Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Abgrenzung des Kreises von schwer Sehbehinderten
Gründe:
A.
Das Verfahren betrifft die Frage, ob das Bundessozialhilfegesetz und das Landesblindengeldgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen eine willkürliche Abgrenzung des Kreises von schwer Sehbehinderten
enthalten, die bei der Gewährung besonderer Leistungen den Blinden gleichgestellt sind.
I.
1. Nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhalten außer den Blinden auch schwer Sehbehinderte Blindenhilfe (§ 67). Die Abgrenzung des den Blinden gleichgestellten Personenkreises machte Schwierigkeiten; das führte innerhalb verhältnismäßig
kurzer Zeit zu drei verschiedenen Regelungen.
a) § 24 Abs. 3 BSHG in der Fassung vom 30. Juni 1961 (BGBl. I S. 815; seit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundessozialhilfegesetzes
vom 31. August 1965 (BGBl. I S. 1027) § 24 Abs. 2 BSHG) grenzte nach der "Orientierungsblindheit" ab. Er lautete:
§ 24
(1) ...
(2) Als blind im Sinne dieses Gesetzes gilt auch, wer eine so geringe Sehschärfe hat, daß er sich in einer ihm nicht vertrauten
Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden kann.
b) Durch Art. 1 Nr. 6 und Nr. 25 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes vom 14. August 1969 (BGBl.
I S. 1153) wurden die §§ 24 und 67 BSHG mit Wirkung vom 1. Oktober 1969 (Art. 2 § 9 Abs. 1 des Zweiten Änderungsgesetzes) geändert. Das Bundessozialhilfegesetz galt von diesem Zeitpunkt an in der Neufassung vom 18. September 1969 (BGBl. I S. 1688), auf die es hier ankommt. Nach §
67 war Blinden zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen Blindenhilfe zu gewähren, soweit sie keine
gleichartigen Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhielten. Die Blindenhilfe wurde Blinden nach Vollendung des 18.
Lebensjahres in Höhe des Mindestbetrages der Pflegezulage für Blinde nach dem Bundesversorgungsgesetz gewährt. Der Mindestbetrag der Pflegezulage für Blinde belief sich nach § 35 Abs. 1 Satz 2, 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der jeweils geltenden Fassung für 1970 auf 319 DM monatlich und stieg bis auf 437 DM monatlich für 1974.
§ 67 BSHG war nach seinem Absatz 6 auch auf die in § 24 Abs. 1 genannten Personen anwendbar, die das dritte Lebensjahr vollendet hatten. Die maßgebende Vorschrift lautete:
§ 24
(1) Der Mehrbedarf nach § 23 Abs. 3 ist für erwerbstätige Blinde in Höhe des Erwerbseinkommens anzuerkennen, wenn es fünfzig
Deutsche Mark monatlich nicht übersteigt; übersteigt es diesen Betrag, so beträgt der Mehrbedarf fünfzig Deutsche Mark zuzüglich
fünfundzwanzig vom Hundert des fünfzig Deutsche Mark übersteigenden Erwerbseinkommens. Satz 1 findet auch Anwendung auf Personen,
deren Sehschärfe auf dem besseren Auge
1. nicht mehr als 1/50 beträgt oder
2. nicht mehr als 1/35 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf dreißig Grad oder weiter eingeschränkt ist, oder
3. nicht mehr als 1/20 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf fünfzehn Grad oder weiter eingeschränkt ist.
(2) ...
Diese Abkehr von der "Orientierungsblindheit" sollte durch die Angabe bestimmter Werte die Schwierigkeiten vermeiden, die
die bisherige Regelung den Ärzten, Behörden und Gerichten bereitet hatte. Vor allem war die wenig konkrete und daher nur schwer
gleichmäßig anwendbare Fassung des § 24 Abs. 2 a. F. beklagt worden, die eine weite, über den ursprünglich geplanten Rahmen
hinausgehende Auslegung und die Gefahr von Mißbräuchen begünstigt hatte (vgl. auch Begr. des Regierungsentwurfs, BTDrucks.
V/3495 S. 11).
c) Das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes vom 25. März 1974 (BGBl. I S. 777) gab Satz 2 der oben genannten
Vorschrift mit Wirkung vom 1. April 1974 (Art. 3 § 4 Abs. 1) folgende Fassung:
§ 24
(1) ...
Satz 1 findet auch Anwendung auf Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfaßte, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad
vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleichzuachten sind.
