Möglichkeit des zusätzlichen Ansatzes des Behinderten-Pauschbetrags nach § 33b Abs. 3 EStG zu den Leistungen der Eingliederungshilfe als behinderungsbedingter Mehrbedarf im Falle einer teilstationären Unterbringung
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter ihres im August 1973 geborenen Sohnes M. Dieser leidet seit seinem
7. Lebensjahr an einer schweren Epilepsie. Laut letztem Bescheid des Niedersächsischen Landesamts für Soziales, Jugend und
Familie beträgt der Grad der Behinderung (GdB) 100. Zudem wurden die Merkzeichen "G", "B", "RF" sowie "H" festgestellt.
M lebt in einer eigenen Wohnung in O, wo er von seinen Eltern betreut, versorgt und unterstützt wird. Zeitweise wird M auch
im elterlichen Haushalt versorgt. Er geht einer Beschäftigung im Arbeitsbereich der O Werkstätten gGmbH gGmbH (Werkstatt für
behinderte Menschen WfbM ) nach und erhält insoweit einschließlich eines freien Mittagessens Eingliederungshilfen gemäß §§
53, 54 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (SGB XII). Als Arbeitsentgelt
in der teilstationären Einrichtung erhält M seit Januar 2008 monatlich 152,28 EUR. Daneben bezieht er nach Abzug der Beiträge
zur Kranken- und Pflegeversicherung eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 557,35 EUR.
Den Antrag auf Kindergeld für M lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 13. März 2008 ab.
Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte für den Streitzeitraum ab Januar 2008 keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, bei der Ermittlung des existentiellen
Lebensbedarfs sei neben dem Grundbedarf mangels Einzelnachweises ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe des Behinderten-Pauschbetrags
zu berücksichtigen. Dem stehe weder entgegen, dass M in einem eigenen Haushalt lebe, noch dass er diesen tagsüber für seine
Tätigkeit in den Werkstätten der gGmbH (WfbM) verlasse. Es sei offensichtlich, dass auch in einem solchen Fall ein behinderungsbedingter
Mehrbedarf entstehe.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine Verletzung des §
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (
EStG). Nach Abschnitt 63.3.6.4 Abs. 2 Satz 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X.
Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (Stand Januar 2009, BStBl I 2009, 1033) sei zur Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs auch bei nur teilstationärer Unterbringung immer ein Einzelnachweis
erforderlich. Neben dem auf der Grundlage der gezahlten Eingliederungshilfe ermittelten Mehrbedarf komme der zusätzliche Ansatz
des Behinderten-Pauschbetrags nicht in Betracht, weil der Ansatz der Kosten für die Unterbringung in einer WfbM einem Einzelnachweis
entspreche, so dass daneben für einen Pauschbetrag kein Raum bleibe.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision der Familienkasse ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen. Das FG hat den Kindergeldanspruch der Klägerin im Ergebnis zu Recht bejaht.
1.
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. §
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 EStG besteht für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
2.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn
es mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln seinen gesamten notwendigen Lebensbedarf bestreiten kann. Der
existentielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf)
und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Hinsichtlich des Grundbedarfs gilt der Jahresgrenzbetrag
des §
32 Abs.
4 Satz 2
EStG als Maßstab. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle
mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Aufwendungen für zusätzliche Wäsche, Unterstützungs-
und Hilfeleistungen sowie typische Erschwernisaufwendungen.
Zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln gehören nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge
als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter, wie beispielsweise die Kosten der Unterbringung in einer WfbM
(Eingliederungshilfe - z.B. Lange/Novak/Sander/ Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst, §§
32,
63 EStG Erl. C VII 12 III/A.10 Rz 352 f. und 366). Auf die Herkunft der Mittel und ihre Zweckbestimmung kommt es in diesem Zusammenhang
nicht an (Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, §
32 EStG Rz 486).
3.
Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass M im Streitzeitraum behinderungsbedingt nicht in der Lage war, sich selbst
zu unterhalten.
