Regress wegen Überschreitung von Richtgrößen
Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage
Angemessene Bearbeitungsdauer
Zureichender Grund für eine verspätete Bearbeitung
Gründe:
I.
Im der Beschwerde zugrunde liegenden Hauptsachverfahren streiten die Beteiligten über die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen
Überschreitens der Richtgrößen nach §
106 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V).
Mit Bescheid vom 16. Oktober 2007 hat der Prüfungsausschuss Niedersachsen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen
Versorgung im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2005 gegen den Kläger einen Regress iHv 11.067,53 Euro festgesetzt.
Gegen den Bescheid hat der Kläger am 22. Oktober 2007 Widerspruch eingelegt und am 26. September 2012 Untätigkeitsklage vor
dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben.
Der Beklagte hat seine Untätigkeit damit begründet, dass zurzeit die Widersprüche zu den Richtgrößenprüfungen 2003 und 2004
bearbeitet würden. Dass die Bearbeitung in chronologischer Reihenfolge geschehe, sei dem Kläger bekannt. Die verschiedentlichen
Änderungen des gesetzgeberischen Willens seit dem Ergehen des Regressbescheides vom 11. Dezember 2008 und die fehlende Klarheit
der neuen Normierungen für die praktische Umsetzung hätten zu Verzögerungen geführt. Als "prominenteste" Änderungen des gesetzgeberischen
Willens sei auf das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) zum 1. November 2011 sowie das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen
in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG) hinzuweisen. Der Beklagte habe zudem aufgrund von gerichtlichen Entscheidungen das Prüfverfahren umstellen müssen. Die Erstellung
eines neuen "Prüftools" sei sehr zeitaufwendig. Wegen der Gesetzesänderungen und der neuen zu berücksichtigenden Rechtsprechung
sei ein weiterer Zeitraum auf die Bearbeitungsdauer aufzuschlagen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Verfahren der
Richtgrößenprüfung 2003 habe ca vier Jahre betragen. Seit Aufnahme der Tätigkeit am 1. Oktober 2004 habe der Beklagte zunächst
eine sehr große Anzahl an Altverfahren seines Rechtsvorgängers abzuarbeiten gehabt. Der Vorgang der Übernahme von Verfahren
des Rechtsvorgängers habe sich zum 1. Januar 2010 mit der erweiterten Zuständigkeit des Beklagten für die Verfahren des Sprechstundenbedarfs
ergeben. In diesem Zusammenhang seien gut 3.700 Verfahren vom Rechtsvorgänger übernommen worden, wobei ca 500 Verfahren Prüfquartale
betroffen hätten, die vor dem Prüfungsjahr der streitgegenständlichen Richtgrößenprüfung gelegen hätten. Zudem habe es noch
weitere Verfahren des Sprechstundenbedarfs gegeben, die noch länger in der Widerspruchsinstanz anhängig gewesen seien als
die Verfahren der Richtgrößenprüfung 2005 und 2006. Des Weiteren hat der Beklagten seine Untätigkeit damit begründet, dass
er selbst neben seinen Mitgliedern über keine personelle Ausstattung verfüge.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat mit Beschluss vom 12. Juli 2013 das Verfahren gemäß §
88 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) bis zum Ablauf des 31. Oktober 2014 ausgesetzt. Für die Untätigkeit des Beklagten liege ein zureichender Grund vor. Aufgrund
der zwischenzeitlich eingetretenen Gesetzesänderungen und aufgrund der Komplexität des Richtgrößenverfahrens sei dem Beklagten
eine Bearbeitung des Widerspruchs erst innerhalb von 15 Monaten möglich.
Gegen den am 23. Juli 2013 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 23. August 2013 Beschwerde bei dem Landessozialgericht
(LSG) Niedersachsen-Bremen mit der Begründung eingelegt, dass ein zureichender Grund für die Untätigkeit nicht gegeben sei.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft.
Nach §
172 Abs
1 SGG findet gegen Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser
Gerichte die Beschwerde an das Landessozialgericht statt, soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Nach §
172 Abs
2 SGG können prozessleitende Verfügungen, Aufklärungsanordnungen, Vertagungsbeschlüsse, Fristbestimmungen, Beweisbeschlüsse, Beschlüsse
über Ablehnung von Beweisanträgen, über Verbindung und Trennung von Verfahren und Ansprüchen und über die Ablehnung von Gerichtspersonen
nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Die Entscheidung über die Aussetzung eines Verfahrens zählt nicht hierzu (Leitherer
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl, §
172 Rn 3).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der Beklagte hat zureichende Gründe für die verspätete Entscheidung über den Widerspruch
des Klägers nicht plausibel dargelegt (zur Obliegenheit der Behörde, schlüssig vorzutragen vgl Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-1500 § 88 Nr 1).
Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden
worden, so ist nach §
88 Abs
1 SGG die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes zulässig. Liegt ein zureichender
Grund dafür vor, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht nach S 2 der Vorschrift
das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm gesetzten Frist aus, die verlängert werden. Ob ein zureichender Grund vorliegt,
muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden.
