Gemeinschaftsrechtliche Vereinbarkeit von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG mit Art. 12 und 39 EG; Gemeinschaftsrechtliche
Unbedenklichkeit einer nationalen Regelung für den Ausschluss von selbst illegalen Migranten zu gewährenden Sozialleistungen
für Unionsbürger - [Athanasios Vatsouras (C-22/08) und Josif Koupatantze (C-23/08) gegen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg 900]
Entscheidungsgründe:
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 12 EG und 39 EG sowie die Gültigkeit von Art. 24 Abs. 2 der
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer
Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG,
90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77 und - Berichtigungen - ABl. 2004, L 229, S. 35, L 197, S. 34, sowie
ABl. 2007, L 204, S. 28).
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Vatsouras und Herrn Koupatantze einerseits und der
Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg 900 andererseits über den Entzug der ihnen zuvor gewährten Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Die Erwägungsgründe 1 und 9 der Richtlinie 2004/38 haben folgenden Wortlaut:
"(1) Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen
frei zu bewegen und aufzuhalten.
...
(9) Die Unionsbürger sollten das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten haben,
ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten außer der Pflicht, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses
zu sein, unbeschadet einer günstigeren Behandlung für Arbeitsuchende gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs."
Art. 6 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
"(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis
zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine
weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen."
Art. 7 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
"(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von
über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist ...
...
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit
als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
...
c) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr
befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen
Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
..."
Art. 14 dieser Richtlinie sieht insbesondere vor:
"(1) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen
des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie
die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
...
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre
Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
...
b) die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen
die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie
weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden."
Art. 24 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
"(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder
Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich
des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt
sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt
oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder
Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate
des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf
Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung,
in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren."
Nationales Recht
§ 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (Sozialgesetzbuch II, im Folgenden: SGB II) bestimmt:
"Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
... Ausgenommen sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, ihre Familienangehörigen
sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt."
Gemäß § 23 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer (im Folgenden: SGB XII) -
haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der
Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe.
§ 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes sieht vor:
"(1) Leistungsberechtigt nach diesem Gesetz sind Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die
..."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C-22/08
Herr Vatsouras, geboren am 10. Dezember 1973 und griechischer Staatsbürger, kam im März 2006 nach Deutschland.
Am 10. Juli 2006 beantragte er bei der ARGE Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 27. Juli 2006 bewilligte die ARGE
diese Leistungen bis zum 30. November 2006. Das von Herrn Vatsouras im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit erzielte Einkommen
wurde von den fraglichen Leistungen abgezogen, so dass sich diese auf monatlich 169 Euro beliefen. Mit Bescheid der ARGE vom
29. Januar 2007 wurden die genannten Leistungen bis 31. Mai 2007 weiterbewilligt.
Mit Ablauf des Monats Januar 2007 endete die berufliche Tätigkeit von Herrn Vatsouras.
Mit Bescheid vom 18. April 2007 hob die ARGE diese Leistungen mit Wirkung vom 30. April 2007 auf. Den von Herrn Vatsouras
gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch wies die ARGE mit Bescheid vom 4. Juli 2007 mit der Begründung zurück, dass
der Widerspruchsführer nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht leistungsberechtigt sei. Hiergegen erhob Herr Vatsouras Klage
beim Sozialgericht Nürnberg.
In der Zwischenzeit hatte er am 4. Juni 2007 eine berufliche Tätigkeit aufgenommen, die ihn von Sozialhilfe unabhängig machte.
Rechtssache C-23/08
Herr Koupatantze, geboren am 15. Mai 1952, ist griechischer Staatsbürger.
Er reiste im Oktober 2006 nach Deutschland ein und nahm am 1. November 2006 eine Arbeitsstelle an. Sein Arbeitsverhältnis
endete am 21. Dezember 2006 nach Kündigung wegen Auftragsmangel durch den Arbeitgeber.
