Tatbestand:
Die beklagte landwirtschaftliche Krankenkasse lehnte den Antrag des bei ihr versicherten Klägers ab, die Kosten der Anschaffung
eines Optacon-Lesegerätes und der erforderlichen Ausbildung an diesem Gerät für den familienhilfeberechtigten Sohn Klaus zu
übernehmen (Bescheid vom 2. März 1984; Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 1984). Der im Jahre 1971 geborene Sohn Klaus leidet
an einer beiderseitigen totalen Erblindung. Das beanspruchte elektronische Lesegerät ermöglicht es einem Blinden, Schwarzschrift
zu "lesen". Es überträgt die elektronisch registrierte Schwarzschrift auf vibrierende Stifte eines Tastgitters. Eine als Zubehör
lieferbare Vergrößerungslinse ermöglicht die Wahrnehmung auch kleinerer Druckbuchstaben und Zahlen. Das Lesegerät (Modell
R 1 D) kostete im Januar 1984 mit Vergrößerungslinse 14.922,90 DM, die Ausbildung 3.560 DM. Der Sohn des Klägers hat den Optaconberatungstest
bestanden, und zwar die Teste 1 und 3 überdurchschnittlich, den Test 2 durchschnittlich.
Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für die Anschaffung und
Ausbildung zu übernehmen.
Die zugelassene Berufung der Beklagten blieb vor dem Landessozialgericht erfolglos (Urteil vom 15. Januar 1986). Beide Vorinstanzen
haben das Lesegerät als Hilfsmittel im Sinne des § 13 Abs. 2 KLVG (Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte), der
insoweit mit § 182 Abs. 2 der
Reichsversicherungsordnung übereinstimmt, angesehen. Der Einsatz des Hilfsmittels diene der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen
Grundbedürfnisse. Zu diesen gehöre auch die Fähigkeit, Geschriebenes lesen zu können, was durch die Schulpflicht bestätigt
werde.
Mit der vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung der §§ 13 Abs. 2 und 16 Abs. 2 KVLG. Das Optacon-Lesegerät sei kein Hilfsmittel im Sinne der Krankenversicherung (vgl. das Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts
vom 20. Mai 1987, 8 RK 45/85). Das BSG habe auch für Blindenschriftschreibmaschinen die Hilfsmitteleigenschaft verneint, da diese nicht auf einen unmittelbaren
Ausgleich der Behinderung abzielten, was auch für das Optacon-Lesegerät gelte.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Januar 1986 sowie des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. November
1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Wenn der "Blindenführhund" vom BSG als medizinisches Hilfsmittel anerkannt werde, so müsse dies auch für das Lesegerät gelten.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
Der Rechtsstreit war an das LSG zurückzuverweisen, weil eine abschließende Entscheidung weitere tatsächliche Feststellungen
erfordert.
Gemäß den §§ 32, 33, 12 und 13 KVLG kann der Kläger von der Beklagten für seinen Sohn die Gewährung von Krankenpflege beanspruchen, die ausreichend und zweckmäßig
sein muß, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf (§ 13 Abs. 2); sie umfaßt die Gewährung von Hilfsmitteln
(§ 13 Abs. 1 Nr 3). Nach der näheren Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 1 KVLG (in der hier anzuwendenden Fassung des Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetzes vom 22. Dezember 1981) besteht Anspruch auf die
Ausstattung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um (u.a.) eine körperliche Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht
als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind; der Anspruch umfaßt die Ausbildung im Gebrauch des
Hilfsmittels (Satz 2), nicht jedoch die Mehrkosten eines aufwendiger als notwendig Gewählten (Satz 3).
Zu den entsprechenden Vorschriften in der allgemeinen Krankenversicherung hat der 8. Senat des BSG in dem angeführten Urteil
vom 20. Mai 1987 bereits entschieden, daß das Optacon- Lesegerät für Blinde ein Hilfsmittel im Sinne des § 182b
RVO ist. Es könne den Verlust des Sehvermögens in nicht unbedeutendem Umfang hinsichtlich der Unfähigkeit zum Lesen gedruckter
Textvorlagen ausgleichen. Das mit dem Hilfsmittel zu befriedigende Grundbedürfnis dürfe sich jedoch im Einzelfall nicht durch
verfügbare andere Mittel annähernd gleich befriedigen lassen. Das betroffene Grundbedürfnis sei hier nicht das Lesen selbst,
sondern das von Sehenden durch Lesen weitgehend befriedigte Informationsbedürfnis. Zu seiner Abdeckung bedürfe es nicht der
mit dem Optacon-Gerät möglichen "spontanen" Form der Information, da aktuelle Informationen auch auf andere Weise, insbesondere
über den Hörfunk zugänglich seien. Daß die Verweisung hierauf und auf die in Blindenschrift erhältlichen Druckschriften beim
damaligen Kläger andere elementare, sonst mittels des Optacon-Gerätes zu befriedigende Grundbedürfnisse unerfüllt lasse, konnte
der 8. Senat den Feststellungen des LSG im seinerzeit angefochtenen Urteil nicht entnehmen.
