Kein Einsatz von Sozialabfindungen zur Prozessführung bei Härtefall
Gründe:
I.
Der Beteiligte Ziff. 1/Kläger wendet sich mit seiner sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts, wonach
ihm auferlegt wurde, aus seinem Vermögen einen Betrag von EURO 640,00 auf die Prozesskosten zu bezahlen.
Der am 10.04.1947 geborene, verheiratete und einem Kind unterhaltsverpflichtete Kläger führte unter den Aktenzeichen 4 Ca 612/02 bzw. 21 Sa 54/03 einen Kündigungsrechtsstreit beim Arbeitsgericht Reutlingen bzw. beim Landesarbeitsgericht, mit dem er sich gegen eine ordentliche
betriebsbedingte Kündigung seines Arbeitgebers vom 12.09.2002 zum 30.09.2002 wandte. Mit Beschluss vom 04.11.2002 bewilligte
das Arbeitsgericht dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe. Der Kläger bezog zu diesem Zeitpunkt Arbeitslosengeld in Höhe
von EURO 244,86. Für die zweite Instanz bewilligte das Landesarbeitsgericht dem Kläger mit Beschluss vom 05.06.2003 ebenfalls
ratenfreie Prozesskostenhilfe. Die Höhe des Arbeitslosengeldes belief sich nunmehr auf EURO 243,53 wöchentlich.
In der Berufungsinstanz schloss der Kläger mit dem Arbeitgeber am 06.11.2003 einen Vergleich, wonach das Arbeitsverhältnis
der Parteien zum 30.09.2002 endete. Der Arbeitgeber zahlte an den Kläger eine Sozialabfindung in Höhe von EURO 8.000,00 in
drei Raten, wobei die erste Rate in Höhe von EURO 4.000,00 zum 01.12.2003 und die zweite und dritte Rate in Höhe von je EURO
2.000,00 zum 01.03. und 01.04.2004 fällig werden sollten. Mit Beschlüssen vom 16.04.2003 und 28.01.2004 setzte das Arbeitsgericht
die an den beigeordnete Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu erstattende Vergütung für die I. Instanz auf EURO 644,42 und für
die zweite Instanz auf EURO 1.106,80 fest.
Im Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 28.01.2004 erteilte das Arbeitsgericht dem Kläger den Hinweis, dass es aufgrund der
vom Arbeitgeber zu zahlenden Abfindung einen Vermögenseinsatz in Höhe von EURO 1.751,02 für zumutbar halte. Hiergegen wandte
sich der Kläger mit Schriftsatz vom 16.02.2004. Mit Beschluss vom 02.03.2004 setzte das Arbeitsgericht den aus dem Vermögen
aufzubringenden Betrag auf EURO 640,00 fest. Zur Begründung führte das Arbeitsgericht aus, die Abfindung von EURO 8.000,00
liege deutlich über der Schongrenze, die im vorliegenden Fall EURO 2.813,00 betrage. Grundsätzlich seien 10 % des Nennwerts
der Abfindung als Vermögenseinsatz zu leisten. Im Hinblick auf den aktuellen Arbeitslosenhilfebezug werde der Vermögenseinsatz
jedoch auf 8 % reduziert.
Gegen den ihm am 08.03.2004 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 08.04.2004 sofortige Beschwerde eingelegt. Er trägt vor,
bei der Abfindungszahlung handele es sich um wirtschaftlich zweckgebundenes Vermögen, welche er nicht auf die Prozesskostenhilfe
zu verwenden brauche. Darüber hinaus sei der Abfindungsbetrag nicht in einer Summe, sondern in drei Raten ausbezahlt worden.
Zwischenzeitlich liege ihm der Bescheid über die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe vor. Der Zahlbetrag liege nur noch bei
EURO 164,36 wöchentlich. Er benötige die Abfindung für seine Lebensführung.
Mit Beschluss vom 11.05.2003 half das Arbeitsgericht Reutlingen der sofortigen Beschwerde nicht ab, sondern legte sie dem
Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vor. Im Beschwerdeverfahren hat sich der Vertreter der Staatskasse mit Schriftsatz vom
28.06.2004 dahingehend geäußert, dass der Einsatz der Sozialabfindung im vorliegenden Fall eine besondere Härte für die Partei
darstellen könne. Die Freibeträge und Wohnkosten überstiegen die Einnahmen des Klägers um monatlich ca. EURO 500,00. Darüber
hinaus seien die Arbeitsplatzaussichten des Klägers zu berücksichtigen.
II.
