Anspruch des Trägers der Grundsicherung auf Abzweigung des Kindergeldes
Gründe
I. Die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) gewährt dem Vater (V) der am ... Juni 1989 geborenen T Kindergeld.
T ist schwerbehindert (GdB 100 %, Merkzeichen G). Sie lebt im Haushalt des V, der zugleich ihr Betreuer ist, und arbeitet
in einer Behindertenwerkstatt.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) gewährt T Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem
Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe von derzeit 302,68 €. V leistet gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII für seine Tochter einen monatlichen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 30,80 €.
Außerdem zahlt der Antragsteller für T Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII i.V.m. § 41 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch in Höhe von monatlich 1.031,91 € an die Werkstätten für behinderte Menschen.
Mit Schreiben vom 12. Juli 2010 beantragte der Rechtsvorgänger des Antragstellers, das gegenüber dem V für T festgesetzte
Kindergeld an ihn abzuzweigen. Mit Bescheid vom 4. August 2010 lehnte die Familienkasse den Antrag nach Anhörung des Kindergeldberechtigten
ab, da V den vorgeschriebenen Kostenbeitrag entrichte und ihm weitere Kosten für T entstünden.
In dem hiergegen geführten Einspruchsverfahren bezifferte V die ihm im Zeitraum von Dezember 2008 bis Juni 2010 für den Unterhalt
der T entstandenen Aufwendungen.
Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2011 als unbegründet zurück, da V seine Unterhaltspflicht
erfülle.
Hiergegen erhob der Antragsteller Klage. Die Familienkasse nahm nach Abweisung des Abzweigungsantrages im August 2010 die
Kindergeldzahlung wieder auf und zahlt das Kindergeld fortlaufend an V aus. Sie beabsichtigt auch nicht, die Auszahlung des
Kindergeldes bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren einzustellen.
Mit Schreiben vom 29. November 2011 beantragte der Antragsteller bei der Familienkasse "die Aussetzung der Vollziehung des
Bewilligungsbescheides über die Gewährung von Kindergeld ... gemäß §
361 Abs.
2 Abgabenordnung und somit die vorläufige Einstellung der Kindergeldzahlung". Die Familienkasse lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 12.
Dezember 2011 als unzulässig ab.
Den mit Schriftsatz vom 4. Januar 2012 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wies das Finanzgericht (FG)
zurück.
Mit der Beschwerde, verfolgt der Antragsteller sein Begehren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung weiter. Zur Begründung
führt er im Wesentlichen aus, dass die Familienkasse das Kindergeld weiter auszahle. Bereits ausgezahltes Kindergeld könne
nicht mehr abgezweigt werden, so dass für den Antragsteller keine Möglichkeit bestehe, seine Ansprüche durchzusetzen. Die
FG-Entscheidung verstoße gegen die im Senatsurteil vom 9. Februar 2009 III R 37/07 (BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928) aufgestellten Grundsätze, da sie davon ausgehe, dass bei volljährigen behinderten Kindern, die in den Haushalt des Kindergeldberechtigten
aufgenommen worden sind, grundsätzlich davon ausgegangen werden könne, dass der Kindergeldberechtigte Unterhaltsleistungen
erbringe, die den Betrag des Kindergeldes übersteigen würden.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Einstellung der Auszahlung des Kindergeldes bis zu einer endgültigen Entscheidung
über den Abzweigungsantrag im Hauptsacheverfahren anzuordnen.
Die Familienkasse beantragt,
die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet; die tatsächlichen Grundlagen des erhobenen Anspruchs sind auch im Beschwerdeverfahren
nicht hinreichend dargetan worden.
1. Nach § 114 Abs. 1 Sätze 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des betreffenden Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um
wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Satz 2).
Diese gesetzlichen Grundlagen für den Erlass von einstweiligen Anordnungen nach § 114 Abs. 1 FGO unterscheiden sich u.a. darin, dass im erstgenannten Falle (Satz 1) die Sicherung eines bestehenden Zustands (Sicherungsanordnung)
und im zweiten Falle (Satz 2) eine Verbesserung der bisherigen Rechtsposition in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
(Regelungsanordnung) erreicht werden kann. Dagegen stimmen beide Grundlagen insoweit überein, als auch für die einstweilige
Anordnung gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO aufgrund der Verweisung in § 114 Abs. 3 FGO auf Vorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO) der Antragsteller den Anspruch und den Grund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung glaubhaft zu machen hat (vgl.