a)
Nach den Feststellungen des FG verfügte M monatlich nur über Einnahmen aus seiner Tätigkeit in der WfbM in Höhe von 152,28
EUR sowie über eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 557,35 EUR. Unschädlich ist im Streitfall letztlich, dass das FG
die Kosten für die Beschäftigung von M in der WfbM nicht der Höhe nach festgestellt hat. Diese von dem Sozialleistungsträger
im Rahmen der Eingliederungshilfe (§§ 53, 54 SGB XII) getragenen Kosten sind sowohl als behinderungsbedingter Mehrbedarf als
auch als dem Kind zur Verfügung stehende finanzielle Mittel anzusetzen. Sie wirken sich damit im Ergebnis nur in Höhe des
als Sachbezug zu erfassenden Verpflegungswerts für das freie Mittagessen aus. Das FG hat die Berechnung der Familienkasse
übernommen und ist insoweit von einem Betrag in Höhe von 80 EUR ausgegangen, hat also den Monatswert der Sozialversicherungsentgeltverordnung
in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (SvEV) vom 21. Dezember 2006 (BGBl. I 2006, 3385, BStBl I 2006, 782) herangezogen. Unter anteiliger Berücksichtigung von Arbeitnehmer-Pauschbetrag (§
9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a
EStG), Werbungskostenpauschbetrag (§
9a Satz 1 Nr. 3
EStG) und der Kostenpauschale von 180 EUR belaufen sich die Mittel von M auf maximal 689,46 EUR monatlich. Tatsächlich ist davon
auszugehen, dass dieser Betrag noch zu hoch ist, da nach § 2 Abs. 6 SvEV für die Tage, an denen keine Verpflegung zur Verfügung
gestellt wurde, kein Sachbezug anzusetzen ist.
b)
Im Streitzeitraum belief sich der Grundbedarf von M auf monatlich 640 EUR. Entgegen der Ansicht der Familienkasse kann nicht
davon ausgegangen werden, dass der behinderungsbedingte Mehrbedarf nur den betragsmäßig nicht nachgewiesenen Unterbringungskosten
in der WfbM entspricht, daneben also kein weiterer Mehrbedarf zu berücksichtigen wäre.
aa)
Zwar hat der BFH einerseits bereits entschieden, dass auch im Fall einer nur teilstationären Unterbringung der Behinderten-Pauschbetrag
nach §
33b Abs.
3 EStG nicht zusätzlich zu den Leistungen der Eingliederungshilfe für die Werkstattunterbringung angesetzt werden kann (vgl. BFH-Urteile
vom 24. August 2004 VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052, unter 2.b, und VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332). An dieser Auffassung hält der Senat fest (s. bereits Senatsurteil vom 31. August 2006 III R 71/05, BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054).
bb)
Der BFH hat jedoch andererseits keine Zweifel daran gehabt, dass zusätzlich zu den Aufwendungen für die teilstationäre Unterbringung
ein weiterer behinderungsbedingter Mehrbedarf anfällt, da offensichtlich ist, dass ein behindertes Kind mit dem Merkmal "H"
während des Aufenthalts in dem Haushalt, in dem es lebt, der Betreuung bedarf und nicht ohne Hilfeleistungen anderer Personen
auskommt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052, unter 2.c). Dabei macht es keinen Unterschied, ob das behinderte Kind in dem Haushalt der Eltern lebt oder es wie es nach
den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des FG vorliegend zeitweise der Fall war in einer eigenen Wohnung
lebt und dort versorgt, betreut und unterstützt wird.
Der BFH hat ebenfalls klargestellt, dass dieser zusätzliche behinderungsbedingte Mehrbedarf nicht nur dann zu berücksichtigen
ist, wenn die dafür angefallenen Kosten nachgewiesen werden, sondern dass dieser ggf. nach §
162 der
Abgabenordnung zu schätzen ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052).
cc)
M ist bei einem GdB von 100 zusätzlich das Merkzeichen "H" zuerkannt. Letzteres ist im Schwerbehindertenausweis einzutragen,
wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos i.S. des §
33b EStG oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs. 1 Nr.
2 der auf Grund von § 70 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ergangenen Schwerbehindertenausweisverordnung - Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Februar 2003 B 9 SB 1/02 R, BFH/NV 2004, Beilage 2, 189, mit weiteren Ausführungen zum Ausmaß des Hilfebedarfs). Dies setzt voraus, dass die Person für eine Reihe von häufig und
regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe
dauernd bedarf (§
33b Abs.
6 Satz 3
EStG). Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den Verrichtungen
erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung
erforderlich ist (§
33b Abs.
6 Satz 4
EStG).
Nach den Feststellungen des FG wurde M im Streitzeitraum von der Klägerin und ihrem Mann versorgt, betreut und unterstützt.
Aus diesen nicht angegriffenen Feststellungen ergibt sich zugleich, dass der M infolge seiner Behinderung zusätzlich zu seiner
teilstationären Unterbringung entstehende Mehrbedarf vernünftigerweise nicht unter 50 EUR im Monat liegen kann. Dann aber
reichen seine Mittel nicht aus, um seinen gesamten Lebensbedarf zu decken, und das FG hat die Familienkasse letztendlich zu
Recht zur Festsetzung von Kindergeld für den Streitzeitraum verpflichtet.