Am 22. Dezember 2006 beantragte Herr Koupatantze bei der ARGE Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB
II. Mit Bescheid vom 15. Januar 2007 bewilligte ihm die ARGE Leistungen bis 31. Mai 2007 in Höhe von monatlich 670 Euro. Mit
Bescheid vom 18. April 2007 hob die ARGE jedoch diese Leistungen mit Wirkung vom 28. April 2007 auf.
Den von Herrn Koupatantze dagegen eingelegten Widerspruch wies die ARGE mit Bescheid vom 11. Mai 2007 mit der Begründung zurück,
dass der Widerspruchsführer nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht leistungsberechtigt sei. Hiergegen erhob Herr Koupatantze
Klage beim vorlegenden Gericht.
Am 1. Juni 2007 nahm Herr Koupatantze eine berufliche Tätigkeit auf, die ihn von Sozialhilfe unabhängig machte.
Vorlagefragen
Das Sozialgericht Nürnberg hat am 18. Dezember 2007 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen
zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG mit Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 39 EG vereinbar?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneinend beantwortet wird:
Steht Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 39 EG einer nationalen Regelung entgegen, die Unionsbürger vom Sozialhilfebezug ausschließt,
sofern die nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 zulässige Höchstdauer des Aufenthalts überschritten ist und auch nach anderen
Vorschriften kein Aufenthaltsrecht besteht?
3. Für den Fall, dass Frage 1 bejahend beantwortet wird:
Steht Art. 12 EG einer nationalen Regelung entgegen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union selbst
von den Sozialhilfeleistungen ausschließt, die illegalen Migranten gewährt werden?
Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 7. April 2008 sind die Rechtssachen C-22/08 und C-23/08 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
Zwar ist es im Rahmen der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Gemeinschafts- und den nationalen Gerichten grundsätzlich
Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob in der bei ihm anhängigen Rechtssache die Tatbestandsvoraussetzungen für die
Anwendung einer Gemeinschaftsrechtsnorm erfüllt sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Entscheidung auf ein Vorabentscheidungsersuchen
gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in
diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2000, Haim, C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Randnr. 58).
Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, sind die vorgelegten Fragen auf die Annahme gestützt, dass die Herren Vatsouras
und Koupatantze zur Zeit der in den Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse nicht die "Arbeitnehmereigenschaft" im Sinne
von Art. 39 EG hatten.
Das vorlegende Gericht hat bei Herrn Vatsouras eine "kurze und nicht existenzsichernde geringfügige" Beschäftigung und bei
Herrn Koupatantze eine "wenig mehr als einen Monat dauernde" Beschäftigung festgestellt.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Begriff "Arbeitnehmer" im Sinne von Art. 39 EG nach ständiger Rechtsprechung ein
Begriff des Gemeinschaftsrechts ist, der nicht eng auszulegen ist. Als "Arbeitnehmer" ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche
und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als
völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung
darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als
Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. u. a. Urteile vom 3. Juli 1986, Lawrie-Blum, 66/85, Slg. 1986, 2121, Randnrn. 16
und 17, sowie vom 11. September 2008, Petersen, C-228/07, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 45).
Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung kann irgendeine Auswirkung auf die
Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts haben (vgl. Urteile vom 31. Mai 1989, Bettray, 344/87, Slg. 1989,
1621, Randnr. 15, sowie vom 30. März 2006, Mattern und Cikotic, C-10/05, Slg. 2006, I-3145, Randnr. 22).
Dass die Bezahlung einer unselbständigen Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit
ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG anzusehen (vgl. Urteile vom 23. März 1982, Levin, 53/81, Slg. 1982, 1035,
Randnrn. 15 und 16, sowie vom 14. Dezember 1995, Nolte, C-317/93, Slg. 1995, I-4625, Randnr. 19), selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts
wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht (vgl. Urteil
vom 3. Juni 1986, Kempf, 139/85, Slg. 1986, 1741, Randnr. 14).
Zudem führt hinsichtlich der Dauer der ausgeübten Tätigkeit der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit von kurzer
Dauer ist, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich des Art. 39 EG ausgeschlossen ist (vgl. Urteile
vom 26. Februar 1992, Bernini, C-3/90, Slg. 1992, I-1071, Randnr. 16, und vom 6. November 2003, Ninni-Orasche, C-413/01, Slg. 2003, I-13187, Randnr. 25).
