprüchen aus den Gebieten der Jugendhilfe und der Sozialhilfe sind der Träger der Jugendhilfe
und der Träger der Sozialhilfe, solange die benötigte Hilfe aussteht, dem Berechtigten gleichermaßen nicht nur vorläufig zu
Leistungen verpflichtet (stRspr, z.B. Urteile vom 2. März 2006 a.a.O. und vom 23. September 1999 - BVerwG 5 C 26.98 - BVerwGE 109, 325 <330> = Buchholz 436.511 § 41 KJHG/SGB VIII Nr. 1 S. 4). Derartige Leistungsansprüche waren hier gegeben. Der Vormund des
Hilfeempfängers bzw. der Hilfeempfänger besaßen für den streitigen Zeitraum im Hinblick auf die stationäre Unterbringung und
Betreuung sowohl einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung bzw. deren Fortsetzung als Hilfe für junge Volljährige (a) sowie auf
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche bzw. deren Fortsetzung als Hilfe für junge Volljährige
(b) gegen den Kläger als Träger der Jugendhilfe als auch einen Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gegen
den Beklagten als Träger der Sozialhilfe (c).
a) Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine
dem Wohl des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und
notwendig ist. Nach § 34 Satz 1 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder einer sonstigen betreuten Wohnform
Jugendliche durch Verbindung von Alltagsleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern.
Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Jugendlichen eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und
auf ein selbstständiges Leben vorbereiten. Nach § 41 Abs. 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen in der Regel bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung
und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation
des jungen Menschen notwendig ist. Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen auf der Grundlage
der sich von ihm zu eigen gemachten tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts, an die der Senat mangels zulässiger
und begründeter Verfahrensrügen gemäß §
137 Abs.
2 VwGO gebunden ist, in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise bejaht. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein
Streit.
Der Hilfeempfänger war bei dem Wechsel von der Wohngruppe der Kinder-, Jugend- und Familiendienste des Diakonischen Werkes
in die Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung nach wie vor nicht altersgerecht entwickelt, sondern
wies einen ausgeprägten Entwicklungsrückstand von mehreren Jahren auf. Er litt an einer hochchronifizierten milieureaktiven
neurotischen Fehlentwicklung, die gekennzeichnet war durch Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen mit aggressiven
Durchbrüchen und Übergriffen sowie ausgeprägten Schwierigkeiten in der Kontaktgestaltung mit hohen Ängsten und Unsicherheiten.
Zur Gewährleistung einer seinem Wohl entsprechenden Erziehung war es daher notwendig, die erzieherische Hilfeleistung in Form
der stationären Unterbringung in einer betreuten Wohnform fortzusetzen, und zwar insbesondere auch über den Eintritt der Volljährigkeit
hinaus. Letzteres war angesichts der vom Hilfeempfänger gezeigten kontinuierlichen Entwicklungsschritte geboten, aufgrund
deren zu erwarten war, dass er - was für die Gewährung der Hilfe über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus ausreichend ist
(Urteil vom 23. September 1999 a.a.O. S. 327 f. bzw. S. 2 f.) - auch weiterhin Fortschritte in seiner Persönlichkeitsentwicklung
und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung machen würde.
b) Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3546) haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe.
Seit der am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Gesetzesfassung vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046) steht Kindern und Jugendlichen gemäß § 35a Abs. 1 SGB VIII ein Anspruch auf Eingliederungshilfe zu, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate
von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt
oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des Sozialgesetzbuches
Achtes Buch sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach
fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII in der seit dem 1. Oktober 2005 geltenden Fassung vom 8. September 2005 <BGBl. I S. 2729>). Schließlich soll seelisch behinderten
jungen Menschen gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII ab dem Eintritt der Volljährigkeit bis in der Regel zur Vollendung des 21. Lebensjahres Hilfe in der Ausgestaltung der Eingliederungshilfe
(§ 41 Abs. 2 SGB VIII) (weiter)gewährt werden, wenn und solange diese Hilfe aufgrund ihrer individuellen Situation notwendig ist. Das Oberverwaltungsgericht
hat zu Recht dahin erkannt, dass diese Anspruchsvoraussetzungen ebenfalls erfüllt sind. Auch dies steht zwischen den Beteiligten
außer Streit.
Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, das sich insoweit wiederum die Tatsachenfeststellungen des
Verwaltungsgerichts zu eigen gemacht hat, wich die seelische Gesundheit des Hilfeempfängers infolge seiner hochchronifizierten
milieureaktiven neurotischen Fehlentwicklung länger als sechs Monate von dem für sein Alter typischen Zustand ab und der Hilfeempfänger
war angesichts der Intensität und Dauer der Störung von einer Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
zumindest bedroht. Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass die (weitere) stationäre Unterbringung in einer betreuten Einrichtung
nach den konkreten Umständen des Einzelfalls im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB VIII 1998 bzw. § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII 2001 bedarfsgerecht war.
c) Der Anspruch des Hilfeempfängers auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gegen den Beklagten als Träger der Sozialhilfe
findet für die Zeit vom 2. Mai bis zum 30. Juni 2001 seine Rechtsgrundlage in § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646) und für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis zum 27. Dezember 2004 in § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der Fassung vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046). Danach ist Eingliederungshilfe Personen zu gewähren, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch behindert
sind bzw. die durch eine Behinderung im Sinne von §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung
bedroht sind. Nach §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Demnach ist für die rechtliche Einstufung als wesentliche Behinderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG 1994 bzw. 2001 der Umfang der Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit entscheidend. Eine Behinderung stellt nur dann eine
wesentliche Behinderung im Sinne der Bestimmungen über die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe dar, wenn sie zu einer
wesentlichen Beeinträchtigung der Teilhabefähigkeit führt. Dabei entspricht der Umfang, in dem die Fähigkeit, an der Gesellschaft
teilzuhaben, eingeschränkt ist, nicht notwendig dem Ausmaß, in dem die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Eingliederungshilfe ist aber nur zu gewähren, wenn und
solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, die Aussicht besteht, dass
die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe zählen auch vollstationäre
Unterbringungen (Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 6.11 - NVwZ-RR 2012, 67 Rn. 10). Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechtsanspruchs auf Eingliederungshilfe
nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG 1994 bzw. 2001 gegeben sind, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Nach dessen nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen bestand
bei dem Hilfeempfänger - abgesehen von der seelischen Behinderung - auch eine geistige Behinderung. Dass auch die geistige
Fähigkeit des Hilfeempfängers mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abwich, wird auch von dem Beklagten - wie dessen Vertreter in der mündlichen Verhandlung erklärte - nicht bestritten. Soweit
der Beklagte unter Bezugnahme auf die beim Hilfeempfänger durchgeführten Intelligenztests, deren Ergebnisse im Bereich der
leichten Behinderung lagen, geltend macht, es habe keine wesentliche Behinderung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG 1994 bzw. 2001 vorgelegen, widerspricht dies den tatrichterlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts. Dieses hat
festgestellt, dass der Hilfeempfänger unzweifelhaft wesentlich in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben eingeschränkt
war (BA S. 10). An diese Feststellung ist der Senat - wie in der mündlichen Verhandlung erörtert - gemäß §
137 Abs.
2 VwGO gebunden. Das Oberverwaltungsgericht war nicht gehalten festzustellen, ob die wesentliche Teilhabeeinschränkung auf die geistige
oder die seelische Behinderung oder auf beide Defizite zurückzuführen war. Die Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG 1994 bzw. 2001 sind erfüllt, wenn eine solche Einschränkung besteht, für die als Ursache nur Störungen auf den in der Bestimmung
genannten drei Gebieten in Betracht kommt.
Ausgehend von den ebenfalls bindend festgestellten kontinuierlichen positiven Entwicklungsfortschritten des Hilfeempfängers
bestand ferner die erforderliche Aussicht, dass die in § 39 Abs. 3 BSHG 1994 bzw. 2001 umschriebene Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden konnte. Insbesondere konnte die Teilhabe des Hilfeempfängers
am Leben in der Gemeinschaft erleichtert und ihm die Ausübung einer angemessenen Tätigkeit ermöglicht werden. Schließlich
hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die vollstationäre Unterbringung des Hilfeempfängers in der konkreten Einrichtung
für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung in dem entscheidungserheblichen Zeitraum erforderlich war (BA S. 15),
ohne dass der Beklagte hiergegen Revisionsgründe vorgebracht hätte. Der Senat ist deshalb - wie in der mündlichen Verhandlung
erörtert - auch hieran gebunden (§
137 Abs.
2 VwGO).
2. Der Erstattungsanspruch des Klägers gegen den Beklagten ergibt sich aus § 104 Abs. 1 SGB X.
Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, grundsätzlich der Leistungsträger
erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist ein Leistungsträger nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen
Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet wäre. Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen
setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren,
wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (stRspr, zuletzt Urteil
vom 19. Oktober 2011 a.a.O. Rn. 7 m.w.N.). Hier waren zwei miteinander konkurrierende, auf dieselbe Leistung gerichtete Leistungspflichten
unterschiedlicher Sozialleistungsträger gegeben (2.1). Die Leistungsverpflichtung des Klägers ist gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII in der Fassung vom 8. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3546) nachrangig (2.2).