1. Soweit der Beklagte vorträgt, dass ausgehend von einer chronologischen Abarbeitung des Verfahrensbestandes erst jetzt Widersprüche
der Jahre 2003 und 2004 zur Bearbeitung anstünden, kann dies nicht als ausreichende Erklärung angesehen werden, weil schon
nicht ersichtlich ist, wie es zu diesen langen Verfahrenszeiten gekommen ist. Ein Bearbeitungszeitpunkt von neun bzw zehn
Jahren nach dem maßgeblichen Prüfungsjahr ist insgesamt als drastisch verspätet anzusehen. In diesem Zusammenhang ist darauf
hinzuweisen, dass es Prüfgremien in anderen Bezirken trotz im Wesentlichen gleicher Rechtsproblematik deutlich früher gelungen
ist, bezogen auf die Richtgrößenprüfung das Widerspruchsverfahren zum Abschluss zu bringen (Sachsen: Regress für 2006, Bescheid
des Beschwerdeausschusses vom August 2009, vgl BSG, Urteil vom 5. Juni 2013 - B 6 KA 40/12 R; Nordrhein: Regress für 2007, Bescheid des Beschwerdeausschusses vom April 2010, vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom
15. Mai 2013 - L 11 KA 147/11; Baden-Württemberg, Regress für 2008, Bescheid des Beschwerdeausschusses vom September 2012, vgl LSG Baden-Württemberg, Beschluss
vom 19. Februar 2013 - L 5 KA 222/12 ER B; alle über Juris).
2. Darüber hinaus gelingt es dem Beklagten auch nicht, nachvollziehbar darzulegen, welche Gesetzesänderungen seit 2008 genau
zu welchen Schwierigkeiten bei der Bearbeitung geführt haben. Insoweit wäre ein Vortrag des Beklagten schon deshalb notwendig
gewesen, weil sich viele der erwähnten Änderungen gerade nicht auf das hier maßgebliche Prüfungsjahr 2005 beziehen. Es wird
auch nicht nachvollziehbar erläutert, welche Vorgaben der Rechtsprechung zu welchen Änderungen im Prüfverfahren geführt haben
und warum dies Jahre seit Beendigung des maßgeblichen Prüfungsjahrs in Anspruch genommen hat. Das gleiche gilt für die geänderten
"Prüftools", deren Bedeutung und Auswirkungen nicht hinreichend erläutert werden. Ausstehende Entscheidungen von Sozialgerichten
oder des LSG sind für die Anordnung einer Aussetzung des Verfahrens ohne Einverständnis des Widerspruchsführers ebenfalls
nicht ausreichend (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO., § 88 Rn 7b). Unerheblich ist ferner, dass der Kläger
selbst verspätet die Anzeige des Wechsels seines Prozessbevollmächtigten angezeigt bzw den Widerspruch erst nach 15 Monaten
begründet hat; denn auch dies vermag eine Bearbeitungszeit von (bislang) sechs Jahren nicht zu erklären.
3. Die vom Beklagten geschilderte Zusatzbelastung durch die Übernahme von Verfahren der Rechtsvorgänger in den Jahren 2004
und 2010 kann zwar grundsätzlich als zureichender Grund für eine verspätete Entscheidung angesehen werden. Allerdings hätte
die Behörde substantiiert darlegen müssen, dass sie das ihr Mögliche und Zumutbare unternommen hat, um trotz gestiegenen Geschäftsanfalls
die Sache zeitgerecht zu erledigen (vgl BSG SozR 3-1500 § 88 Nr 1). Bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung muss insbesondere dargetan werden, dass die zur Einrichtung und Ausstattung der
Prüfungsausschüsse verpflichteten Vertragspartner alle vorhandenen Möglichkeiten zur Bewältigung von Zusatzbelastungen (zB
Aufstockung des Personals) ausgeschöpft haben. Die diesbezügliche Anfrage des SG vom 7. März 2013 hat der Beklagte aber im Wesentlichen unbeantwortet gelassen. Insbesondere hat er keine verlässlichen Angaben
zur Personalausstattung gemacht. Zur Personalausstattung gehören in diesem Zusammenhang nicht nur die Mitglieder des Beklagten,
sondern auch die Mitarbeiter der Geschäftsstelle der Prüfeinrichtungen, die die Entscheidungen des Beklagten vorbereiten.
Selbst wenn aber der Beklagte und die ihn tragenden Vertragspartner sich nach Kräften bemüht hätten, die Voraussetzungen für
eine schnellere Erledigung der Verfahren zu schaffen, spricht viel für einen Erfolg der Untätigkeitsklage. Es ist allgemein
anerkannt, dass ein Amtswalter sich nicht dauerhaft - also auch nach Jahren seit der Übernahme zusätzlicher Verfahren - darauf
berufen kann, zur Aufgabenerfüllung mangels ausreichender Ausstattung mit den erforderlichen Mitteln nicht in der Lage zu
sein (so ausdrücklich BSG SozR 3-1500 § 88 Nr 1).
Insgesamt ist deshalb auf die Beschwerde des Klägers der Aussetzungsbeschluss des SG vom 12. Juli 2013 aufzuheben.
Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Bei Entscheidungen über Beschwerden gegen Zwischenentscheidungen in einem noch
anhängigen Rechtsstreit bleibt die Entscheidung über die Kosten dieses Zwischenverfahrens der abschließenden Entscheidung
des SG über die Kosten vorbehalten (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO., § 176 Rn 5a).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).