Sozialhilferecht: Eingriederungshilfe bei betreutem Wohnen
Tatbestand:
Der Kläger wurde nach langjähriger stationärer Behandlung in einer Klinik für Psychiatrie mit vier weiteren psychisch Behinderten
in einer von einem privaten Verein betreuten Wohngruppe untergebracht. Die Betreuung erfolgte zunächst durch ehrenamtliche
Kräfte und eine bzw. zwei im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Arbeitsverwaltung geförderte Sozialarbeiterinnen.
Der Beklagte lehnte es ab, die Betreuungskosten als Maßnahme der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Der anzuerkennende Bedarf
sei durch die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingesetzten Kräfte gedeckt. Die Widerspruchsbehörde half dem Widerspruch
in Höhe eines Betrags von monatlich 516,51 DM ab und wies den Widerspruch im übrigen zurück. Die Teilstattgabe erfolgte nach
Maßgabe eines Betreuungsschlüssels von 1 : 12 (eine Vollzeitkraft für zwölf in einer betreuten Wohnform untergebrachte Hilfeempfänger)
unter Zugrundelegung der für einen durchschnittlich besoldeten Sozialarbeiter entstehenden Kosten.
Der Kläger verlangt die Übernahme der Personalkosten, die dem Betreuungsverein für die Unterstützung des Klägers tatsächlich
entstanden und die nicht durch andere Mittel gedeckt sind. Das OVG verpflichtete den Beklagten zur Neubescheidung.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger hatte in dem entscheidungserheblichen Zeitraum dem Grunde nach einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe
für Behinderte gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Danach ist Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind, Eingliederungshilfe
zu gewähren. Der Kläger gehörte unstreitig zu dieser Personengruppe. Seine Unterbringung in der betreuten Wohngruppe diente
dem Zweck, ihm die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 39 Abs. 3 Satz 2 BSHG). Sie war eine Hilfemaßnahme iSv § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG.
In dem entscheidungserheblichen Zeitraum hatte sich der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Eingliederungshilfe für die
Unterbringung in der Wohngruppe verdichtet. Auch dies ist zwischen den Parteien nicht mehr streitig, nachdem die Widerspruchsbehörde
dem Kostenerstattungsbegehren teilweise stattgegeben hat. Der Senat folgt dieser Einschätzung. Nach den Feststellungen des
Sachverständigen, die insoweit mit den amtsärztlichen Stellungnahmen übereinstimmen, war der Kläger fähig, in der Wohngruppe
zu leben. Kostengünstigere Alternativen sind für den entscheidungserheblichen Zeitraum nicht ersichtlich. Auf einen Verbleib
in der Klinik für Psychiatrie konnte der Kläger offensichtlich schon deshalb nicht verwiesen werden, weil das Ziel der Eingliederungshilfe
- die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft - in einer stationären Einrichtung in weit geringerem Maß verwirklicht werden
konnte. Im übrigen hätte einer weiteren Krankenhausunterbringung das in § 3a BSHG verankerte Vorrangprinzip entgegengestanden. Für die Annahme, eine stationäre Hilfe sei weiterhin zumutbar und eine ambulante
Hilfe mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden (§ 3a Satz 2 BSHG), bestehen keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Unterbringung in der Klinik für Psychiatrie mit deutlich
höheren Aufwendungen verbunden gewesen wäre.
Der Beklagte ist für die begehrte Hilfe als vom örtlichen Träger der Sozialhilfe beauftragte Gemeindebehörde sachlich zuständig
(§§ 99, 96 Abs. 1 Satz 2 BSHG iVm § 3 Abs. 1 AG BSHG NW). Die Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe ist nicht begründet. Bei der betreuten Wohnung handelt es
sich insbesondere nicht um ein Heim oder eine gleichartige Einrichtung iSv § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG. Unter diese Vorschrift fällt ein in einer besonderen Organisationsform unter verantwortlicher Leitung zusammengefaßter Bestand
an persönlichen und sachlichen Mitteln, der auf eine gewisse Dauer angelegt und für einen größeren wechselnden Personenkreis
bestimmt ist.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 24.2.1994 - 5 C 17.91 -, ZfSH/SGB 1995, 535, - 5 C 42.91 -, FEVS 45, 52, und - 5 C 13.91 -, FEVS 45, 183.