2.1 Für den streitigen Zeitraum bestanden - wie unter 1.2 dargelegt - sowohl gegen den Kläger als auch gegen den Beklagten
ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung und Betreuung des Hilfeempfängers in der Einrichtung
für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung.
2.2 Nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998, der inhaltlich § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in der geltenden Fassung vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 3057) entspricht, gehen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach
dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (Jugendhilfe) vor. Die vorrangige Leistungsverpflichtung des Beklagten als Träger der Eingliederungshilfe
gegenüber dem Kläger als Träger der Jugendhilfe ist daher nur zu bejahen, soweit es um Leistungen der Eingliederungshilfe
für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung geht. Das ist hier - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend
festgestellt hat - der Fall.
a) Der Anwendung des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 steht nicht entgegen, dass das Oberverwaltungsgericht offengelassen hat, ob der festgestellte Anspruch auf stationäre
Unterbringung und Betreuung nach den Vorschriften über die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe gerade wegen der geistigen
Behinderung des Hilfeempfängers bestand.
Für die Anwendung der Vorrangregelung genügt die Feststellung, dass es sich bei den konkurrierenden Leistungen um solche der
in § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 bezeichneten Art ("Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind", "Leistungen nach
diesem Buch") handelt. Die Vorschrift regelt unmittelbar nur das Konkurrenz- bzw. Rangverhältnis konkurrierender Leistungsansprüche
der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. Sie dient dazu, den vorrangig in der Pflicht stehenden Leistungsträger zu ermitteln,
d.h. den primär leistungspflichtigen Schuldner zu bestimmen (Urteil vom 19. Oktober 2011 a.a.O. Rn. 17). Dementsprechend setzt
§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 zwar das Bestehen konkurrierender Leistungsansprüche voraus. Denn nur das Nebeneinander inhaltsgleicher oder gleichartiger
Ansprüchen gegen unterschiedliche Leistungsträger macht eine Entscheidung darüber erforderlich, wer von ihnen letztlich die
Kosten der gewährten Hilfe zu tragen hat (Urteil vom 23. September 1999 a.a.O. S. 329 f. bzw. S. 4). Die Prüfung und Feststellung,
ob derartige Ansprüche gegeben sind, unterfällt aber nicht dem Anwendungsbereich des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998, sondern ist diesem vorgelagert. Hier steht - wie aufgezeigt - fest, dass der Hilfeempfänger (auch) einen Anspruch gegenüber
dem Träger der Sozialhilfe hatte und (auch) geistig behindert war. Der Anwendungsbereich des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 ist deshalb eröffnet.
b) § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 ist auch nicht dahin einschränkend auszulegen, dass bei einer sog. Mehrfachbehinderung eine Maßnahme der Eingliederungshilfe
nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, nur anzunehmen
ist, wenn der Schwerpunkt des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels in der körperlichen und/oder geistigen Behinderung
des Berechtigten liegen. Der Senat hat wiederholt entschieden, dass die vorrangige Leistung nicht mit Hilfe dieses materiellen
Kriteriums zu bestimmen ist, wenn für ein und denselben zur Hilfebedürftigkeit führenden Lebenssachverhalt zum einen wegen
des erzieherischen Bedarfs die Gewährung von Hilfe zur Erziehung und zum anderen wegen einer geistigen Behinderung ein Anspruch
auf sozial-hilferechtliche Eingliederungshilfe in Betracht kommen (Urteile vom 22. Oktober 2009 - BVerwG 5 C 19.08 - BVerwGE 135, 159 = Buchholz 436.511 § 10 KJHG/SGB VIII Nr. 4 jeweils Rn. 33 und vom 19. Oktober 2011 a.a.O.). Die Vorrangregelung des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 stellt vielmehr allein auf die Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialhilfeleistung ab. Ist diese
- wie hier - eine Maßnahme der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe für junge Menschen, ist sie vorrangig. Dafür spricht
bereits der unmissverständliche Gesetzeswortlaut, nach dem allein das formale Kriterium der Gleichartigkeit der Leistungspflichten
maßgeblich ist. Ferner trägt dies dem Gesetzeszweck Rechnung. Die Vorrangregelung soll eine bedarfsgerechte Hilfegewährung
für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung sicherstellen. Angesichts der Abgrenzungsschwierigkeiten, die
sich in diesem Bereich namentlich in Fällen einer Mehrfachbehinderung oder entwicklungsbedingter Besonderheiten ergeben können,
ist deshalb gerade nicht auf eine Grenzziehung nach Maßgabe des Schwerpunkts des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels
abzustellen. Vielmehr ist nur zu fragen, ob im Außenverhältnis (zum Hilfeempfänger) ein Anspruch auf beide Leistungen besteht
und sich diese ganz oder teilweise decken oder überschneiden. Im Falle sich überschneidender Zuständigkeiten für die Leistung
sind dann - im Interesse des Hilfeempfängers, der hierdurch keinen Nachteil erleiden soll - beide Hilfeträger leistungsverpflichtet.
