Verfassungsmäßigkeit der Anknüpfung des Anspruchs auf Erziehungsgeld an die Personensorge
Gründe:
I. Die Beschwerdeführerin hat im Juli 1988 ein Kind in Pflege genommen, hinsichtlich dessen dem Jugendamt, das auch Pflegegeld
gewährte, die Personensorge übertragen war. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mit dem
Grundgesetz vereinbar ist, daß die Beschwerdeführerin vom Bezug des Erziehungsgeldes nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) ausgeschlossen war, weil ihr weder die Personensorge hinsichtlich des Pflegekindes zustand (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BErzGG) noch sie das Kind in die Obhut mit dem Ziel der Adoption aufgenommen hatte (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG).
II. Über die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß Artikel 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl. I S. 1442) - ÄndG - nach §§ 93 a, 93 b BVerfGG in der Fassung des Art. 1 ÄndG zu entscheiden. Annahmegründe nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat - ihre Zulässigkeit unterstellt - keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung. Auch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten nicht angezeigt. Die den
angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegenden Normen des Bundeserziehungsgeldgesetzes und die Entscheidungen selbst halten
einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand.
1. a) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber für den Anspruch auf Erziehungsgeld in § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BErzGG an die "Personensorge" im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§
1626 Abs.
1 S. 2, 1631
BGB) angeknüpft hat. Denn die Personensorge umfaßt nach §
1631 Abs.
1 BGB das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Erst das
Sorgerecht begründet das Rechtsverhältnis, aus dem die Verpflichtung zur Betreuung und Erziehung des Kindes fließt. Der Gesetzgeber
wollte nach der Ziel- und Zweckbestimmung des Bundeserziehungsgeldgesetzes erreichen, daß das Kind in seiner ersten Lebensphase
die ständige Betreuung durch eine "feste Bezugsperson" erhält, so daß im Hinblick auf die Pflege und Erziehung des Kindes
im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BErzGG mit dem Erfordernis der Personensorge eine gesicherte rechtliche Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson vorausgesetzt wird
(vgl. BTDrucks. 10/3792, S. 14). Der Personensorgeberechtigte entscheidet darüber, wer das Kind betreut. Der Nichtsorgeberechtigte
könnte die Betreuung des Kleinkindes nur auf einer rechtlich ungesicherten Grundlage übernehmen; der Personensorgeberechtigte
hätte jederzeit die Möglichkeit, ihm die Betreuung zu entziehen, und müßte dies gegebenenfalls aufgrund seiner Pflicht zur
Personensorge sogar tun (vgl. BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. August 1986 [1 BvR 637/85] = SozR 2200
§ 200 Nr. 10; Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 1993 [1 BvR 55/93]).
b) Durch das Erziehungsgeld sollen weder tatsächliche Einkommenseinbußen ausgeglichen noch der tatsächliche Betreuungsaufwand
entschädigt werden; vielmehr soll lediglich die Betreuung und Erziehung eines Kindes durch eine nicht oder nicht voll erwerbstätige,
sorgeberechtigte Person in der ersten Lebensphase des Kindes allgemein gefördert werden (vgl. BTDrucks. 10/3792 S. 13; BVerfG,
Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juni 1989 [1 BvR 594/89] = SozR 7833 § 3 Nr. 2). Eine Vergütung für die durch
die in Pflegeverhältnissen geleisteten Erziehungsaufgaben enthält dagegen das Pflegegeld, das früher nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz
(vgl. Münder u.a., Frankfurter Kommentar zum Gesetz für Jugendwohlfahrt, 4. Aufl., Abschnitt IV, Vorbem. 3.1.) sowie - jetzt
- nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (vgl. § 39 Abs. 3 S. 1, dazu Krug/Grüner/Dalichau, Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII, § 39 Anm. I., II.1., III.) gewährt wird. Dies durfte der Gesetzgeber beim Ausschluß der Pflegemutter vom Erziehungsgeld berücksichtigen.
2. Auch gegenüber anderen Anspruchsberechtigten wird die Beschwerdeführerin nicht oder jedenfalls nicht ohne sachlich rechtfertigende
Gründe benachteiligt.
a) Bei der Anspruchsberechtigung des Stiefelternteils nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 BErzGG hat der Gesetzgeber auf die "dauerhafte Familienbeziehung" aufgrund der Ehe abgestellt (vgl. BTDrucks. 10/3792, S. 15). Dies
ist sachgerecht, denn ein Stiefvater hat zu dem Kind eine rechtlich nähere Beziehung als ein Pflegevater (vgl. BVerfGE 31,
101 [110 f.]).
b) Bei einem "Kind, das mit dem Ziel der Annahme als Kind in die Obhut des Annehmenden aufgenommen ist" (§ 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG), ist die "auf Dauer angelegte Familienbeziehung, weil diese in der Regel in eine Adoption übergeht", maßgebend (vgl. BTDrucks.