§§
920 Abs.
2 und
294 ZPO), wobei als Anspruch in diesem Sinne der Anspruch aus dem Rechtsverhältnis anzusehen ist, der vom Antragsteller in der Hauptsache
verfochten wird oder werden soll (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Januar 1993 VII B 169/92, BFH/NV 1994, 554, m.w.N.).
2. Seiner verfahrensmäßigen Last der hinreichenden Darlegung und Glaubhaftmachung ist der Antragsteller zumindest in Beziehung
auf den Anordnungsanspruch auch in der Beschwerdeinstanz nicht nachgekommen, so dass nach den unter 1. dargelegten Grundsätzen
unentschieden bleiben kann, auf welche der beiden gesetzlichen Grundlagen im Falle der Stattgabe eine einstweilige Anordnung
zu stützen wäre.
Als Anspruch im erörterten Sinne kommt allein das vom Antragsteller geltend gemachte Recht in Betracht, von der Familienkasse
gemäß §
74 Abs.
1 Satz 4 des
Einkommensteuergesetzes (
EStG) die Abzweigung des zugunsten des V festgesetzten Kindergeldes an sich zu verlangen.
Da es sich bei der Entscheidung über die Abzweigung um eine Ermessensentscheidung der Familienkasse handelt, ist dem FG nach
§ 102 FGO nur eine auf Ermessensfehler beschränkte Überprüfungsmöglichkeit eingeräumt (z.B. Senatsurteil vom 9. Februar 2009 III R 38/07, BFH/NV 2009, 1107, unter II.3.a). Wird im Hauptsacheverfahren eine im Ermessen der Behörde stehende Entscheidung begehrt, so besteht nach der
Rechtsprechung des BFH ein Anordnungsanspruch nicht erst, wenn nach dem Vorbringen zur Begründung der einstweiligen Anordnung
der Ermessensspielraum soweit eingeengt ist, dass nur eine dem Antragsteller günstige Ermessensentscheidung in Betracht kommt,
sondern bereits dann, wenn danach für eine ihm günstige Ermessensentscheidung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht
(z.B. BFH-Beschluss vom 12. Februar 1991 VII B 170/90, BFH/NV 1992, 42, unter II.2., m.w.N.).
3. Im Streitfall besteht unter den gegebenen Umständen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Begehren des
Antragstellers auf Abzweigung des Kindergeldes stattgegeben werden wird.
a) Nach §
74 Abs.
1 Sätze 1, 3 und 4
EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte
ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig
ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende
Kindergeld.
b) Der Kindergeldberechtigte V ist als Verwandter in gerader Linie nach den §§
1601 ff. des
Bürgerlichen Gesetzbuches (
BGB) zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da T sich nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach §
1610 Abs.
2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehört auch der behinderungsbedingte Mehrbedarf der T.
aa) Die Unterhaltsverpflichtung wird nicht durch die Gewährung von Eingliederungshilfe an T ausgeschlossen, da es sich um
eine subsidiäre Sozialleistung handelt, die den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien soll (Senatsurteil
vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, unter II.1.a, m.w.N.). Der Unterhaltsanspruch des Kindes, für das Sozialleistungen gewährt werden, geht grundsätzlich nach
§ 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialleistungsträger über. Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibt
auch insoweit bestehen, als der Unterhaltsanspruch eines volljährigen behinderten Kindes --wie im Streitfall-- nach § 94 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGB XII nur in Höhe eines Betrags von 26 € monatlich --bzw. des an die jeweilige Kindergelderhöhung angepassten Betrags-- auf den
Sozialleistungsträger übergeht (Senatsurteil in BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928, unter II.1.a). Denn diese Regelung hat nur zur Folge, dass der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialleistungsträger,
soweit er den Betrag von 26 € überschreitet, ausgeschlossen ist, setzt also voraus, dass überhaupt ein Unterhaltsanspruch
besteht.
bb) Die Unterhaltsverpflichtung wird auch nicht wegen der für T gewährten Grundsicherungsleistungen wegen Erwerbsminderung
ausgeschlossen. Wie der Senat mit Urteil vom 17. Dezember 2008 III R 6/07 (BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926, unter II.1.) entschieden hat, zählen zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen des Kindes auch Grundsicherungsleistungen,
soweit sie nicht subsidiär sind. Sofern das Einkommen der Eltern unter der nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII geltenden Grenze von 100.000 € liegt, bleiben die gegen sie bestehenden Unterhaltsansprüche des Kindes unberücksichtigt.