Daran fehlt es bei einer Wohngemeinschaft aus Behinderten, die - wie hier - zwecks Eingliederung in die Gemeinschaft von einem
privaten Verein in einem zeitlich begrenzten Umfang sozialpädagogisch betreut werden.
Vgl. OVG Bremen, Urteil vom 25.11.1986 - 2 BA 28/86 -, FEVS 36, 338 (342).
Da der Kläger im Berufungsverfahren nunmehr nur noch einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe im Umfang der Personalkosten
geltend macht, die dem Betreuungsverein für die Unterstützung des Klägers tatsächlich entstanden und die nicht durch andere
Mittel (Förderung der Fachkräfte durch die Arbeitsverwaltung, bereits bewilligte Eingliederungshilfe) gedeckt sind, bedarf
keiner abschließenden Beurteilung, ob der Kläger in dem entscheidungserheblichen Zeitraum ursprünglich einen höheren Betreuungsbedarf
hatte. Sozialhilfe ist nur in dem durch den Widerspruchsbescheid bewilligten Umfang geleistet und die Hilfe im übrigen durch
den Betreuungsverein als Dritten erbracht worden. Dadurch sind mögliche weitergehende Ansprüche des Klägers durch Zeitablauf
erloschen.
Im Umfang der tatsächlich erbrachten Hilfeleistung scheitert der mit der Klage verfolgte Anspruch allerdings nicht daran,
daß insoweit ein Hilfebedarf des Klägers nicht mehr besteht. Der Senat folgt der Rechtsprechung des BVerwG, wonach im Interesse
der Effektivität des Rechtsschutzes von der tatbestandlichen Voraussetzung einer gegenwärtigen Notlage abzusehen ist, wenn
der Bedarf zwischenzeitlich im Wege der Hilfe durch Dritte erfüllt worden ist. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß es gegen
die gesetzliche Gewährung des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe verstoßen würde, wenn der Hilfebedürftige seinen Anspruch wegen
anderweitiger Bedarfsdeckung allein deshalb verlieren würde, weil er die ihm zustehende Hilfe nicht rechtzeitig vom Sozialhilfeträger
erhalten hat.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.6.1994, - 5 C 26.92 -, FEVS 45, 138, 141.
Die in diesen Fällen bestehende Voraussetzung, daß der Sozialhilfeträger vor der Deckung des Bedarfs Kenntnis von der Notlage
erlangt hat (§ 5 BSHG), ist hier erfüllt: Dem Beklagten ist vor Beginn des entscheidungserheblichen Zeitraums, also vor Januar 1991, zur Kenntnis
gebracht worden, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe vorlagen. Ein dahingehendes Hilfebegehren
ist jedenfalls mit dem sozialhilferechtlichen Grundantrag vom 19.11.1990 zum Ausdruck gebracht worden. Darin wird ausdrücklich
um Übernahme der Kosten für die Unterbringung in der betreuten Wohngruppe ersucht.
Nicht zu folgen vermag der Senat der Auffassung des VG, der geltend gemachte Anspruch scheitere daran, daß der Betreuungsverein
die streitbefangenen Aufwendungen ohne Rückzahlungsverpflichtung des Klägers als "verlorenen Zuschuß" finanziert habe (wird
ausgeführt).