Der Nachrang kann dann gegebenenfalls nur über eine Kostenerstattung zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern hergestellt
werden (Urteil vom 22. Oktober 2009 a.a.O.). Schließlich dient die Anknüpfung an die formalen Kriterien der Art und Gleichartigkeit
der Leistungspflichten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Der vorrangig zuständige Leistungsträger lässt sich nicht
mit der erforderlichen Bestimmtheit anhand des materiellen Kriteriums des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels ermitteln,
da sich je nach der Betrachtungsweise und Lebenssituation unterschiedliche Schwerpunkte des Bedarfs oder der Leistung ergeben
können (Urteil vom 19. Oktober 2011 a.a.O. Rn. 18 m.w.N.).
An diesen Erwägungen, die für die hier in Rede stehende Mehrfachbehinderung ebenfalls Geltung beanspruchen, hält der Senat
auch nach erneuter Prüfung fest. Das Vorbringen des Beklagten enthält keine Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung rechtfertigen.
c) Aus den gleichen Gründen kann § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 erst recht nicht einschränkend dahin ausgelegt werden, dass die körperliche und/oder geistige Behinderung für die Maßnahme
der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz ursächlich im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel gewesen oder - wie vom Oberverwaltungsgericht angenommen - insoweit
"das Erfordernis einer Kausalität schlechthin" (BA S. 13) erfüllt sein muss.
d) Es kann hier dahinstehen, ob der Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 jedenfalls dann entfällt, wenn zwischen der körperlichen und/oder geistigen Behinderung und der zu gewährenden sozialhilferechtlichen
Eingliederungshilfe kein rechtlicher Zusammenhang gegeben ist. Zwar könnte der Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe
- positiv gefasst - voraussetzen, dass die konkret gewährte Maßnahme zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen körperlicher
und/oder geistiger Behinderung eingeht (vgl. Meysen, in: FK-SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 10 Rn. 45; Wiesner, in: ders. <Hrsg.>, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 10 Rn. 38) oder - negativ formuliert - verlangen, dass zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass die körperliche und/oder geistige
Behinderung für die konkrete Maßnahme irgendwie bedeutsam war. Ob eine solche Konnexität von § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 gefordert wird, bedarf hier aber keiner abschließenden Entscheidung, weil sie auf der Grundlage der bindenden tatsächlichen
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in jedem Fall zu bejahen ist. Denn daraus ergibt sich, dass die geistige Behinderung
des Hilfeempfängers für die Entscheidung über die Gewährung sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe von Bedeutung war und
auch auf den dadurch bedingten Hilfebedarf eingegangen wurde.
e) Die für die Anwendung der Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII 1998 erforderliche Kongruenz der Leistungspflichten liegt vor. Die vollstationäre Unterbringung ist sowohl Leistungsgegenstand
der Jugendhilfeleistungen als auch Inhalt der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe. Beide Leistungspflichten sind hier
nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Die jugendhilferechtliche Unterbringung umfasst nach § 39 SGB VIII nicht nur die pädagogische Betreuung, sondern auch den laufenden Unterhalt. Nichts anderes gilt für die vollstationäre Unterbringung
im Rahmen der Eingliederungshilfe, die ebenfalls nach § 93a Abs. 2 BSHG 1996 (= § 76 Abs. 2 SGB XII) Unterkunft und Verpflegung einschließen (Urteile vom 19. Oktober 2011 a.a.O. Rn. 16 und vom 2. März 2006 a.a.O. Rn. 9).
Da es für das Erfordernis der vollständigen oder mindestens teilweisen Deckungsgleichheit der Leistungspflichten nicht darauf
ankommt, ob der junge Mensch für beide Leistungen anspruchsberechtigt ist (Urteil vom 19. Oktober 2011 a.a.O. Rn. 17), ist
es unschädlich, dass jedenfalls der jugendhilferechtliche Anspruch auf Hilfe zur Erziehung bis zum Eintritt der Volljährigkeit
des Hilfeempfängers dessen Vormund zustand.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
154 Abs.
2 VwGO. Gerichtskostenfreiheit besteht nach §
188 Satz 2 Halbs. 2
VwGO nicht.