Daher mindern die Grundsicherungsleistungen den unterhaltsrechtlichen Bedarf des Kindes. § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII steht jedoch nur der Anrechnung von Unterhaltsansprüchen, nicht jedoch der Berücksichtigung von tatsächlich geleisteten Unterhaltszahlungen
entgegen. Zum Einkommen des Grundsicherungsberechtigten gehören deshalb tatsächlich an ihn erbrachte Unterhaltszahlungen,
selbst wenn das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten die Einkommensgrenze des § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII unterschreitet (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. Dezember 2006 XII ZR 84/04, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2007, 1158).
cc) V ist seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, da er die von dem Sozialleistungsträger erbrachten Kosten
--mit Ausnahme des Kostenbeitrags in Höhe von 30,80 €-- nicht übernommen hat. Ob er diese Kosten trotz Leistungsfähigkeit
oder mangels Leistungsfähigkeit nicht übernommen hat, kann dahingestellt bleiben, da nach §
74 Abs.
1 Sätze 1 und 3
EStG dem Grunde nach in beiden Fällen eine Abzweigung in Betracht kommt.
c) Zu Recht ist das FG für Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes davon ausgegangen, dass ein Ermessensfehler ausscheidet,
da allein die Ablehnung der Abzweigung ermessensgerecht war (sog. Ermessensreduzierung auf Null).
aa) Nach der Rechtsprechung des Senats sind bei der Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den --dem
Kind anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden-- Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, auch geringe Unterhaltsleistungen
der Eltern zu berücksichtigen. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, wird eine Abzweigung jedoch nicht
als ermessensgerecht angesehen (Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, unter II.2., m.w.N.).
bb)Im vorliegenden Fall war das Kind --anders als in dem Sachverhalt, der der von dem Antragsteller zitierten Entscheidung
in BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928 zugrunde lag-- nicht vollstationär untergebracht, sondern befand sich nur tagsüber in der Behindertenwerkstatt. Über Nacht
und an den freien Tagen befand sich T im Haushalt des Kindergeldberechtigten. Im Unterschied zu dem der Entscheidung in BFHE
224, 228, BStBl II 2009, 926 (unter II.2.) zugrunde liegenden Sachverhalt war der auf das Kind entfallende Anteil an den Kosten für Unterkunft und Heizung
nach den von dem Antragsteller nicht bestrittenen Feststellungen des FG auch nicht in die für T gewährte Leistung der Grundsicherung
nach dem SGB XII einbezogen. Vielmehr erbrachte V insoweit selbst Unterhaltsleistungen gegenüber T.
cc) Wie der Senat in der Entscheidung in BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928 (unter II.3.a) ausgeführt hat, ist zwar die Berücksichtigung fiktiver Kosten des Kindergeldberechtigten ausgeschlossen. Handelt
es sich indessen --wie im Streitfall-- um tatsächlich entstandene Kosten für die Unterkunft, sind diese näher zu beziffern
oder gegebenenfalls zu schätzen. Nach Aktenlage hat V die Kosten für die der T überlassenen Räumlichkeiten im Dachgeschoss
seines Hauses mit 350 € zzgl. 50 € Nebenkosten beziffert, diese Kosten jedoch nicht nachgewiesen bzw. glaubhaft gemacht. Somit
ist für Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes zunächst eine Schätzung der dem V entstandenen Aufwendungen vorzunehmen. Der
Senat hat aus Gründen der Vereinfachung insoweit keine Bedenken, für die Frage der Bewertung der T überlassenen Unterkunft
auf die Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung --SvEV--) in der jeweils geltenden Fassung zurückzugreifen. Der Wert einer als Sachbezug zur Verfügung gestellten Unterkunft wird
gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 SvEV i.d.F. vom 2. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2453) auf monatlich 212 € festgelegt. Unter zusätzlicher Berücksichtigung des von V geleisteten Kostenbeitrags in Höhe von 30,80
€ hat der Kindergeldberechtigte bereits Unterhaltsaufwendungen getragen, die den gesetzlichen Kindergeldbetrag von 184 € deutlich
überschreiten. Es kann daher auch dahingestellt bleiben, ob V darüber hinaus weitere Aufwendungen entstanden sind. Eine Abzweigung
scheidet folglich nach der sich aus §
74 Abs.
1 Satz 3 Alternative 2
EStG ergebenden gesetzlichen Wertung aus (vgl. Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, unter II.2., m.w.N.).