Die gemäß §
11 Abs.
1 RPflG, §
127 Abs.
2 Satz 2
ZPO zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Klägers ist begründet. Die Voraussetzungen
für eine Abänderung der Entscheidung über die zu leistenden Zahlungen nach §
120 Abs.
4 ZPO liegen nicht vor.
1. Gemäß §
120 Abs.
4 Satz 1
ZPO kann das Gericht die Entscheidung über die zu leistenden Zahlungen ändern, wenn sich die für die Prozesskostenhilfe maßgebenden
persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben. Im vorliegenden Fall liegt eine nachträgliche Änderung
der wirtschaftlichen Verhältnisse vor. Denn mit ihren Beschlüssen vom 04.11.2002 bzw. 05.06.2003 hatten das Arbeitsgericht
und das Landesarbeitsgericht dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und mangels eines einsetzbaren Vermögens auch
keinen aus dem Vermögen zu zahlenden Betrag festgesetzt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers änderten sich erst
aufgrund des Vergleichs vor dem Landesarbeitsgericht vom 06.11.2003, wonach sich der Arbeitgeber verpflichtete, an den Kläger
eine Sozialabfindung in Höhe von EURO 8.000,00 zu bezahlen, zahlbar in Höhe von EURO 4.000,00 zum 01.12.2003 und in Höhe von
je EURO 2.000,00 zum 01.03. bzw. zum 01.04.2004.
2. Im Grundsatz hat das Arbeitsgericht zutreffend entschieden, dass die dem Kläger zugeflossene Abfindung einen Vermögenswert
darstellt, der im Rahmen der Prozesskostenhilfe gemäß §
115 Abs.
2 ZPO zu berücksichtigen ist. Nach der genannten Vorschrift hat die Partei ihr Vermögen einzusetzen, soweit dies zumutbar ist.
§ 88 des Bundessozialhilfegesetzes gilt entsprechend. Nach der mittlerweile in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend
vertretenen Auffassung stellt eine Sozialabfindung im Sinne des §§ 9, 10 KSchG einen nach §
115 Abs.
2 ZPO zu berücksichtigenden Vermögenswert dar (vgl. nur aus der neueren Zeit: LAG Hamm, 10.04.2003 - 4 Ta 750/02 - zitiert nach Juris; LAG Niedersachsen, 28.03.2003 - 17 Ta 87/03 - LAGE Nr. 1 zu §
115 ZPO 2002; OLG Sachsen-Anhalt, 30.10.2002 - 4 W 60/02 - zitiert nach Juris; LAG Nürnberg, 27.01.2000 - 3 Sa 140/99 - JurBüro 2000, 314; Künzl/Koller, Prozesskostenhilfe, 2. Auflage, Rz 206; Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe,
3. Auflage Rz 316; Musielak-Fischer,
ZPO, 3. Auflage, §
115 Rz 52; eher für die Einordnung als Einkommen Zöller-Philippi,
ZPO. 24. Auflage, §
115 Rz 5; Münchener Kommentar-Wax, 2. Auflage, § 115 Rz 86).
Die Gegenauffassung, wonach die Sozialabfindung nach §§ 9, 10 KSchG als Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes zweckgebunden und daher nicht als Vermögen einzusetzen ist (LAG Bremen,
20.07.1988 - 1 Ta 38/88 - LAGE Nr. 29 zu §
115 ZPO; Baumbach/Lauterbach,
ZPO, 61. Auflage, §
115 Rz 51), teilt die Kammer nicht. Es trifft zwar zu, dass die Abfindung nach §§ 9, 10 KSchG ebenso wie eine Sozialplanabfindung dazu dient, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbundenen Nachteile auszugleichen
oder zumindest abzumildern. Die Sozialabfindung hat somit eine Entschädigungs- und Überbrückungsfunktion (KR-Spilger, 6. Aufl.,
§ 10 KSchG Rz. 11; BAG, 21.10.2003 - 1 AZR 407/02 - AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 163). Andererseits ist der Arbeitnehmer aber in der Verwendung der Sozialabfindung frei; eine Zweckbindung besteht nicht.
Es gibt auch keinen Sachgrund dafür, dass die Staatskasse die Kosten der Prozessführung tragen soll, wenn dem Arbeitnehmer
das Kapital zur Prozessführung zur Verfügung steht oder nachträglich zur Verfügung gestellt wird. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe
soll die Situation von bemittelten und unbemittelten Parteien bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angleichen
(vgl. nur BVerfG, 07.04.2000 - 1 BvR 81/00 - AP
ZPO §
114 Nr. 12). Die unbemittelte Partei soll aber nicht besser gestellt werden. Ob im konkreten Fall die Sozialabfindung als Vermögen