Der erkennende Senat kann den Ausführungen des 8. Senats für Sachverhalte, wie sie dort zugrunde gelegt wurden, folgen. Anders
als in jenem Falle läßt sich jedoch aus den vom LSG hier getroffenen Feststellungen nicht erkennen, daß sich für den Sohn
des Klägers dessen Informationsbedürfnisse schon über Hörfunk und Blindendruckschriften ausreichend befriedigen lassen. Hierzu
braucht der Senat nicht näher darauf einzugehen, daß Informationen des Hörfunks nicht fixiert sind und denen in Zeitungen
und Zeitschriften inhaltlich nicht ohne weiteres entsprechen sowie daß Blindendruckschriften als Ersatz verfügbar sein müssen.
Denn abgesehen hiervon vermitteln die über Hörfunk und Blindendruckschriften erhältlichen Informationen nur einen Teil derjenigen
Informationen, die Sehende durch Lesen von Druckschriften gewinnen können. Auch insoweit kann jedoch das Optacon- Gerät einen
Ausgleich schaffen. Dies wird bestätigt durch Gutachten, die Urteilen der Sozialgerichte Würzburg (WzS 1982, 311) und Karlsruhe
(Breith 1984, 183, 185) zugrunde lagen. Dort ist ausgeführt, mit dem Gerät könne Schwarzschrift in den üblichen Formaten und Blattaufteilungen
gelesen werden, es eigne sich vor allen Dingen zum Lesen kürzerer Artikel in Zeitschriften (Fachzeitschriften, Tageszeitschriften),
zum Nachlesen ausgewählter Kapitel in Fachbüchern oder Tabellen, zum Nachschlagen in Lexika, zum selbständigen Arbeiten am
Computer (mit Sichtgerät oder mit ausgedruckten Protokollen) sowie zum selbständigen Bearbeiten von Korrespondenz; ohne fremde
Hilfe könnten so z.B. Unterlagen durchgesehen, Telefonnummern aufgefunden, mit Schreibmaschine angefertigte Schriftstücke
kontrolliert, Kontoauszüge und anderes mehr überprüft werden.
Im vorliegenden Falle ist nicht auszuschließen, daß bei dem Sohn das Klägers ein konkreter Bedarf nach weiteren Informationen
als die über Hörfunk und Blindendruckschrift erhältlichen besteht, zumal er Schüler eines Gymnasiums (Missionsgymnasium) ist.
Auch ein solcher weiterer Bedarf wäre Teil des Grundbedürfnisses auf Information, das Sehende durch Lesen befriedigen; er
wäre darum auch in der gesetzlichen Krankenversicherung zu berücksichtigen. Wenn ein Hilfsmittel eine ausgefallene Funktion
nur teilweise ausgleichen kann, wie hier das Optacon-Gerät die ausgefallene Funktion des Sehens, verlangt die Rechtsprechung
allerdings, daß der Ausgleich in einem mehr als nur unwesentlichen Umfang stattzufinden vermag (vgl. SozR 2200 § 182 b Nr.
25, 28, 33). Im Hinblick hierauf wären bei einem festgestellten weiteren Informationsbedarf des Sohnes des Klägers zusätzliche
Klärungen erforderlich.
Es wäre zunächst zu prüfen, inwieweit der Sohn des Klägers körperlich und geistig imstande ist, sein Informationsbedürfnis
über den Inhalt von Druckschriften mit Hilfe des Optacon-Gerätes zu erfüllen. Er hat zwar den Beratungstest bestanden; der
Inanspruchnahme des Gerätes könnten jedoch etwa durch Ermüdungen beim Tasten und Nachlassen der Konzentration zeitliche Grenzen
gezogen sein. Zu erwägen wäre sodann, wie sich bei dem Sohn des Klägers die Befriedigung des mit dem Gerät erfüllbaren, über
Informationen mittels Hörfunks und Blindendruckschriften hinausreichenden Bedarfs auswirkt. Dazu gehören die Fragen, welche
Gebrauchsvorteile er dadurch hat, inwieweit er auf die Befriedigung dieses Bedarfs angewiesen ist, insbesondere - was die
Rechtsprechung wiederholt herausgestellt hat - inwieweit er mit Hilfe des Geräts den durch die Behinderung eingeschränkten
Freiraum zu erweitern vermag, ob er also z.B. ganz oder weitgehend auf fremde Hilfe verzichten kann, um den Inhalt der ihm
zugänglichen Druckschriften zu erfassen. Die hierbei gebotene Abwägung der Notwendigkeit bzw Erforderlichkeit des Hilfsmittels
zum teilweisen Ausgleich der ausgefallenen Sehfunktion hätte aber auch die Kosten des Hilfsmittels im Blickpunkt zu behalten
(vgl. Baader, DOK 1984, 446). Es würde dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechen, wenn Umfang und Notwendigkeit
des teilweisen Ausgleichs und die entstehenden Kosten in keinem angemessenen Verhältnis mehr stünden. Das Gesetz setzt mehrfach
ausdrückliche Schranken durch die Begriffe der Notwendigkeit und der Erforderlichkeit sowie durch die Nichterstattung überflüssiger
Kosten. Damit steht es im Einklang, beim nur teilweise möglichen Ausgleich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Danach kann jedenfalls eine Bedürfnisbefriedigung wesentlichen Umfangs insbesondere bei nicht unerheblicher Erweiterung des
Freiraums auch höhere Kosten rechtfertigen.
Da der Senat nach alledem auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht zu einer abschließenden Entscheidung
des Rechtsstreits in der Lage ist, muß er diesen zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen,
das dann über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu befinden hat.