Diese Neuregelung wurde damit begründet, daß die im Jahre 1969 getroffene Regelung einer strikten Abstufung allein nach Graden
der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes als unzulänglich erschienen wäre: Es seien Personen von der Blindenhilfe ausgeschlossen
worden, deren Sehbehinderung auf anderen Ursachen oder auf anderen Kombinationen von Ursachen beruhe, die im Ergebnis aber
ebenso schwer betroffen seien wie die nach der bisherigen Regelung Begünstigten (vgl. Begr. des Regierungsentwurfs, BTDrucks.
7/308 S. 11).
2. In Nordrhein-Westfalen kommen für hochgradig Sehschwache Unterstützungen aufgrund eines Runderlasses und seit dem 1. Juli
1970 Blindengeld nach dem Landesblindengeldgesetz in Betracht.
a) Vor dem 1. Juli 1970 konnten schwer Sehbehinderte nur aufgrund des Runderlasses des Arbeits- und Sozialministers vom 21.
Mai 1962 (MBl. NW 1962 S. 978), zuletzt geändert durch Runderlaß vom 18. August 1971 (MBl. NW 1971 S. 1526) "Landeshilfe für
hochgradig Sehschwache" erhalten. Sie ist eine freiwillige Leistung des Landes, auf die kein Rechtsanspruch besteht, wird
nur Personen gewährt, die keine gleichartigen Leistungen nach bundesrechtlichen Vorschriften erhalten, und dient zum Ausgleich
der durch die hochgradige Sehschwachheit bedingten Mehraufwendungen. Die Landeshilfe betrug in dem hier maßgebenden Zeitraum
von 1970 an zunächst monatlich 80 DM, ab 1. Januar 1971 monatlich 120 DM. Wer hochgradig sehschwach im Sinne des Runderlasses
ist, bestimmt Abschnitt I Nr. 3 (Fassung vom 16. Dezember 1965 - MBl. NW 1966 S. 49):
nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe noch zurechtfinden, die ihr restliches Sehvermögen aber für eine Teilnahme am
Leben in der Gemeinschaft, vor allem an einem angemessenen Platz im Arbeitsleben, nicht oder nur unzureichend verwerten können.
Die Voraussetzung des Satzes 1 ist erfüllt, wenn das bessere Auge eine Sehschärfe von weniger als 1/20 oder krankhafte Veränderungen
aufweist, die das Sehvermögen in entsprechendem Maße einschränken.
b) Am 1. Juli 1970 trat in Nordrhein-Westfalen das Landesblindengeldgesetz vom 16. Juni 1970 (GVBl. S. 435) - LBlG - in Kraft.
Danach erhalten Blinde, die sich in Nordrhein-Westfalen aufhalten, nach Vollendung des 18. Lebensjahres Blindengeld in Höhe
des Mindestbetrages der Pflegezulage für Blinde nach dem Bundesversorgungsgesetz (§ 1 Abs. 2 Satz 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 LBlG). Das Landesblindengeld entspricht demnach in der Höhe der Blindenhilfe dem Bundessozialhilfegesetz. Seine Gewährung hängt jedoch im Gegensatz zu der Regelung nach dem Bundessozialhilfegesetz (§ 79, § 81 Abs. 2) und zu der über die Landeshilfe - Abschnitt III des Runderlasses - nicht von bestimmten Einkommensverhältnissen ab. Die
hier maßgebende Vorschrift lautet:
§ 1
(1) Blinde, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, erhalten zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen
Blindengeld. Als Blinde im Sinne dieses Gesetzes gelten auch Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge
a) nicht mehr als 1/50 beträgt oder
b) nicht mehr als 1/35 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf dreißig Grad oder weiter eingeschränkt ist, oder
c) nicht mehr als 1/20 beträgt, wenn das Gesichtsfeld dieses Auges bis auf fünfzehn Grad oder weiter eingeschränkt ist.
(2) ...
II.
1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens leidet nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts an der Augenkrankheit "Retinitis
pigmentosa", bei der infolge einer Atrophie des Sehnervs und einer bis an den Fixierpunkt reichenden Pigmentansammlung im
Augenhintergrund das Gesichtsfeld für beide Augen von außen nach innen bis unmittelbar an den Fixierpunkt heran eingeschränkt
ist (sog. Röhrensehen); die Sehschärfe beträgt auf beiden Augen nach Gläserkorrektur 5/10.
Im Februar 1970 beantragte die Klägerin Blindenhilfe beim Direktor des Landschaftsverbandes Rheinland, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens,
der den Antrag ablehnte. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht mit dem Antrag,
ihr unter Aufhebung der Bescheide Blindenhilfe und Landesblindengeld zu gewähren.
2. Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 24 Abs.
1 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes in der Fassung vom 18. September 1969 (BGBl. I S. 1688) und § 1 Abs. 1 Satz 2 des nordrhein-westfälischen
Landesblindengeldgesetzes vom 16. Juni 1970 (GVBl. S. 435) mit Art.
3 Abs.
1 GG vereinbar sind.
Das vorlegende Gericht führt aus: Ob die Klägerin für die Zeit bis zum 30. Juni 1970 Blindenhilfe und vom 1. Juli 1970 an
Landesblindengeld erhalte, hänge, da alle anderen Voraussetzungen erfüllt seien, allein davon ab, ob sie den Blinden gleichstehe.
Das sei nach den genannten Vorschriften nicht der Fall. Diese könnten nicht im Wege der Analogie auf die Klägerin ausgedehnt
werden. Der Bundesgesetzgeber sei, wie die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeige, bewußt von dem Merkmal der "Orientierungsblindheit"
abgerückt und habe sich für eine eng umschriebene Abgrenzung nach der Minderung der Sehschärfe und der Einschränkung des Gesichtsfeldes
entschieden.
Der Ausschluß von Personen mit einer Gesichtsfeldeinschränkung bis auf fünf Grad, zu denen die Klägerin gehöre, sei verfassungswidrig.
Nach vorliegenden augenfachärztlichen Gutachten seien sie auch bei fast voller Sehschärfe in ihrer Sehfunktion mindestens
in gleichem Maße behindert wie die vom Gesetz den Blinden Gleichgestellten. Das Gesetz behandle gleiche Sachverhalte, nämlich
gleichstarke Sehstörungen, ungleich, wenn es, statt auf die Gleichheit in der Beeinträchtigung des Sehens abzustellen, nach
den Ursachen der Sehstörung zwischen Sehschärfe und Gesichtsfeldeinschränkung unterscheide. Dafür gebe es keinen sachlichen
Grund.
III.
1. Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, ist der Meinung,
der Gesetzgeber habe nicht willkürlich gehandelt, wenn er sich nach den Erfahrungen mit der früheren Regelung unter Beachtung
der vorhandenen Vorschläge für eine Abgrenzung nach festen Maßstäben entschieden habe. Die Neuregelung von 1969 bringe allerdings
gewisse Härten für solche Personen mit sich, die die festgelegten Voraussetzungen knapp verfehlten. Diese Fälle bildeten jedoch
die Ausnahme im Vergleich zu denen, die von der Bestimmung erfaßt würden. Im übrigen seien die von der Blindenhilfe Ausgeschlossenen
nicht schutzlos. Sie könnten Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG in Verbindung mit § 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der Fassung vom 28. Mai 1971 und Hilfe zur Pflege nach §§ 68, 69 BSHG erhalten. Wenn dennoch verfassungsrechtliche Bedenken blieben, sei an eine verfassungskonforme Anwendung der Vorschrift zu
denken.
2. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält die zur Prüfung gestellten Vorschriften für vereinbar mit dem
Grundgesetz. Die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises sei nicht evident unsachlich. Der Gesetzgeber habe sich von der früher maßgebenden
Abgrenzung nach der "Orientierungsblindheit" gelöst, um praktische Schwierigkeiten und eine nach früherem Recht entstandene
Unsicherheit zu beseitigen. Er habe nach Einschaltung fachkundiger Stellen und unter Abwägung verschiedener Vorschläge eine
nach den damaligen Erkenntnissen gerechte und für die Praxis brauchbare Definition eingeführt. Im übrigen könne der vom Bezug
der Blindenhilfe und des Landesblindengeldes ausgeschlossene Personenkreis in den Genuß von Eingliederungshilfe oder Hilfe
zur Pflege (§§ 39, 68 BSHG) gelangen.
3. Die Bayerische Staatsregierung meint, der Gesetzgeber habe in der zu prüfenden Regelung die hochgradig Sehbehinderten,
die nicht in den Genuß der Vergünstigung kämen, nicht aufgrund unsachgemäßer Erwägungen bewußt ausgeschlossen. Vielmehr liege
eine absichtslos erfolgte Benachteiligung durch eine pauschalierende Regelung vor. Sie müsse bei Vorschriften, die der Ordnung
von Massenerscheinungen dienten, hingenommen werden, zumal der Gesetzgeber schon eine nach Sehschärfe und Gesichtsfeld differenzierende
Regelung getroffen habe und die auf anderen Ursachen beruhenden Sehstörungen zum Teil schwer faßbar seien. Die Vorschrift
sei zwar in einzelnen Fällen der Beeinträchtigung des Sehvermögens unbillig; das sei aber die notwendige Folge der Entscheidung
des Gesetzgebers, die Beurteilung objektiv meßbar und nachprüfbar zu machen.