War der Hilfeanspruch danach dem Grunde nach gegeben, hatte der Beklagte gemäß § 4 Abs. 2 BSHG über Form und Maß der Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Den diesbezüglichen Anforderungen genügt der
angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nicht (§
114 VwGO). Ausweislich der in dem Widerspruchsbescheid enthaltenen Ausführungen hat die Widerspruchsbehörde bei der Ermittlung des
zu gewährenden Umfangs an Sozialhilfe den vom überörtlichen Träger der Sozialhilfe vorgegebenen Personalschlüssel von 1 :
12 (eine Vollzeitkraft für zwölf in einer betreuten Wohnform untergebrachte Hilfeempfänger) angewandt. Die diesbezüglichen
Ausführungen erfüllen bereits nicht die formellen Anforderungen an die Begründung von Ermessensentscheidungen (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X), weil nicht dargelegt worden ist, wie der Schlüssel von 1 : 12 ermittelt worden ist. Das VG hat darüber hinaus bereits zu
Recht darauf hingewiesen, daß die Ermessensentscheidung des Beklagten insoweit nicht dem Zweck der Ermächtigung entspricht,
als sie auf der Grundlage eines abstrakten Personalschlüssels ergangen ist und deshalb die Besonderheiten des vorliegenden
Einzelfalls nicht berücksichtigt (§ 3 Abs. 1 und 2 BSHG).
Bei der Neubescheidung des Klägers wird der Beklagte von dem Bedarf auszugehen haben, den der Sachverständige festgestellt
hat. Danach bestand im entscheidungserheblichen Zeitraum - von Krisensituationen abgesehen - ein Betreuungsbedarf zwischen
1,0 und 1,75 Stunden pro Tag. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit des von dem Gutachter gefundenen Ergebnisses.
Die Ausführungen erscheinen in sich schlüssig und die zugrundeliegenden Ansätze liegen erkennbar innerhalb der Bandbreite
der insoweit vertretenen Ansichten. Das Gutachten, dessen Ergebnisse im übrigen im wesentlichen mit den amtsärztlich abgegebenen
Stellungnahmen übereinstimmen, trägt auch dem Umstand Rechnung, daß bei einer Gruppenbetreuung die individuelle Zurechnung
der Hilfegewährung nur annäherungsweise feststellbar ist.
Unter Zugrundelegung des individuellen Bedarfs des Klägers von 1,0 bis 1,75 Stunden täglich und der von dem Gutachter dargelegten
Annahme, der Kläger gehöre zu einer Zielgruppe, bei der der Betreuungsschlüssel günstiger als 1 : 6 einzustufen sei, ist das
mit der Klage im Berufungsrechtszug noch verfolgte Kostenübernahmebegehren gerechtfertigt. Der Senat geht davon aus, daß in
dem entscheidungserheblichen Zeitraum jedenfalls ein Sozialarbeiter bzw. eine Sozialarbeiterin zur Betreuung der aus fünf
Personen bestehenden Wohngruppe erforderlich war. Für einen Teil des entscheidungserheblichen Zeitraums ist dieser Bedarf
nach den glaubhaften Angaben der Vertreter des Betreuungsvereins von der Sozialarbeiterin T gedeckt worden. Die nicht von
der Arbeitsverwaltung übernommenen Personalkosten sind daher anteilig auf den Kläger umzulegen. Auf die Deckung seines Betreuungsbedarfs
durch die ebenfalls für den Betreuungsverein tätige Sozialarbeiterin B kann der Kläger nicht verwiesen werden. Die Sozialarbeiterin
T war nach den auch insoweit glaubhaften Angaben der Vertreter des Betreuungsvereins ausschließlich für die betreute Wohngruppe
tätig und hat dadurch zur Befriedigung des Betreuungsbedarfs des Klägers beigetragen. ...
Die Sache ist nicht spruchreif iSv §
113 Abs.
5 Satz 1
VwGO, weil auch unter Zugrundelegung der soeben dargelegten Ansätze noch Raum für eine Ermessensbetätigung durch den Beklagten
verbleibt. Er wird im Ermessenswege darüber zu befinden haben, ob er - dem sozialhilferechtlichen Individualisierungsgrundsatz
folgend - die entstandenen Personalkosten tatsächlich exakt auf der Grundlage des durch den Gutachter festgestellten Betreuungsbedarfs
des Klägers verteilt - dieser Ansatz liegt der in der mündlichen Verhandlung überreichten Aufstellung zugrunde - oder ob er
im Interesse der Verwaltungspraktikabilität in Anbetracht der geringen Abweichungen des individuellen Betreuungsbedarfs der
Mitglieder der Wohngruppe von einer Fünftelung der Kosten ausgeht. Auch der zuletzt genannte Ansatz wäre nach Auffassung des
Senats ermessensgerecht.