Sozialhilferecht: Anspruch eines Gehörlosen auf ein Schreibtelefon
Tatbestand:
Die Klägerin erstrebt die Verpflichtung des Beklagten als überörtlichen Trägers der Sozialhilfe, im Rahmen der Sozialhilfe
die Kosten für ein Schreibtelefon für sie zu übernehmen.
Zunächst hatte die Klägerin, die unter Schwerhörigkeit, die an Taubheit grenzt, leidet, bei ihrer Krankenkasse beantragt,
die Kosten für ein Schreibtelefon zu übernehmen. Nachdem die Krankenkasse diesen Antrag abgelehnt hatte, hatte sie einen entsprechenden
Antrag vom 31. Mai 1983 an den Beklagten gerichtet. Die geschiedene Klägerin, die im Jahr 1942 geboren ist, verfügte damals
über ein monatliches Nettoeinkommen von 1.564,48 DM. Ihr Sohn, der im Jahr 1962 geboren ist und damals in ihrem Haushalt lebte,
hatte ein monatliches Nettoeinkommen von 674,24 DM.
Den Antrag der Klägerin lehnte der Beklagte mit einem Bescheid vom 22. November 1983 nach einem Hausbesuch eines Mitarbeiters
ab. Zur Begründung wurde ausgeführt: Ein Behinderter habe im Rahmen der Sozialhilfe nur dann einen Anspruch auf ein Schreibtelefon,
wenn er auf ein solches angewiesen sei. Bei der Klägerin sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Bei ihr bestehe neben der
an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit keine weitere Behinderung, durch die sie auf eine kurzfristige Übermittlung von Mitteilungen
und die unmittelbare Antwort der Hilfspersonen angewiesen sei. Ferner könne, falls eine schnelle Verbindung und Übermittlung
einer Nachricht erforderlich werde, dies von ihrem Sohn, der in dem Haushalt wohne, erledigt werden. Die Verständigung mit
entfernten Personen sei der Klägerin auf brieflichem oder sonstigem schriftlichen Wege zuzumuten.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 16. Dezember 1983 Widerspruch ein, den der Beklagte mit einem Widerspruchsbescheid
vom 27. April 1984 zurückwies. Darin hieß es unter anderem, die Klägerin könne durchaus Kontakt mit ihren direkten Nachbarn
herstellen und sei daher nicht hilflos.
Dieser Widerspruchsbescheid wurde zunächst als einfacher Brief und sodann am 05. Juni 1984 als Einschreiben an den Bevollmächtigten
der Klägerin gesandt.
Am 12. Juni 1984 hat die Klägerin bei dem Verwaltungsgericht Darmstadt Klage erhoben. Sie hat vorgetragen: Den ersten Brief
mit dem Widerspruchsbescheid habe ihr Bevollmächtigter am 14. Mai 1984 erhalten. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei sie
auf das Schreibtelefon angewiesen. Sie benötige es zur Kommunikation mit anderen Gehörlosen. Es sei ein großer Unterschied
zwischen dem brieflichen und dem telefonischen Kontakt. In einer Notsituation stehe jeder Gehörlose dem Geschehen hilflos
gegenüber. Sie könne nicht darauf verwiesen werden, daß ihr Sohn in ihrem Haushalt lebe und andere Personen für sie verständigen
könne. Ihr Sohn sei erwachsen und nicht immer zu Hause. Der Landesverband der Gehörlosen habe ihr zwar ein Schreibtelefon
geliehen, jedoch nur für die Zeit bis zur Bewilligung eines solchen Geräts durch den Beklagten.
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 22. November 1983 und den Widerspruchsbescheid vom 27. April 1984 aufzuheben und
den Beklagten zu verpflichten, im Rahmen der Sozialhilfe die Kosten für ein Schreibtelefon für sie zu übernehmen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen: Die Klägerin stehe in ihrem häuslichen Bereich nicht so allein, daß sie als hochgradig Schwerhörige zur
Aufrechterhaltung des lebensnotwendigen Kontakts mit ihrer Umwelt und zur Vorbeugung gegen Vereinsamung und Isolierung unbedingt
auf ein Schreibtelefon angewiesen wäre.
Nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hatten, hat das Verwaltungsgericht
mit einem Urteil vom 30. Januar 1987, das ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat
das Gericht ausgeführt: Die Klage sei zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin habe zwar wegen ihres Gehörschadens grundsätzlich
Anspruch auf Eingliederungshilfe für Behinderte nach den §§ 39 ff. des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Eine Maßnahme der Eingliederungshilfe sei auch die Versorgung mit Hilfsmitteln, zu denen auch ein Schreibtelefon gehören
könne. Doch seien nur solche Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, auf die der Behinderte wegen der Art und Schwere seiner
Behinderung angewiesen sei. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge sei diese Voraussetzung bei der Klägerin nicht erfüllt. Dabei
sei ausschlaggebend, daß die Klägerin berufstätig sei und jedenfalls von daher nicht von ihrer Umwelt isoliert erscheine,
daß sie außer ihrem Gehörleiden nicht mit einer weiteren Krankheit oder Behinderung belastet sei, die es etwa erforderlich
machen könnte, plötzlich schnellstens Hilfe herbeizurufen, und daß sie schließlich in Haushaltsgemeinschaft mit ihrem Sohn
lebe, wenn dieser für sie auch nicht ständig erreichbar sein möge. In Anbetracht dessen sei es auch nicht zu beanstanden,
wenn der Beklagte darauf hinweise, daß die Klägerin im übrigen mit ihrer Umwelt brieflich in Kontakt treten könne.
Gegen dieses Urteil, das ihrem Bevollmächtigten am 10. April 1987 zugestellt wurde, hat die Klägerin am 23. April 1987 Berufung
eingelegt.
Sie macht unter anderem geltend: Ein Schreibtelefon sei unbedingt erforderlich, um die Isolation, in der sie als Gehörlose
lebe, zu überwinden. Eine Person, die hören könne, sei nicht in der Lage, die Bedeutung zu ermessen, die ein Schreibtelefon
für einen Gehörlosen habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 30. Januar 1987 - VI/1 E 1176/84 -, den Bescheid des Beklagten vom 22. November
1983 und den Widerspruchsbescheid vom 27. April 1984 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, im Rahmen der Sozialhilfe
die Kosten für ein Schreibtelefon für sie zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er meint, das Verwaltungsgericht habe die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, das angefochtene
Urteil und den Inhalt der beigezogenen Behördenakte des Beklagten, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden
ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, da auch die Klage zulässig und begründet ist.
Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen keine Bedenken. Die Klagefrist ist gewahrt; auch besteht für die Klage ein Rechtsschutzbedürfnis.
- Der Senat ist davon überzeugt, daß der Widerspruchsbescheid dem Bevollmächtigten der Klägerin zunächst als einfacher Brief
übersandt wurde. Dafür spricht eindeutig, daß in der Durchschrift des Widerspruchsbescheids in der Behördenakte (Blätter 24
und 25) keine besondere Versendungsform angegeben ist. Wenn der Widerspruchsbescheid aber als einfacher Brief übersandt worden
ist, so kommt es auf den Zugang des Schriftstücks selbst und nicht des Benachrichtigungszettels bei dem Adressaten an. Nach
den glaubhaften Angaben des Bevollmächtigten der Klägerin ist ihm der Widerspruchsbescheid erst am 14. Mai 1984 zugegangen.
Da die Klageschrift am 12. Juni 1986 bei dem zuständigen Verwaltungsgericht eingegangen ist, ist die Klagefrist eingehalten.
Der Umstand, daß die Klägerin vom dem Landesverband der Gehörlosen leihweise ein Schreibtelefon erhalten hat, führt nicht
dazu, daß für die Klage das Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen ist. Denn der Landesverband hat der Klägerin das Gerät nur
für den Zeitraum bis zur Bewilligung eines Schreibtelefons durch den Beklagten geliehen.
Die Begründetheit der Klage ist - wie regelmäßig bei Leistungen der Sozialhilfe - nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt
des Erlasses des Widerspruchsbescheids zu beurteilen (vgl. Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 05. März 1981 - 8 A 263/80 - FEVS 31, 61, 62 in einem Verfahren, das ebenfalls ein Schreibtelefon betraf). Maßgebend sind damit die Verhältnisse der
Klägerin im April 1984 und die damals geltenden Fassungen des Bundessozialhilfegesetzes und der dazu ergangenen Verordnungen.
Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) galt damals in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Mai 1983 (BGBl. I S. 613) mit der Änderung durch Artikel 26 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1532).
Ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch gegenüber dem Beklagten als dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe zusteht,
ist nach § 100 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit den §§ 81 Abs. 1 Nr. 3, 39 Abs. 1 Satz 1, 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG, mit § 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 und § 9 der Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (Eingliederungshilfe-Verordnung) in der Fassung der Bekanntmachung vom 01. Februar 1975 (BGBl. I S. 433) und mit § 1 der Verordnung zur Durchführung des § 81 Abs. 1 Nr. 3 des Bundessozialhilfegesetzes vom 12. Mai 1975 (BGBl.
I. S. 1109) zu beurteilen.
Für die Klägerin, die unter Schwerhörigkeit leidet, die an Taubheit grenzt, ist das Schreibtelefon ein "größeres, anderes
Hilfsmittel" im Sinne der §§ 100 Abs. 1 Nr. 2, 81 Abs. 1 Nr. 3 und 40 Abs. 1 Nr. 2 BSHG. Ein Anspruch auf die Bereitstellung eines solchen Schreibtelefons im Rahmen der Sozialhilfe besteht aber nach § 9 Abs. 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung nur dann, wenn das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich ist, um zum Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel
beizutragen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist im Zusammenhang mit den Aufgaben der Eingliederungshilfe zu sehen, wie sie in §
39 Abs. 3 BSHG umschrieben sind. In Betracht kommen hier insbesondere die Aufgaben, die Folgen der Behinderung zu mildern und dem Behinderten
die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, welchem Zweck
das Hilfsmittel dient.
Das Schreibtelefon hat den gleichen Zweck wie ein normales Telefon, nämlich die sofortige Kommunikation mit anderen Personen
an einem anderen Telefonanschluß zu ermöglichen. Ein bedeutsamer Unterschied besteht allerdings darin, daß man mit einem Schreibtelefon
nur mit einem Partner an einem anderen Schreibtelefon kommunizieren kann und daß die Zahl der Besitzer von Schreibtelefonen
ungleich geringer ist als die Zahl der "normalen" Telefonanschlüsse.
Gerade der Zweck, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern, gebietet es, ein Schreibtelefon
für einen Tauben oder nahezu Tauben eher sozialhilferechtlich für erforderlich zu halten, als einen normalen Telefonanschluß
für einen Nichtbehinderten. Dabei ist entscheidend, daß ein nicht Hörbehinderter die öffentlichen Fernsprechstellen benutzen
kann, während ein Tauber für die schnelle, selbständige Kommunikation auf das Schreibtelefon oder ein Bildschirmtelefon angewiesen
ist. Diese schnelle, selbständige Kommunikation ist aber ein entscheidendes Merkmal der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft
(in diesem Sinne auch OVG Saarlouis, Urteil vom 08. Mai 1980 - 1 R 157/79 - FEVS 29, 66 ff.).
Die Klägerin hat überzeugend darauf hingewiesen, daß die starke Schwerhörigkeit, die an Taubheit grenzt, bei ihr trotz ihrer
Berufstätigkeit zu einer Isolation geführt hat und daß es ihr darum gehe, diese Isolation durch die selbständige, schnelle
Kommunikation mit anderen Hörgeschädigten oder Gehörlosen zu überwinden.
Da die selbständige und schnelle Kommunikation ein entscheidendes Merkmal der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ist,
kann die Erforderlichkeit des Schreibtelefons nicht mit der Begründung verneint werden, in dem hier maßgebenden Zeitpunkt
habe der erwachsene Sohn der Klägerin in ihrem Haushalt gelebt, der für sie mit einem normalen Telefon habe Nachrichten übermitteln
und empfangen können, und die Klägerin habe die Möglichkeit des brieflichen Kontakts. Vielmehr ist die Erforderlichkeit eines
Schreibtelefons für die Klägerin zu bejahen.
Der Erforderlichkeit des Schreibtelefons steht entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht entgegen, daß die Klägerin berufstätig
ist und das Schreibtelefon nur außerhalb ihrer Arbeitsstunden nutzen will. Denn zum Leben in der Gemeinschaft gehört auch
der private Kontakt mit anderen Personen außerhalb der Arbeitszeit.
Soweit in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung zur Versorgung mit Schreibtelefonen im Rahmen der Krankenversicherung strengere
Anforderungen für die Notwendigkeit dieser Versorgung nach § 182b in Verbindung mit § 182 Abs. 2
RVO genannt werden (Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Mai 1984 - 8 RK 45/83 - FEVS 34, 435) ist dies hier unbeachtlich, da diese Rechtsprechung andere Vorschriften betrifft.
Die Erwägungen zur Erforderlichkeit des Schreibtelefons ergeben zugleich, daß hier auch der Tatbestand des § 9 Abs. 2 Nr. 12 der Eingliederungshilfe-Verordnung erfüllt ist.
Die Klägerin erfüllt auch die einkommensmäßigen Voraussetzungen für die sozialhilferechtliche Versorgung mit einem Schreibtelefon
nach § 81 Abs.1 Nr. 3 und § 79 BSHG. Denn ihr Einkommen liegt unter der Summe aus dem Betrag nach § 81 Abs. 1 und den Kosten der Unterkunft nach § 79 Abs. 1 Nr. 2 BSHG.
Der Beklagte ist deshalb verpflichtet, die Kosten für ein Schreibtelefon für die Klägerin zu übernehmen.
Diesem Anspruch steht nicht entgegen, daß die Klägerin bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids von dem Landesverband
der Gehörlosen ein Schreibtelefon leihweise erhalten hatte; denn das Leihverhältnis sollte mit der Bewilligung eines Schreibtelefons
durch den Beklagten enden.