Tischgebet in Kindergarten; Erschöpfung des Rechtswegs bei Eilentscheidungen
1. Verfassungsrechtsschutz gegen Eilentscheidungen erfordert die Erschöpfung auch des Hauptsacheverfahrens, sofern nicht Verfassungsverstöße
gerügt werden, die in der Eilentscheidung selbst liegen.
2. Die Durchführung eines Tischgebets vor Einnahme einer Mahlzeit im Kindergarten ist mit den Grundrechten von Kindern, die
hieran nicht teilnehmen, jedenfalls dann nicht zu vereinbaren, wenn das Tischgebet von einer missionarischen Zielsetzung getragen
ist, d.h. gezielt auf Anders- oder Nichtgläubige einwirken soll.
3. Es ist Eltern und Erziehungsberechtigten, deren Kinder nicht am Tischgebet teilnehmen sollen, zuzumuten, den Abschluss
des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, wenn den Verantwortlichen des Kindergartens die besondere Situation des beschwerdeführenden
Kindes bewusst ist und sie auf andere Kinder pädagogisch dahingehend einwirken, dem nicht am Tischgebet teilnehmenden Kind
respektvoll zu begegnen und sein Verhalten als Ausdruck einer achtenswerten eigenen weltanschaulichen Überzeugung zu tolerieren.
Gründe:
I. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die es im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes abgelehnt haben, die Durchführung eines Tischgebets in einem kommunalen Kindergarten zu untersagen (vgl. VG
Gießen, NJW 2003, S. 1265; Hessischer VGH, NJW 2003, S. 2846). Die Beschwerdeführer, ein diesen Kindergarten besuchendes, im September 1997 geborenes Kind und sein Vater, der eine atheistische
Weltanschauung vertritt, sehen durch diese Entscheidungen ihre Grundrechte aus Art.
4 Abs.
1 und Art.
6 Abs.
2 Satz 1
GG verletzt. Sie machen geltend, dass es das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates verbiete, dass Angestellte
eines kommunalen Kindergartens als Organisatoren und Veranstalter religiöser Betätigung auftreten.
II. Die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist.
Ihrer Zulässigkeit steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegen.
1. Zwar ist der Rechtsweg im Ausgangsverfahren erschöpft. Mit dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs liegt eine das Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes abschließende letztinstanzliche Entscheidung vor (vgl. §
152 VwGO). Doch kann der Grundsatz der Subsidiarität in solchen Fällen zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führen, wenn Verfassungsverstöße
gerügt werden, die sich nicht speziell auf das Eilverfahren beziehen, sondern Fragen aufwerfen, die sich genau so auch im
Hauptsacheverfahren stellen, so dass dieses geeignet ist, der behaupteten verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl.
BVerfGE 77, 381 [401]; 80, 40 [45]; 93, 1 [12]). Allerdings darf ein Beschwerdeführer nicht auf das Verfahren der Hauptsache verwiesen werden,
wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird oder wenn die Entscheidung von
keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Aufklärung abhängt und die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen
gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 79, 275 [279]; 93, 1 [12]).
2. Danach haben die Beschwerdeführer hier zunächst den Hauptsacherechtsweg zu beschreiten.
a) Die Verfassungsbeschwerde hat mit den geltend gemachten Verstößen gegen Art.
4 Abs.
1 und Art.
6 Abs.
2 Satz 1
GG ausschließlich Rügen zum Gegenstand, die nicht speziell die im Ausgangsverfahren ergangene Eilentscheidung betreffen, sondern
sich auf verlässlicher Grundlage erst nach Durchführung des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens beurteilen lassen. Denn
es besteht insoweit - in tatsächlicher wie in einfachrechtlicher Hinsicht - noch zusätzlicher Aufklärungsbedarf.
Einfachrechtlich haben die Verwaltungsgerichte das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), auf dessen hier einschlägige Regelungen die Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift im Einzelnen hingewiesen haben, bisher
nur am Rande, mit dem Hinweis auf den in § 24 SGB VIII geregelten Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens, erwähnt. Auf die nähere rechtliche Ausgestaltung des mit der Aufnahme
in eine solche Einrichtung entstehenden Rechtsverhältnisses zwischen Kind, Personensorgeberechtigten, Kindergartenträger und
-personal sind sie dabei nicht eingegangen. Nicht gewürdigt ist deshalb auch, dass die in Tagesstätten wie Kindergärten tätigen
Fachkräfte und Mitarbeiter bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach § 22 Abs. 3 SGB VIII mit den Erziehungsberechtigten zum Wohl der Kinder zusammenzuarbeiten und bei der Ausgestaltung der Jugendhilfeleistungen
auch in solchen Einrichtungen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 9 Nr. 1 SGB VIII die Rechte der Personensorgeberechtigten und des Kindes bei der Bestimmung der religiösen Erziehung zu beachten haben. Es
liegt nahe, dass sich in diesen Regelungen, die gegenüber allen Kindern und Erziehungsberechtigten zu wahren sind, die Grundrechtspositionen
konkretisieren, die bei unterschiedlichen Wertvorstellungen von Kindern und Eltern in einen Ausgleich zu bringen sind (vgl.