10/3792, S. 15). Dies ist gleichfalls sachgerecht. Die "Obhut" ist der Zustand, welcher der elterlichen Sorge, wäre sie zugeteilt,
entspricht (vgl. Lüderitz, in: Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 8, Familienrecht II, 3. Aufl., § 1751
Rndr. 5).
3. a) Aus der Bestimmung des § 38 SGB VIII (in Verbindung mit § 33) in der Fassung des Art. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1163) folgt jedenfalls für die hier maßgebende Zeit der Jahre 1988 und 1989 nichts anderes.
Diese Bestimmung, die §
1630 Abs.
3 BGB ergänzt und die Ausübung des Personensorgerechts durch die Pflegeperson betrifft, ist zum 1. Januar 1991 neu eingeführt worden;
eine solche Regelung war bislang im Jugendwohlfahrtsgesetz nicht enthalten (vgl. dazu Krug/Grüner/Dalichau, Kinder- und Jugendhilfe,
SGB VIII, § 38 Anm. I).
b) Nichts anderes ergibt sich im Hinblick auf § 1 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 3 Abs. 3 BErzGG. Auch diese Regelung hat in den Jahren 1988 und 1989 noch nicht gegolten. Die Anspruchsberechtigung für die Betreuung und
Erziehung eines "nach dem 31. Dezember 1991 geborenen leiblichen Kindes des nicht sorgeberechtigten Antragstellers, mit dem
dieser in einem Haushalt lebt", ist erst durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer
Vorschriften vom 6. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2142) ab 1. Januar 1992 eingeführt worden. Selbst wenn der Gesetzgeber damit
im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 84, 168 für das Erziehungsgeldrecht eine künftige Regelung im Bereich des Familienrechts zur Einführung einer gemeinsamen elterlichen
Sorge bei bestehender eheähnlicher Lebensgemeinschaft in Aussicht gestellt haben könnte, ergäbe sich aufgrund dieser Neuregelung
nicht, daß der Gesetzgeber bereits 1988/1989 von Verfassungs wegen gehalten gewesen wäre, bei Pflegemüttern auf das Erfordernis
der "Personensorge" nach § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BErzGG zu verzichten. Aus der Unvereinbarkeit des § 1738 Abs. 1
BGB mit der Verfassung folgt nicht ohne weiteres die Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BErzGG (vgl. Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 1993 [1 BvR 55/93]).
4. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz kann auch nicht daraus hergeleitet werden, daß in anderen Sozialleistungsgesetzen
Stief- und Pflegeeltern gleichbehandelt werden. Maßgebend ist im Sozialleistungsbereich jeweils der Zweck der einzelnen Leistungen.
Zwar vermögen bestehende Unterschiede zwischen verschiedenen Rechtsbereichen (Leistungsbereichen) mitunter rechtspolitisch
nicht mehr voll zu überzeugen. Dies genügt aber nicht für die Annahme eines Verfassungsverstoßes. Angesichts der Verzweigtheit
und Vielschichtigkeit der ohne einheitlichen Plan gewachsenen Regelungen muß es dem Gesetzgeber überlassen bleiben, in welcher
Zeitfolge er gebotene Änderungen und Verbesserungen auf den verschiedenen Einzelgebieten vornehmen will. Die Forderung, der
Gesetzgeber müsse im Interesse sozialer Gerechtigkeit überall strikte Gleichförmigkeit schaffen und auch bei künftigen Änderungen
wahren, könnte dazu führen, daß Reformen, die sich aus finanziellen Gründen oder wegen der beschränkten Kapazität des Gesetzgebungs-
und Verwaltungsapparates nur schrittweise verwirklichen lassen, von vornherein unterblieben (vgl. BVerfGE 40, 121 [140]). Es verstößt deshalb auch nicht gegen Art.
3 Abs.
1 GG, daß beispielsweise Pflegemütter von der Gewährung von Kinderziehungsleistungen ausgeschlossen sind (vgl. BVerfG, Beschluß
der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 1992 [1 BvR 700/90] = NZS 1993, S. 212).
5. Auch die Auslegung des § 1 Abs. 3 Nr. 1 BErzGG durch das Bundessozialgericht hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung stand. Wenn das Bundessozialgericht für die Aufnahme
des Pflegekindes in die "Obhut" mit dem Ziel der Annahme als Kind nicht einen bloßen Annahmewillen genügen läßt, sondern verlangt,
daß dieser Annahmewillen nach außen, beispielsweise durch eine Adoptionsbewerbung bekundet wird, so ist dies nachvollziehbar
und läßt eine Fehleinschätzung von Grundrechten nicht erkennen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.