4. Der V. Senat des Bundesverwaltungsgerichts teilt die Auffassung des vorlegenden Gerichts, daß eine ausdehnende Auslegung
des § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG mit dem Ziel einer Einbeziehung weiterer Fälle nicht in Betracht kommt. Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung sei zu beachten,
daß die Blindenhilfe blindheitsbedingte Mehraufwendungen auffangen solle. Sie sei in erster Linie an einer bestimmten Notlage
und nicht an bestimmten Ursachen orientiert. Dieses Ziel des Gesetzes lege es nahe, den Begriff des Blinden nach Merkmalen
zu bestimmen, die die Störung der Sehfunktion herausstellten. Wenn das Gesetz statt funktionaler Merkmale solche kausaler
Art für die Umschreibung des begünstigten Personenkreises verwende, so sei das nicht schon verfassungswidrig. Es müsse nur
sichergestellt sein, daß die kausale Betrachtung die Masse der Betroffenen erfasse.
5. Der Deutsche Blindenverband e. V. hält die Regelung für verfassungsmäßig. Während die frühere Regelung zu weit gewesen
sei und die Ausstellung von Mitleidsattesten begünstigt habe, dränge die spätere Vorschrift mit ihrer klaren Abgrenzung solche
Möglichkeiten weitgehend zurück; sie sei aber wohl zu eng.
6. Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft hat mitgeteilt, sie habe im Frühjahr 1969 dringend um die Anhörung von Sachverständigen
gebeten, die jedoch unterblieben sei. Im Jahre 1971 habe sie darauf hingewiesen, daß das Gesetz zahlreiche Möglichkeiten vergleichbarer
Sehbeschädigungen unberücksichtigt lasse, und vorgeschlagen, solche Fälle gleichzustellen.
7. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat mitgeteilt, daß allein bei ihm seit Oktober 1969 bis September 1972 36 Sehbehinderte
mit einer Retinitis pigmentosa Anträge auf Blindenhilfe oder Blindengeld gestellt hätten, die nach der gesetzlichen Regelung
hätten abgelehnt werden müssen.
B.
Die Vorlage ist, wenn die Vorlagefrage eingeschränkt wird, zulässig.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sind die zur Prüfung gestellten Vorschriften insofern verfassungswidrig, als Personen,
deren Sehvermögen trotz relativ besserer Sehschärfe aus anderen Gründen mindestens gleichstark beeinträchtigt ist, von der
Gewährung von Blindenhilfe oder Blindengeld ausgeschlossen sind. Im Ausgangsverfahren ist jedoch die Beeinträchtigung des
Sehvermögens der Klägerin auf eine Einschränkung des Gesichtsfeldes und damit auf eine in den Gesetzen grundsätzlich berücksichtigte
Ursache zurückzuführen. Die Klägerin ist lediglich deshalb nicht anspruchsberechtigt, weil die Gesetze eine extreme Einschränkung
des Gesichtsfeldes allein oder neben einer gewissen zusätzlichen Beeinträchtigung der Sehschärfe nicht ausreichen lassen.
Nur darüber, ob das mit dem
Grundgesetz vereinbar ist, braucht hier entschieden zu werden, nicht dagegen auch darüber, ob die Gesetze andere Ursachen für eine Sehbehinderung
ausschließen durften. Deshalb ist die Vorlagefrage dahin einzuschränken, ob die zur Prüfung gestellten Vorschriften insofern
mit der Verfassung vereinbar sind, als vom Bezug der Blindenhilfe oder des Blindengeldes solche Personen ausgeschlossen werden,
deren Sehvermögen trotz einer besseren Sehschärfe infolge extremer Einschränkung des Gesichtsfeldes mindestens ebenso stark
beeinträchtigt ist wie das der begünstigten Personen.
Mit dieser Einschränkung ist die Vorlage zulässig. Das Verwaltungsgericht hat dargelegt, daß § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG für die Zeit bis zum 30. Juni 1970 und § 1 Abs. 1 Satz 2 LBlG NRW für die folgende Zeit entscheidungserheblich sind. Die Ausführungen dazu, daß eine Ausdehnung der
Vorschriften auf den Fall der Klägerin nicht möglich sei, sind, worauf es für die Zulässigkeit allein ankommt, zumindest vertretbar.
Die Entscheidungserheblichkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß Ausführungen dazu fehlen, ob die Klägerin Landeshilfe
nach dem Runderlaß des Arbeits- und Sozialministers erhalten hat oder doch bekommen konnte; denn die Landeshilfe hätte jedenfalls
die Höhe der Blindenhilfe und des Blindengeldes bei weitem nicht erreicht.
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage ergeben sich auch nicht aus der von der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
angestellten Überlegung, daß das Bundesverfassungsgericht, wenn es den Ausschluß benachteiligter Personen für verfassungswidrig
halte, dem Gesetzgeber die Neuregelung überlassen müsse und es dann fraglich sei, ob die Klägerin unter eine neue, großzügigere
Regelung fallen werde. Für die Zulässigkeit einer Vorlage genügt es, daß das Gericht bei Gültigkeit der Norm anders entscheiden
wird als bei ihrer Ungültigkeit. Schon die Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, um einen Spruch des Gesetzgebers abzuwarten,
wäre eine andere Entscheidung als die bei Gültigkeit der Norm gebotene Klageabweisung (vgl. BVerfGE 23, 74 (78); 23, 135 (142)).
C.
§ 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG und § 1 Abs. 1 Satz 2 LBlG NRW sind mit Art.
3 Abs.
1 GG insofern unvereinbar, als diese Bestimmungen bei Personen, bei denen die Sehbehinderung auf einer der beiden im Gesetz anerkannten
Ursachen (mangelnde Sehschärfe, Gesichtsfeldeinschränkung) oder nur auf einer Kombination beider anerkannten Ursachen beruht,
die Minderung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes verschieden behandeln. Wer bei normalem Gesichtsfeld
eine extrem geringe Sehschärfe hat, wird begünstigt; wer bei voller Sehschärfe ein extrem verengtes Gesichtsfeld hat, ist
von der Begünstigung ausgeschlossen. Eine hochgradige, aber noch nicht extreme Minderung der Sehschärfe erfüllt bei einer
gewissen Einengung des Gesichtsfeldes die gesetzlichen Voraussetzungen, eine etwas geringere Minderung der Sehschärfe bei
erheblich größerer Einengung des Gesichtsfeldes dagegen nicht. Diese Ungleichbehandlung erfolgt trotz im Ergebnis gleichstarker
Sehbehinderung.
I.
Blindenhilfe und Blindengeld dienen zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen (§ 67 Abs. 1 BSHG, § 1 Abs. 1 Satz 1 LBlG NRW). Wenn der Gesetzgeber stark Sehbehinderte den Blinden gleichgestellt, so wird es dem Sinn und Zweck der
Zuwendung allein gerecht, diesen Personenkreis so abzugrenzen, daß von einer bestimmten Grenze an alle gleichstark Sehbehinderten
in den Genuß der Vergünstigung kommen. Das Sozialstaatsprinzip verstärkt noch die sich aus dem Gleichheitssatz ergebende Forderung
nach einer genauen Abgrenzung des Kreises der Begünstigten, da es sich bei der gesamten Regelung um eine Hilfe für besonders
schwer betroffene Bürger handelt. Diesen Anforderungen genügen die zur Prüfung gestellten Bestimmungen nicht, zumal die Gesetze
auch keine Härteklausel enthalten.
II.
Für die aufgezeigte Ungleichbehandlung läßt sich kein einleuchtender Grund finden.
1. Auch wenn der Gesetzgeber sich bei der Auswahl der Ursachen, an die er anknüpfen wollte, zu typisierenden Abgrenzungen
gezwungen sah, brauchte er innerhalb dieser Ursachen nicht in der Weise einzuschränken, daß einer Sehbehinderung, die überwiegend
auf einer extremen Einschränkung des Gesichtsfeldes beruhte, nicht ausreichend Rechnung getragen werden konnte. Er hätte etwa
eine vierte Fallgruppe vorsehen können, bei der trotz voller Sehschärfe oder trotz nur einer gewissen Beeinträchtigung der
Sehschärfe allein eine extreme Einschränkung des Gesichtsfeldes Anspruchsvoraussetzung gewesen wäre.