eingesetzt werden muss, ist eine Frage der Zumutbarkeit nach §
115 Abs.
2 ZPO.
3. Im vorliegenden Fall bedarf es keiner grundsätzlichen Entscheidung, nach welchen Maßstäben der Einsatz einer Sozialabfindung
auf die Prozesskosten zumutbar ist, insbesondere ob eine Bindung der Gerichte an die Zumutbarkeitsregelungen des Sozialhilferechts
besteht oder nicht (vgl. die Nachweise bei LAG Hamm, 10.04.2003, a.a.O.). Das Arbeitsgericht hat sich insoweit der ständigen
Rechtsprechung des Landesarbeitsgerichts Hamm angeschlossen, wonach die bedürftige Partei grundsätzlich 10 % des Nennwerts
einer Sozialabfindung einzusetzen hat, wenn das gesetzliche Schonvermögen nach § 88 Abs. 2 Ziff. 8 BSHG in Verbindung mit der Verordnung zur Durchführung des § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG vom 11.02.1988 überschritten wird (vgl. nur LAG Hamm, 10.04.2003, a.a.O.; gegen eine derartige, pauschalierende Betrachtung
LAG Niedersachsen, 28.03.2003, a.a.O.; LAG Rheinland-Pfalz, 06.03.1995 - 4 Ta 14/95 -LAGE Nr. 51 zu §
115 ZPO). Den Umstand, dass der Kläger nunmehr Arbeitslosenhilfe bezieht, hat das Arbeitsgericht als besondere Notlage im Sinne des
§ 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG gewertet und deswegen die Anrechnung auf 8 % der Abfindungssumme beschränkt.
Nach Auffassung der Beschwerdekammer hat das Arbeitsgericht jedoch mit dieser nach wie vor pauschalierenden Betrachtungsweise
die besonderen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht hinreichend berücksichtigt. Es trifft zwar
zu, dass das Vermögen des Klägers das Schonvermögen überschreitet, das der bedürftigen Partei nach der Verordnung zur Durchführung
des § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG verbleiben muss. Nach § 1 Abs. 1 Ziff. 1 a) dieser Verordnung unterfällt ein Betrag von EURO 2.300,01 zuzüglich eines Betrages von EURO 256,00 für jede unterhaltsberechtigte
Person dem sogenannten Schonvermögen, wenn die Sozialhilfe vom Vermögen des Hilfesuchenden abhängig ist. Im vorliegenden Fall
wären hiernach EURO 2.813,00 anrechnungsfrei. Nach § 2 der Verordnung ist der maßgebende Betrag angemessen zu erhöhen, wenn
im Einzelfall eine besondere Notlage des Hilfesuchenden besteht.
Es ist jedoch weiter zu berücksichtigen, dass die Sozialhilfe nach § 88 Abs. 3 BSHG nicht vom Einsatz oder der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden darf, soweit dies für den Bedürftigen eine
Härte bedeuten würde. Dabei kann eine Härte nicht erst dann angenommen werden, wenn die bedürftige Partei die Sozialabfindung
ganz oder zumindest überwiegend einsetzen müsste (so LAG Hamburg, 13.08.1997 - 1 Ta 3/97 - LAGE Nr. 52 zu §
115 ZPO). Vielmehr ist auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der
bedürftigen Partei abzustellen. Hiernach muss der Kläger die - mittlerweile vollständig - gezahlte Sozialabfindung insgesamt
nicht einsetzen. Denn im bis zum 30.09.2002 bestehenden Arbeitsverhältnis verfügte der Kläger über ein Nettoeinkommen von
rd. EURO 1.600,00. Ab dem 01.10.2002 bezog der Kläger zunächst Arbeitslosengeld von rd. EURO 240,00 und nach dessen Auslaufen
ab dem 24.01.2004 Arbeitslosenhilfe. Die Arbeitslosenhilfe beläuft sich auf EURO 164,36 wöchentlich, also auf EURO 711,68
monatlich. Das Familieneinkommen hat sich somit, selbst wenn man das mittlerweile gezahlte Wohngeld von EURO 87,00 berücksichtigt,
auf weniger als 50 % des früheren Nettoeinkommens reduziert. Wie der Vertreter der Staatskasse zutreffend ausgeführt hat,
übersteigen die anzurechnenden Freibeträge für Kläger, Ehefrau und Kind sowie die Kosten für Unterkunft und Heizung das Einkommen
des Klägers (unter Berücksichtigung des Kindergelds und des Wohngelds) um nahezu EURO 500,00. Es kommt hinzu, dass der mittlerweile
57-jährige Kläger als Maurer nur äußerst beschränkte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hat. Angesichts des anhaltenden Arbeitsplatzabbaus
in der Baubranche ist damit zu rechnen, dass der Kläger langfristig arbeitslos sein wird. Um auch nur zeitweise den bisherigen
sozialen Standard der Familie sichern zu können, ist der Einsatz der Sozialabfindung für den Lebensunterhalt unabdingbar.
Unter den gegebenen Umständen würde es für den Kläger eine Härte im Sinne des § 88 Abs. 3 BSHG darstellen, wenn er auch nur einen Teil der Sozialabfindung auf die Prozesskosten einsetzen müsste.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst; die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§
127 Abs.
4 ZPO). Eine Gerichtsgebühr nach der Gebührenziffer 9302 des Gebührenverzeichnisses ist nicht zu erheben, weil die sofortige Beschwerde
Erfolg hatte. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde waren nicht gegeben, weil es sich um eine Einzelfallentscheidung
zu § 88 Abs. 3 BSHG handelt.