Krankenversicherung
Selbst verschaffte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel
Verfahrensrüge
Verletzung rechtlichen Gehörs
Nichtmitteilung eines Verhandlungstermins
Übergehen eines Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung
1. Das Übergehen des Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung zur - anders nicht möglichen - Teilnahme an der mündlichen
Verhandlung stellt bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar.
2. Nach §
124 Abs.
1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung; der Mündlichkeitsgrundsatz
gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört
zu werden.
3. Die mündliche Verhandlung, aufgrund der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden, ist gleichsam das
"Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens.
4. Sie dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend
zu erörtern.
5. Wird einem Beteiligten ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt, reicht es wegen der besonderen
Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens aus, dass eine andere Entscheidung
nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen.
Gründe:
I
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist mit seinem Begehren - zuletzt gerichtet auf Erstattung von 1049,61
Euro Kosten in der Zeit vom 13.7.2010 bis 14.3.2013 aufgrund von Privatrezepten selbst verschaffter nicht verschreibungspflichtiger
Arzneimittel (Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex und Voltaflex Glucosamin), verschreibungspflichtiger
Arzneimittel (ACC Long und Batrafen Creme) sowie des Mittels Basica Compact - bei der Beklagten und den Vorinstanzen ohne
Erfolg geblieben. Das LSG hat unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG ua ausgeführt, die betroffenen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel seien nicht ausnahmsweise in den Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einbezogen. Das verschreibungspflichtige Arzneimittel ACC Long sei wegen Geringfügigkeit
der behandelten Gesundheitsstörung nicht von der GKV zu leisten, Batrafen Creme sei nicht vertragsärztlich verordnet. Basica
Compact sei kein Arznei-, sondern ein Nahrungsergänzungsmittel (Urteil vom 23.4.2015). Der erkennende Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde
des Klägers wegen der unterlassenen Beiladung des Sozialhilfeträgers und dessen möglicher Verurteilung zur Kostenerstattung
nach §
75 Abs
5 SGG das LSG-Urteil aufgehoben, soweit es über das Begehren des Klägers auf Erstattung der für die Arzneimittel Buscopan plus,
Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex und Voltaflex Glucosamin sowie ACC Long und das Nahrungsergänzungsmittel
Basica Compact aufgewandten Kosten entschieden hat. Insoweit hat der erkennende Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Im Übrigen hat er die Beschwerde als unzulässig verworfen. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren
hat das LSG den Wetteraukreis beigeladen und den Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt. Ferner hat die
Vorsitzende des LSG-Senats den Antrag des Klägers abgelehnt, zwecks Teilnahme an der mündlichen Verhandlung Taxikosten für
die An- und Abreise zu übernehmen. Das LSG hat nach mündlicher Verhandlung in Abwesenheit des Klägers die Berufung zurückgewiesen.
Die für das Sozialhilferecht zuständigen Spruchkörper hätten in einem Teil der hier gegenüber der Beklagten geltend gemachten
Kosterstattungsansprüche im Verhältnis zum Beigeladenen einen Anspruch bereits rechtskräftig verneint. Die übrigen vom Kläger
hier geltend gemachten, gegen den Beigeladenen bereits im Klagewege bei den für das Sozialhilferecht zuständigen Spruchkörpern
verfolgten Kostenerstattungsansprüche seien noch rechtshängig. Aus den Gründen der rechtskräftigen Entscheidungen sei aber
auch hier ein Anspruch gegen den Beigeladenen zu verneinen (Urteil vom 9.2.2017).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger seinen Antrag vom 12.6.2017 nicht ausdrücklich
beschränkt hat, obwohl das LSG zu Recht wegen entgegenstehender Rechtskraft die Berufung hinsichtlich des geltend gemachten
Anspruchs auf Kostenerstattung für das Medikament Batrafen Creme - wie nur aus den Gründen ersichtlich - als unzulässig verworfen
hat. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist nur noch die Entscheidung des LSG, soweit es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen
hat. Der Kläger hat jedenfalls in seiner Begründung klargestellt, dass er nur noch die Erstattung der Kosten für die Arzneimittel
Buscopan plus, Liponsäure, Loperamid, Magnesiocard, SAB Simplex, Voltaflex Glucosamin, ACC Long und das Nahrungsergänzungsmittel
Basica Compact für die Zeit vom 13.7.2010 bis 14.3.2013 begehrt. Insoweit hat er seine Beschwerde beschränkt.
Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG hinreichend bezeichnet.
1. Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 S 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Urteil des LSG ist unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör
(§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG, Art 47 Abs 2 S 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) ergangen. Das LSG hat nicht geprüft hat, ob es dem Kläger, der im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten gewesen
ist und substantiiert geltend gemacht hat, mittellos zu sein, auf seinen Antrag hin die Teilnahme der mündlichen Verhandlung
auf Kosten der Staatskasse nach dem Runderlass (RdErl) des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa
vom 23.12.2011 (5670 - II/B 3 - 2011/7729 - II/A, JMBl 2012, 37; geändert durch RdErl des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 8.4.2014 - 5670 - II/B 3 - 2013/6749 - II/A, JMBl 2014,
228; unveränderte Neuinkraftsetzung des RdErl betreffend die Gewährung von Reiseentschädigungen durch RdErl des Hessischen Ministeriums
der Justiz vom 11.10.2016 - 5670 - II/B 2 - 2016/11929 - II/A, JMBl 2016, 413 [HessRdErl-Reiseentschädigung]) über die Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen
für Reiseentschädigungen an Zeuginnen, Zeugen, Sachverständige, Dolmetscherinnen, Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer,
ehrenamtliche Richterinnen, ehrenamtliche Richter und Dritte (vgl auch die Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen
an mittellose Personen und Vorschusszahlungen etc - VwV Reiseentschädigung - idF vom 20.1.2014, BAnz AT 29.1.2014 B1) zu ermöglichen
hat (dazu a). Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler (dazu b).
a) Das Übergehen des Antrags auf Bewilligung einer Reiseentschädigung zur - anders nicht möglichen - Teilnahme an der mündlichen
Verhandlung stellt bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar (vgl
BSG Beschluss vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - Juris RdNr
11). Nach §
124 Abs
1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz
gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört
zu werden (stRspr, vgl BSGE 17, 44 = SozR Nr 16 zu §
62 SGG; BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B - Juris RdNr 8). Die mündliche Verhandlung, aufgrund der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden (§
124 Abs
1 SGG), ist gleichsam das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (stRspr; vgl BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 2; BSG Beschluss vom 4.3.2014 - B 1 KR 110/13 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - Juris RdNr 7 mwN). Sie dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den
Streitstoff erschöpfend zu erörtern (stRspr, vgl BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33; BSG Beschluss vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 17.11.2015 - B 1 KR 65/15 B - Juris RdNr 7).
Das LSG hat es versäumt, das persönlich verfasste Schreiben des Klägers vom 25.1.2017 entsprechend seinem Sinngehalt auszulegen.
Der Kläger hat dort nicht nur ausdrücklich einen PKH-Antrag unter Beiordnung seines gegenwärtigen Prozessbevollmächtigten
gestellt und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt. Er hat auch ausdrücklich unter
Hinweis auf Art
103 Abs
1 GG und auf seine Absicht, an der bereits anberaumten mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen, zusätzlich beantragt, "dem
gerichtsbekannt mittellosen und schwer behinderten Kläger für die An- und Abreise zum Termin der mündlichen Behandlung [gemeint:
Verhandlung] am 09. Februar 2017 ein TAXI zu bewilligen". In diesen Ausführungen hat sinngemäß auch der Antrag auf Bewilligung
einer Reiseentschädigung gelegen und nicht bloß die Anregung an das Gericht, das persönliche Erscheinen anzuordnen. Über diesen
Antrag hätte das LSG zeitnah vor dem Termin eine Entscheidung herbeiführen müssen. Die Vorsitzende des LSG-Senats hat in ihrem
Schreiben gemäß Verfügung vom 30.1.2017 jedoch nur ausgeführt, dass Taxikosten nicht übernommen würden, weil das persönliche
Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden sei. Indem das LSG über den Antrag auf Reiseentschädigung nicht entschieden
und zugleich PKH unter Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten abgelehnt hat, hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches
Gehör verletzt.
b) Nach §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 1
SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler,
wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Wird einem Beteiligten ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt, reicht es wegen der
besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens vielmehr aus, dass eine
andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung
vorzutragen (vgl BSGE 44, 292, 295 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 5; BSG Beschluss vom 17.2.2010 - B 1 KR 112/09 B - Juris RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 18.12.2012 - B 1 KR 90/12 B - Juris RdNr 5). Gleiches gilt für den Fall, dass - wie hier - dem Kläger der Termin zwar mitgeteilt wird, aber eine vom
Kläger bei sachgerechter Auslegung seines Antrags geforderte Prüfung der Bewilligung einer Reiseentschädigung unterbleibt,
er dem Termin fernbleibt und die geltend gemachte Mittellosigkeit als Grund des Fernbleibens nach dem Vorbringen des Klägers
in dem Rechtszug, in dem die angefochtene Entscheidung ergangen ist, nicht fern liegt. Mittellos ist ein Kläger, der nicht
in der Lage ist, die Kosten der Reise aus eigenen Mitteln zu bestreiten (I. 1. S 4 HessRdErl-Reiseentschädigung). Dies kann
nach den vom Kläger mit Schreiben vom 25.1.2017 vorgelegten Einkommensnachweisen nicht als fern liegend ausgeschlossen werden.
Ebenso wenig kann mit Blick auf die Begründung des LSG eine Verurteilung des Beigeladenen ausgeschlossen werden.
2. Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.