auch Wiesner, in: Ders./Kaufmann/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 1995, § 9 Rn. 1 ff.; Mainberger, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, K § 9 Rn. 1 [Stand: September 1998]). Die einfachrechtlichen Vorschriften können deshalb bei der rechtlichen Würdigung nicht unberücksichtigt
bleiben. Ihren Inhalt und ihre Bedeutung auch im Kontext der auf sie ausstrahlenden und durch sie zur Geltung zu bringenden
Grundrechte zu bestimmen, ist entsprechend der grundgesetzlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht
und den Fachgerichten (vgl. dazu BVerfGE 77, 381 [401]) zunächst Sache der Letzteren.
Die Verwaltungsgerichte werden bei der abschließenden Beurteilung des Begehrens der Beschwerdeführer auch darauf einzugehen
haben, dass es in dem Erziehungskonzept, das der Arbeit in dem streitgegenständlichen Kindergarten zugrunde liegt, zwar einerseits
heißt, den in der Einrichtung Tätigen sei die multikulturelle Vielfalt in der Gruppe bewusst, und anders geartete Religionen
würden toleriert, dass andererseits aber auch davon die Rede ist, es sei ein wichtiges Unterfangen, "die Kinder", also offenbar
auch anders oder nicht Gläubige, mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren; deshalb würden "viele Gebete" gelernt und
Religion, und zwar, wie dem Kontext zu entnehmen ist, christliche Religion "angeboten". Wäre dies im Sinne einer missionarischen
Betätigung, eines gezielten Einwirkens auf anders oder nicht Gläubige, zu verstehen, wäre die Durchführung des Tischgebets
als Teil des hier maßgeblichen Erziehungskonzepts mit den Grundrechten der Beschwerdeführer nicht zu vereinbaren (vgl. auch
- trotz Art.
7 Abs.
1 GG - für den Bereich der öffentlichen Volksschulen BVerfGE 93, 1 [23]).
Kann nach den noch zu treffenden ergänzenden tatsächlichen Feststellungen eine solche missionarische Zielsetzung auch gegenüber
dem beschwerdeführenden Kind ausgeschlossen werden, wie es das Verwaltungsgericht bisher im Rahmen der von ihm vorgenommenen
summarischen Prüfung pauschal angenommen hat, wird vor einer abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren weiter zu
prüfen sein, ob zusätzliche Möglichkeiten denkbar sind, die Vorphase und den Ablauf des im Kindergarten gereichten Frühstücks
so zu organisieren, dass im Hinblick auf das im Zusammenhang damit gesprochene freiwillige Tischgebet eine Exponierung und
Sonderbehandlung des daran nicht teilnehmenden beschwerdeführenden Kindes noch mehr, als bisher von den Gerichten angenommen,
vermieden werden können.
b) Es ist für die Beschwerdeführer schließlich trotz des Fortschreitens der Zeit und des Fortgangs der Betreuung und Erziehung
in dem streitgegenständlichen Kindergarten nicht unzumutbar, auf den Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden.
Den für die Planung und Durchführung von Betreuung und Erziehung Verantwortlichen ist die besondere Situation des beschwerdeführenden
Kindes bewusst. Sie sind nach den Feststellungen der Verwaltungsgerichte bemüht, dem für den Fall, dass dieses den Kindergarten
weiter besuchen wird, sowohl durch eine schonende Gestaltung des Ablaufs der gemeinsamen Mahlzeit als auch in der Weise Rechnung
zu tragen, dass auf die anderen Kindergartenkinder pädagogisch dahingehend eingewirkt wird, dem nicht am Tischgebet teilnehmenden
beschwerdeführenden Kind respektvoll zu begegnen und sein Verhalten als Ausdruck einer achtenswerten eigenen weltanschaulichen
Überzeugung zu tolerieren. Dem Beschwerdevorbringen ist nichts dafür zu entnehmen, dass der weitere Besuch des Kindergartens
für das beschwerdeführende Kind unter diesen Umständen mit unzumutbaren Belastungen und Beeinträchtigungen verbunden wäre.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).