2. Auch der Hinweis auf die erforderliche Praktikabilität der Vorschriften läßt die Differenzierung nicht als sachgerecht
erscheinen. Wenn der Gesetzgeber bei der Sehschärfe Unterscheidungen nach Werten von 1/50, 1/35 und 1/20 vornimmt und bei
der Gesichtsfeldeinschränkung Grenzen bei 30 und 15 Grad zieht, die er offenbar für bestimmbar und praktikabel hält, so waren
die konsequente Weiterführung der Regelung und die Einführung weiterer Grenzwerte für die extreme Einengung des Gesichtsfeldes
nicht unmöglich oder unpraktikabel.
Im übrigen hat der Bundesgesetzgeber inzwischen selbst eine Regelung getroffen, um Fälle von gleichem Schweregrad berücksichtigen
zu können. Aber auch bevor die hier geprüfte Regelung Gesetz wurde, gab es schon vergleichbare Regelungen, die der jetzt im
§ 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG neu geschaffenen ähnlich waren (vgl. § 1 der Eingliederungs-Verordnung vom 27. Mai 1964 (BGBl. I S. 339) und den erwähnten Runderlaß des Arbeits- und Sozialministers
von Nordrhein-Westfalen (Abschnitt I Nr. 3)). Ferner lagen die vor dem Gesetzgebungsverfahren veröffentlichten Urteile des
Bayerischen Landessozialgerichts zur Gleichstellung der unter einer erheblichen Einschränkung des Gesichtsfeldes leidenden
Personen mit den Blinden vor (Urteile vom 4. November 1966 - Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale
Fürsorge - AMBl. 1967 Teil B S. 7 - und vom 11. Oktober 1967 - AMBl. 1968 Teil B S. 7-). Schließlich hat die Deutsche Ophthalmologische
Gesellschaft schon während des Gesetzgebungsverfahrens für eine an der materiellen Gerechtigkeit orientierte Abgrenzung plädiert.
Bei Ausschöpfung dieser Informationsmöglichkeiten wäre dem Gesetzgeber schon damals eine sachgerechte Lösung möglich gewesen.
3. Der Ausschluß vom Bezug der Blindenhilfe und des Blindengeldes wird auch nicht durch andere Bezüge kompensiert. In den
Stellungnahmen wird auf die Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG, auf die Hilfe zur Pflege nach §§ 68, 69 BSHG und auf die lediglich als freiwillige Leistung gewährte Landeshilfe nach dem Runderlaß des Arbeits- und Sozialministers von
Nordrhein- Westfalen verwiesen. Diese Hilfen sind aber teils nach ihrem Sinn und Zweck, teils nach ihrer Rechtsnatur, teils
nach ihren Voraussetzungen sowie nach Art und Höhe von der Blindenhilfe und dem Blindengeld so verschieden, daß eine Kompensation
ausscheidet.
III.
1. Die Feststellung eines Verfassungsverstoßes läßt sich nicht dadurch vermeiden, daß die für Blinde geltenden Vorschriften
durch verfassungskonforme Auslegung des § 24 Abs. 1 Satz 2 BSHG und des § 1 Abs. 1 Satz 2 LBlG NRW auf andere als die dort bezeichneten Personen angewandt werden. Eine solche Auslegung verbietet sich nämlich,
wie das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluß und der V. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Stellungnahme
mit Recht ausgeführt haben.
Bei der ursprünglichen Fassung des § 24 BSHG kam es für die Gleichstellung mit den Blinden entscheidend auf die Störung der Sehfunktion, auf das Orientierungsunvermögen
an. Wenn der Gesetzgeber später die Gleichstellung mit den Blinden vom Unterschreiten bestimmter Meßwerte abhängig machte,
so spricht schon das dafür, daß nunmehr eine Auslegung des Gesetzes nach mehr funktionalen Gesichtspunkten ausgeschlossen
sein sollte.
Auch die Gesetzesmaterialien stehen einer ausdehnenden Auslegung entgegen. Man wollte durch die Angabe bestimmter Werte die
Schwierigkeiten vermeiden, welche die frühere Regelung bereitet hatte, und es sollte einer weiten Auslegung sowie der Gefahr
von Mißbräuchen entgegengewirkt werden (vgl. BTDrucks. V/3495 S. 11). Das erreichte der Gesetzgeber durch die Aufzählung bestimmter
Ursachen und eine strikte Abgrenzung innerhalb der anerkannten Ursachen.
2. Eine Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Regelungen scheidet aus, weil es Sache des Gesetzgebers ist, zwischen den
verschiedenen Möglichkeiten, die Gleichheit herzustellen, zu wählen.