Folglich lässt sich unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit nicht ausschließen,
dass diese aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich
und echt angesehen werden kann und somit erlaubt, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 39 EG zuzuerkennen.
Sollte das vorlegende Gericht hinsichtlich der von Herrn Vatsouras und Herrn Koupatantze ausgeübten Tätigkeiten zu einem solchen
Ergebnis gelangen, wäre deren Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten geblieben, sofern
die in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Solche Tatsachenwürdigungen
fallen jedoch allein in den Verantwortungsbereich des innerstaatlichen Gerichts.
Sollten Herr Vatsouras und Herr Koupatantze die Erwerbstätigeneigenschaft behalten haben, hätten sie während des genannten
Sechsmonatszeitraums nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Anspruch auf Leistungen wie die nach dem SGB II gehabt.
Zur ersten Frage
Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit Art. 12 EG in Verbindung
mit Art. 39 EG vereinbar ist.
Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor, auf den sich andere Unionsbürger
als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen, die sich
im Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, berufen können.
Nach dieser Bestimmung ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, u. a. Arbeitsuchenden während des längeren Zeitraums,
während dessen sie dort ein Aufenthaltsrecht haben, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.
Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, fallen in den Anwendungsbereich
von Art. 39 EG und haben daher Anspruch auf die in Abs. 2 dieser Bestimmung vorgesehene Gleichbehandlung (Urteil vom 15. September
2005, Ioannidis, C-258/04, Slg. 2005, I-8275, Randnr. 21).
Außerdem ist es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung
in der Rechtsprechung erfahren hat, nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EG eine finanzielle Leistung
auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll (Urteile vom 23. März 2004, Collins, C-138/02, Slg. 2004, I-2703, Randnr. 63, und Ioannidis, Randnr. 22).
Es ist jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen
Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (Urteile vom 11. Juli 2002, D'Hoop,
C-224/98, Slg. 2002, I-6191, Randnr. 38, und Ioannidis, Randnr. 30).
Das Bestehen einer solchen Verbindung kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen
Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat (Urteil Collins, Randnr. 70).
Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und
tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle
Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll.
Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen
einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung
zu prüfen, insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung.
Wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Zweck der Leistung nach Maßgabe ihrer Ergebnisse
und nicht anhand ihrer formalen Struktur zu untersuchen.
Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis
darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll.
Auf jeden Fall ist die Ausnahme nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 im Einklang mit Art. 39 Abs. 2 EG auszulegen.
Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern
sollen, können nicht als "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesehen werden.
Nach alledem ist zu antworten, dass in Bezug auf das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche
in einem anderen Mitgliedstaat sind, die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 24 Abs.
2 der Richtlinie 2004/38 berühren könnte.
Zur zweiten Frage
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.
Zur dritten Frage
Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 EG einer nationalen Regelung entgegensteht, die Staatsangehörige
eines Mitgliedstaats der Europäischen Union von den Sozialhilfeleistungen ausschließt, die illegalen Migranten gewährt werden.
Das vorlegende Gericht nimmt im Rahmen dieser Frage auf die Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes Bezug, nach dessen
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Ausländer, die sich tatsächlich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung
nach dem
Asylverfahrensgesetz besitzen, leistungsberechtigt sind.
Daher ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 12 EG einer nationalen Regelung
entgegensteht, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, während diese Drittstaatsangehörigen
gewährt werden.
Nach Art. 12 Abs. 1 EG ist unbeschadet der Bestimmungen des EG-Vertrags in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus
Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.
Diese Bestimmung betrifft in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende Situationen, in denen ein Angehöriger
eines Mitgliedstaats nur aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats diskriminiert
wird, findet aber keine Anwendung im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen.
Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 EG einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Staatsangehörigen
der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. In Bezug auf das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind,
hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien
64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG berühren könnte.
2. Art. 12 EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen
ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden.